Reportage Sunday Ride Classic

Reportage Sunday Ride Classic Frech, frei, französisch!

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Esprit, Passion und Flair kennzeichnen die vermutlich bunteste Veranstaltung für klassische Motorräder in Europa. Beim Sunday Ride Classic auf und neben der Rennstrecke Paul Ricard treffen sich Motorradbegeisterung, ver­wegene Umbauten und viel Gespür für ­Ästhetik.

Frech, frei, französisch! Thomas Schmieder
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Motorradfahrer sehnen sich alljährlich nach Frühling, klar. Doch hier in der Provence, im tiefen Süden Frankreichs, fühlt sich die ersehnte Wärme noch besser an: Das Blau des Himmels ist kräftiger, die Nadeln der Pinien sind grüner, die Sonne scheint strahlender. Charakteristisch blau-weiß-rote Curbs und das piekfeine Fahrerlager der Rennstrecke Paul Ricard geben den Rahmen für den Sunday Ride Classic vor. Trotz seines Namens ist das nicht bloß ein Sonntag, sondern ein ganzes langes Wochenende, ähnlich den bestens bewährten belgischen Bikers‘ Classics. Nur eben französisch: frecher, fröhlicher, frivoler.

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Voilà, hier das Grundrezept: Man nehme eine der schönsten Rennstrecken des Planeten, besagten Kurs bei Le Castellet, füge eine Prise ehemaliger GP-Stars bis hin zu Multi-Weltmeistern hinzu, schmecke mit deren einstigen Maschinen oder Replikas ab und lasse alles zusammen mit über 300 Teilnehmern beim freien Fahren in diversen (Renn-)Klassen für Klassiker mehrere Tage auf hoher Flamme köcheln. Alles heiß serviert für rund 15.000 begeisterte, aber völlig entspannte Besucher. Bon appétit! Für das Salz in der Suppe sorgen zudem viele Motorräder auf dem Besucher-Parkplatz und im Fahrerlager.

Très chic, sportiv und komplett verrückt

Die Fahrer kommen zumeist aus dem Süden Frankreichs, aber auch aus der Bretagne, Spanien, Belgien, der Schweiz und Deutschland. Sie bringen alles mit, was röhrt und röchelt, stampft und bebt, grollt und rollt: Kawasaki Z1, Ducati 851 und 906 Paso, BMW R 90/6 „Walter Zeller Replika“ als rollenden Tribut, Honda CB 750 Four in allen Umbau- und Erhaltungsstufen bis zu Replikas der CR 750-Daytona-Maschine, und und und. Noch jung, doch auf dem Weg zum Klassiker: Benelli Tornado tre, Honda VTR 1000 SP oder Voxan Scrambler. Überall stehen spannende Maschinen, parken Unikate auf Rädern. Ständig stolpert man über Spektakuläres aus den letzten 30, 40, 50 Jahren.

Hier wird kurzes Schlendern zur tiefen Reise in die Motorradgeschichte. Franzosen haben ein Gespür für Formen, für gehobene Ästhetik. Kurz gesagt: guten Geschmack! Davon künden haufenweise rare Typen und verwegene Umbauten, vor allem Café Racer. Motorräder hier sind léger, très chic, sportiv oder komplett verrückt. Motto: radikal kreativ ohne TÜV. Locker geben sich die Fahrer und Fahrerinnen, die Atmosphäre ist extrem gelöst. Eben röhrt ein bildschöner Benelli-Sechszylinder vorbei, knallgelb lackiert, mit knapp geschnittener Halbschale. Er schmeichelt Seele, Auge und Ohr: Herzerweichend brüllt der Sixpack aus zweimal drei offenen Töpfen. Liberté toujours.

Passend pustet ein Suzuki-Renner in Gauloises-Lackierung blaue Wölkchen in den Himmel – aus Zweitaktöl, nicht aus Tabak. Eine Yamaha XS 1100 in Martini-Racing-Lackierung, eine von nur 500 gebauten, wirkt neben einem Pocket Bike, als habe der mächtige Tourer mit der Langnasen-Verkleidung gerade gekalbt. Über den Besucher-Parkplatz brettert ein Bultaco-Dirt Tracker. Sein Fahrer, typisch in Jeans und Jet-Helm gekleidet, hält das Vorderrad des Singles hoch erhoben. Echt lässig. Die coolen Comics vom „Joe Bar Team“ lassen grüßen. Franzosen sind einfach extrem Motorrad-verrückt, und das ist auch gut so: Sie faszinieren, provozieren, polarisieren – und locken damit natürlich auch nicht minder sehenswerte Besucherinnen in die südlichen Gefilde.

CB 450 als silbern glänzender Sportumbau

Ehrensache sind klassische französische Scheinwerfer mit gelbem Reflektor sowie historische gallische Nummernschilder: silberne Schrift auf schwarzem Grund. Wie etwa an der Yamelli: der Motor einer Yamaha RD 250 im leichteren, sportlicheren Benelli-Rahmen. Heimspiel und Hochkonjunktur haben zeitgenössische Superbikes mit französischen Martin- oder niederländischen Nico Bakker-Rahmen. Sie sind eine Reminiszenz an die 70er, an die Zeit, als es galt, starken japanischen Motoren ebensolche Fahrwerke zu verpassen. In die gleiche Kerbe haut auch die Bimota KB 1. Und zur MV Agusta-Sondershow kam 2015 sogar eine 750 S mit typisch blau-weiß-rotem Tank.

BSA, Matchless, Norton, Triumph und Rickman-Metisse lassen die Roaring Sixties, „Made in England“, noch mal aufleben. Und dann die Honda-Festspiele: Eine CB 450 „Black Bomber“ fährt als silbern glänzender Sportumbau vor, gefolgt von einer FT 500 in hübsch (na ja, nur fast). Dazu Armadas von Reihenvierzylindern und VF(R)-Modellen aller Couleur ab 1983 und 400 Kubikzentimetern Hubraum. Dazu CR-Racer, CB 1100 R im Dutzend und reihenweise RC 30 sowie heiße CBX. Auch einige Kawasaki Z 1300 sind nicht zu übersehen. Mehr Vielfalt geht nicht: Zwei- und Viertakter, Ein-, Zwei-, Drei-, Vier-, Fünf- (!) und Sechszylinder!

Famose "Jean-Luc Spezial" JLSP 305

Die verrückten Konstruktionen des Monsieur Borgetto kennen Sie bereits aus der Classic-Ausgabe 8/2014: Der Gipfel seiner frech-verwegenen Eigenbau-Konstruktionen ist ein 312 cm³ kleiner Fünfzylinder, die „Jean-Luc Spezial“ JLSP 305. Sie ist eine famose, klassisch inspirierte Rennmaschine im Stil der 125er-Honda RC 149, auf der Luigi Taveri 1966 die Weltmeisterschaft holte. Jean-Luc Borgetto ergänzte dafür den Motor einer Honda CBR 250 RR von 1990 um einen fünften Zylinder! Seine Dreizylinder-JLSP 503 mit teil­amputiertem R6-Motor hat er als Hommage an Giacomo Agostinis erfolgreichen GP-Renner von MV Agusta gebaut.

Heute hat Jean-Luc seine Maschinen nur huckepack auf dem Hänger, fährt nicht selbst. Er schaut kurz vorbei, dann muss er zur Familie – 2015 stieg die Veranstaltung just am Oster-Wochenende. „Die Motorräder, die ich baue, entsprechen dem Geist der Grand Prix-Motorräder der 60er- und 70er-Jahre, denn sie sind die Jahre meiner Jugend“, sagt der schlaksig-schlanke Jean-Luc. Nun, seine Idole von einst sind hier und heute live in Aktion zu sehen. Bei der Autogrammstunde in der zentralen Eingangshalle der Rennstrecke ist die Hölle los: Zehn Welt- oder Vizeweltmeister plus Ex-GP-Fahrer geben sich volksnah, zum Anfassen und Bewundern.

Freddie Spencer, der superschnelle Amerikaner, holte 1983 und 1985 drei WM-Titel für Honda. Nicht nur der immer noch smart und jugendlich wirkende US-Boy ist gut gelaunt. Lokalmatador Christian Sarron kennt die 5,81 Kilometer lange Strecke aus dem Effeff. Er parliert darüber sogar auf Deutsch. Alberto ­„Johnny“ Cecotto aus Venezuela hat es ebenso nach Le Castellet geschafft wie Steve Baker (beide auf Yamaha) und der südafrikanische Kawasaki-Pilot Kork Ballington im grün-weißen Lederdress.

Der erwischt einen guten Start

Der siebenfache GP-Weltmeister Phil Read steht als „Prince of Speed“ neben der lebenden Langstrecken-Legende Alain Genoud. Alle lassen es auf der Strecke noch mal richtig krachen. Ago „Nationale“ bekommt auf der 500er-Dreizylinder-MV einen Schiebestart. Der Einführungsrunde folgt die eigentliche Startaufstellung. Nun, das sind eher Demo-Runden als Rennen, offenbar soll man Ago nicht unbedingt überholen. Trotzdem ein starker Anblick, wenn die alten Kämpen auf TZ, RG, NSR oder KR im meterlangen Wheelie auf die Start-Ziel-Gerade einbiegen.

Rivalen der Rennbahn warten auf das Vierstundenrennen im Rahmen der European Classic Series ECS. Am Samstagabend um 19.30 Uhr geht es los: 69 Männer hechten im Le Mans-Start auf ihre historisch inspirierten bis authentisch alten Rennmaschinen los – das Reglement schreibt 18-Zoll-Räder und Zweikolbenbremsen zwingend vor. Motoren brüllen auf, der Blick wird zum Tunnel, bloß möglichst weit nach vorn, weg vom Pulk. Ich bin dabei, erwische einen guten Start und kann zu Beginn viele Plätze gutmachen. Was für ein tolles Gefühl, selbst über diese bildschöne Strecke zu brettern!

Kawasaki Z 1000 J vom Team Bike Side

Eine Schikane auf der Mistral-Geraden macht den Streckenverlauf kniffliger. Am Ende dieser legendären Geraden ist die 140 PS starke Kawasaki Z 1000 J vom Team Bike Side aus Durmersheim kurz vorm Ausdrehen, knapp 240 Sachen. Nicht schlecht für einen luftgekühlten Zweiventiler! Bald leuchtet der Himmel in allen Pastellfarben, um 20 Uhr ist es immer noch 13 Grad mild. In der Nacht wirkt alles wie einst beim sagenhaften Bol d‘Or: Auf dem Circuit Paul Ricard fand von 1978 bis 1999 und 2015 das legendäre französische 24-Stunden-Rennen statt. 
Die belgischen Ex-Endurance-Weltmeister Stéphane Mertens und Richard Hubin fahren um die Wette. Am Schluss siegt Hubin, der alte Fuchs, zusammen mit seinem Co-Piloten Grégory Fastré auf einer 1166-Kubik-Suzuki GS 1000 R (XR 69 S), der ersten Rennmaschine mit Zentralfederbein. Ins Ziel kommt auch die einzige 750er, die Ducati TT1 des deutschen Teams Capelli belli („schöne Haare“). Ohne ernsthafte Konkurrenz wurden sie nach dem Rennen im September sogar Europameister. So wie Hubin/Fastré in der stark umkämpften offenen Klasse über 1000 Kubik.

Das Motorrad-Festival dreht am Sonntag noch mal richtig auf. Mit Rennen und Demo-Läufen von Zwei- und Viertaktern, Café Racern, Tuningmaschinen, Superbikes und einstigen GP-Rennmaschinen bei Läufen zum International Classic Grand Prix ICGP. Volles Programm beim frivolen Fahren, ganz im Sinne von Jean-Pierre Bonetto, Organisator und Initiator der Veranstaltung: „Ein Team von Freunden hat den Sunday Ride Classic organisiert. Wir sind unsere eigenen Zuschauer. Und sehr beeindruckt von dem, was wir sehen.“ Sein Ziel? „Nach dem Wochenende sollte jeder Teilnehmer und Zuschauer ein Lächeln im Gesicht tragen.“ Bien sûr, Jean-Pierre. Wonne meint in Südfrankreich eben mehr als nur das Klima.

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