Vergleichstest Honda Africa Twin gegen Honda Varadero
Sinneswandel

Mit der Varadero hatten Hondas Ingenieure sicher anderes im Sinn, als die Africa Twin zu beerben. Aber was?

Sinneswandel
Foto: Künstle

Es ging ein Aufschrei durch die Menge. Ein Aufschrei der Enttäuschung, der Verachtung und des Spotts. Nein, mit dieser Varadero hatte niemand gerechnet. Man hatte ein Motorrad erwartet, das als Nachfolgerin der XRV 750 Africa Twin sowohl deren Qualitäten als auch deren Ausstrahlung ins nächste Jahrtausend hinüberretten würde. Und dann das. Doch gemach, im ersten Moment sieht’s meist schlimmer aus, als es ist. Und schließlich verstanden Hondas Marktstrategen es geschickt, die Varadero durch die Plazierung im Tourersegment erst einmal aus der Schußlinie der Africa Twin-Fans zu rücken. Nix Enduro, demnach auch keine Nachfolgerin der Twin.

Aber eine Alternative. Die anfänglichen Vorurteile scheinen sich mittlerweile jedenfalls verflüchtigt zu haben. Immerhin gehört die Varadero mit 1658 zugelassenen Einheiten (Januar bis April) zu den zehn bestverkauften Modellen auf dem deutschen Markt und ist hinter der CBR 600 F Topseller bei Honda. Kein Wunder, schließlich bewies sie mit zwei Vergleichstest-Siegen (MOTORRAD 1/1999 und 6/1999), daß sie die direkte Konkurrenz von BMW und Triumph nicht fürchten muß. Doch wie sieht es mit der Konkurrenz aus dem eigenen Hause aus?

Der größte Unterschied wird freilich bereits nach wenigen Kilometern deutlich. In puncto Motor muß sich die Africa Twin ganz klar geschlagen geben: viel weniger Leistung, zu temperamentlos, zu viele Vibrationen. Der zwar bereits wassergekühlte, aber mit elf Jahren dennoch betagte Dreiventiler schöpft aus senen 750 cm³ gemessene 64 PS und kann so gegenüber dem Vierventiler mit einem Liter Hubraum und 96 PS nur wie ein Gänseblümchen im Rosenbeet verblassen. Um den Anschluß an die Varadero nicht zu verlieren, muß pausenlos im Fünfganggetriebe gerührt werden.

Dabei kann die Varadero ganz entspannt unterwegs sein. Streßfreies Dahingleiten im fünften Gang reicht schon aus, den Africa Twin-Piloten in Atem zu halten. Denn während dem 1000er 90-Grad-Twin der Varadero selbst bei voller Besatzung ein kurzes Kommando der Gashand reicht, einen Überholvorgang schnell und souverän auszuführen, müssen bei der Africa Twin für ein solches Manöver alle Hebel in Bewegung gesetzt werden.

Beim Dahingleiten sammelt die Varadero fleißig weitere Pluspunkte. Zum Beispiel in Sachen Komfort. Entspannt die Sitzposition, breit und weich gepolstert die Sitzbank und hoch das Windschild. Wobei letzteres auch seine Tücken birgt. Kleinere Menschen - so um die 165 Zentimeter - haben bei der Varadero zwar keine Probleme, festen Boden unter die Füsse zu bekommen, doch mangelt es ihnen am Durchblick. Die hohe Scheibe verzerrt vor allem bei Regenwetter die Wirklichkeit, und der dicke Abschlußwulst läßt in ungünstigen Momenten gar ganze Lastwagen verschwinden. Damit haben Großgewachsene keine Probleme, ärgern sich aber über nervige Verwirbelungen im Helmbereich. Hauptsächlich auf der Autobahn bei einem Reisetempo um die 150 km/h sind sie richtig froh, wenn sie auf die Africa Twin umsteigen können. Der Fahrtwind trifft zwar nahezu ungehindert, aber streicht gleichmäßig um den Helm. Apropos Autobahnfahrt: Mit einem Verbrauch von 9,5 Litern bei Tempo 160 macht sich die Varadero keine Freunde.

Verlorene Sympathien versucht Hondas neue Reise-Enduro auf der Landstraße wieder zurückzugewinnen. Dabei setzt sie vor allem auf ihre Tugenden in Sachen Komfort. Wie eine Sänfte gleitet das Dickschiff selbst über größere Frostaufbrüche und sonstige Unzulänglichkeiten des Straßenbelags. Das angenehme Schaukeln auf langen Wellen wirkt eher beruhigend denn störend, das Wegtauchen der Gabel beim Bremsen gleicht eher einer vornehmen Verbeugung denn einem unterwürfigen Bückling. In Wechselkurven wird der hohe Schwerpunkt deutlich. Das dicke Tankfaß muß durch deutlichen Krafteinsatz über den breiten Lenker von einer Seite zur anderen bewegt werden. Doch dieses aktive Schwenken wirkt nicht plump, sondern eher majestätisch. Stören kann dagegen das recht frühe Aufsetzen der Fußrasten. Sportliche Fahrer sollten auch im Solobetrieb das Heck mittels der per praktischem Handrad verstellbaren Federbasis maximal anheben. Die Varadero sackt dann hinten nicht so stark weg, was zum einen die Fahrstabilität verbessert und zum anderen die Bodenfreiheit erhöht.

Ganz anders die Africa Twin. Nach dem sanften Ritt auf der Varadero glaubt man, auf einer echten Hard-Enduro zu sitzen. Extrem schmal und hart die Sitzbank, ein im Schenkelbereich viel schmalerer Tank, ein flacher Lenker und eine weiter nach vorn geneigte Sitzposition - das taugt auch für Geländeetappen. Dazu ein Fahrwerk, das durch straffe Federn und dazu passende Dämpfung sehr steif und direkt wirkt. Wieselflink und viel präziser als die Varadero wischt die Twin um die Ecken, schnelle Schräglagenwechsel gehen spielerischer von der Hand. Wie an der Schnur gezogen folgt die XRV 750 exakt der vorgegebenen Linie. Diese erfrischende Fahrdynamik ist nicht zuletzt dem schmalen, aber großen 21-Zoll-Vorderrad zu verdanken.

Ins Hintertreffen gerät die Africa Twin dagegen, wenn es ums Bremsen geht. Nicht daß die Doppelscheiben-Anlage besonders schlapp und unterdimensioniert wären. Aber dem Vergleich mit der Kombibremse der Varadero, bei der sowohl der Fuß- als auch der Handbremshebel gleichzeitig auf Vorder- und Hinterrad wirkt, hält sie nicht stand. Daß die Varadero-Anlage nicht ganz die Wirkung und Dosierbarkeit wie bei modernen Tourensportler vom Schlage einer VFR oder Triumph Sprint ST erreicht, liegt weniger an den verwendeten Bauteilen als vielmehr an der weichen Fahrwerksabstimmung und dem daraus resultierenden schwammigeren Gefühl beim Bremsen. Auch wenn diese Kombibremse ein klein wenig Gewöhnung bedarf, nach kurzer Zeit wird man sie mögen.

Wer jetzt einwendet: “Ja aber im Gelände... “, hat natürlich recht. Für die Varadero hört der Begriff Gelände da auf, wo er für die Africa Twin erst richtig losgeht. Allerdings werden die meisten XRV 750 kaum jemals schwereres Gelände bezwungen haben als einen Feldweg oder eine geschotterte Paßstraße. Und für solche Aufgaben ist eine Varadero trotz 19-Zoll-Rad, schlaffer Federung und Kombibremse noch ausreichend gerüstet. Wer jedoch häufiger auf unwegsamen Pfaden wandeln will, sollte von der Varadero lieber Abstand nehmen. Ihre 256 Kilogramm wiegen aufgrund des hohen Schwerpunkts, des dicken Tankfaßes und der zwar bequemen, aber unflexiblen Sitzposition doppelt. Die Twin ist mit 236 Kilogramm zwar ebenfalls kein Fliegengewicht, läßt aber ohne großes Murren gemäßigte Drifteinlagen und kleine Sprüngen zu.

Stauraum für Gepäck bieten dagegen beide in Form einer stabilen Gepäckbrücke. Großvolumigen Koffern sind leider die Auspufftöpfe im Weg. Beiden gemeinsam ist auch der lästige Tankverschluß. Kein aufklappbarer, sondern ein loser Deckel, weshalb sich bei jedem Tanken die Frage stellt: “Wohin damit?“ Ebenfalls unpraktisch: Hauptständer fehlen. Das würde nicht nur das Kette schmieren verreinfachen, sondern auch sicheren Stand gewährleisten. Vor allem die Varadero steht unter voller Beladung auf sehr wackeligem Fuß, sprich Seitenständer. Ansonsten glänzen beide Reiseunternehmer durch Honda-typische Perfektion der Bedienelemente, verstellbare Handhebel und reichlich ausgestattete Cockpits.

Doch ansonsten kommt trotz ihrer äußeren Ähnlichkeit beim Fahren selten der Gedanke auf, es handle sich hier um Blutsverwandte. Zu unterschiedlich sind die Vorlieben und Interessen, zu verschieden die Charaktere der beiden Maschinen. Und das ist es wohl auch, was man in Japan im Sinn hatte: Der Africa Twin ein Reisemotorrad zur Seite zu stellen, bei dem Komfort wichtiger ist als Sportlichkeit. Angetrieben von einem Motor, der sich unter Tourern selbst vor großvolumigen Vierzylindern nicht verstecken muß. Gut für alle Fernreisenden, schlecht für alle Africa Twin-Fans, die sich etwas mehr Power für die Enduro wünschten.

Unsere Highlights

Elf Jahre Africa Twin

Mit der 650er Africa Twin legte Honda 1988 einen Meilenstein. Zwei Jahre später trat die weiterentwickelte RD 04 die Nachfolge an. Mehr Hubraum, eine Doppelbremse vorn, verstärkter Rahmen sowie ein Ölkühler katapultierten die Twin in die obere Liga der Reiseenduros. 1993 spendierten die Techniker der Weiterentwicklung RD07 eine komplett neue Rahmenkonstruktion und reduzierten das Kampfgewicht von 237 kg auf 232 kg vollgetankt. Hinzu gesellten sich ein neues Plastikkleid, Flachschieber-Vergaser, vergrößerter und besser positionierter Luftfilter. In der Summe ihrer Eigenschaften blieb die Twin über 10 Jahre lang trotz schlapper Motorleistung Testsieger in fast allen Vergleichstests und errang Kultstatus.

Pro Varadero

Meine Twin ist einfach gut, soviel steht fest. Etwas Leistung fehlt ihr, ansonsten sind es nur Kleinigkeiten, die mich stören. Die Varadero ist zwar dick und durstig und sieht aus wie ein Burgman auf Stelzen, doch sie hat ordentlich Dampf in allen Lagen. Für meinen Leistungsanspruch der ideale Antrieb. Und erst die Bremsen – toll. Und da nicht zu den eisenharten Enduristen gehöre, die die 230 Kilogramm der RD 07 quer durch die Pampas wuchten, sondern sie als Tourer benutze, der auch mal eine Etappe über leichtes Gelände verträgt, paßt die Varadero für mich bestens. Man kann auf beiden Kisten in schwindelnder Höhe die Landschaft erkunden – mit der Varadero geht«s aber eben noch ein Quentchen besser. Beispielsweise durch ihre viel bequemere Sitzbank oder den besseren Knieschluß.

Kontra Varadero

Wir haben sie geliebt. Wir, die Gemeinschaft, der knapp 20000 Twin-Fahrer. Die RD03, den Schrecken aller Ténéristi, und die RD04, König aller Affen-Twins. Daß der Nachfolger RD07 ein bißchen puffiger wurde - okay. Warum sollen Warmduscher nicht auch mal ein geiles Motorrad fahren? Doch es gab einen Kollektivwunsch an unsere Schöpfer in Japan: Mehr Leistung! Gejammert haben wir. Zehn verfluchte Jahre lang. Doch was dann auf der INTERMOT vergangenen Jahres präsentiert wurde, war zu brutal. Brutal schwer, brutal häßlich, brutal anders. Geländetauglich? Ha,ha! Fernreisetauglich? Na ja, bei genügend Tankstellen und Teer. Honda reagierte früh. Präsentierte dieses endurale Mißgeschick gleich als Tourer. Und unsere Africa Twin? Wir lieben sie noch immer. Und jammern. Nur zehn PS. Bitte!

Fazit Honda Africa Twin

2. Platz Auch wenn sie immer »weichgespülter« wurde, im Vergleich zur Varadero ist sie der Begleiter für die harten Jungs. Straffes Fahrwerk, harte Sitzbank und heftige Vibrationen fordern auf längeren Strecken ihren Tribut. Dafür gefällt das präzise Handling und die erstaunliche Geländegängigkeit. Was fehlt, ist ein kräftiger Motor.

Fazit Honda Varadero

Auch wenn dieser Brocken von Motorrad mit Enduro soviel zu tun hat wie ein Gewichtheber mit Ballett, als Reisemaschine hat die Varadero ihre Qualitäten. Bequem, durchzugsstark und wenn es sein muß auch pfeilschnell. Während die Verwirbelungen der Verkleidungsscheibe auf Dauer nur nerven, ist der ultrahohe Verbrauch eine echte Schande.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023