Die Gilera Saturno 500 ist ebenso rar wie schön. Für Thomas Schulze war es Liebe auf den ersten Blick. Seit nunmehr 23 Jahren hält er der zierlichen Italienerin die Treue.
Die Gilera Saturno 500 ist ebenso rar wie schön. Für Thomas Schulze war es Liebe auf den ersten Blick. Seit nunmehr 23 Jahren hält er der zierlichen Italienerin die Treue.
Perfekte Motorräder müssen nicht unbedingt besonders stark, wendig, zuverlässig oder funktional sein. Es reicht, wenn sie uns da treffen, wo die Vernunft keine Chance hat, nämlich direkt ins Herz. Es sind Motorräder, die mit unseren Emotionen spielen, uns nachts den Schlaf rauben und am Tag träumen lassen. Motorräder, bei denen sich selbst alte Hasen ertappen, wie sie tausend Gründe für den Weg zur Garage erfinden, weil sie sich an der Maschine nicht sattsehen können. Auch Thomas „Tom“ Schulze aus Neustadt an der Weinstraße kennt diese kribbelige Sehnsucht, seit zuhause eine Gilera Saturno 500 parkt.
Schon nach dem ersten MOTORRAD-Fahrbericht 1988 war er der schlanken Schönheit verfallen. Das verführerische Rot, die wunderschönen Formen, dieser herrliche Gitterrohrrahmen – er musste die Saturno haben. Oder besser gesagt, seine Frau Dagmar, die mit ihrer zierlichen Statur doch bestens auf die grazile Gilera Saturno 500 passen würde. Dachte, nein hoffte der passionierte Guzzi-Fahrer.
Doch Dagmar war längst nicht so begeistert wie ihr Mann – zu tief die Lenkerstummel, zu sportlich die Haltung. Zwei Jahre Überzeugungsarbeit und die positiven Erfahrungen einer befreundeten Gilera-Pilotin zerstreuten schließlich die Bedenken von Dagmar, und im Frühjahr 1990 stand die von Tom so ersehnte Gilera Saturno 500 tatsächlich vor der Tür, neu gekauft für happige 11.000 Mark. Doch beide haben diese Investition nie bereut, Dagmar kam mit der 500er sofort prima klar.
Mittlerweile stehen 31.000 problemlose Kilometer auf dem Tacho der bestens gepflegten Gilera Saturno 500, von denen gut die Hälfte auf Toms Konto gehen. „Für Tagestouren über kurvige Pfälzer Landstraßen ist das Leichtgewicht einfach perfekt, im Vergleich zu meiner Guzzi Le Mans oder der 750 S geradezu eine Erholung“, freut sich Tom immer wieder auf den Italo-Single. Dass japanische Stylisten die Hand im Spiel hatten, ändert nichts an seiner anhaltenden Bewunderung für die Gilera. Warum auch, schließlich müssen sich die Japaner ziemlich viel vom italienischen Rotwein und noch mehr von der italienischen Mentalität einverleibt haben, bevor sie sich damals ans Werk machten.
Mit ihrem schnörkellos-klassischen Stil, der mit der modernen Linie eine harmonische Einheit bildet, trafen die Designer jedenfalls nicht nur den Nerv der japanischen Biker, die Ende der 1980er-Jahre nach europäischen Motorrädern geradezu lechzten. Über 1000 Stück hat Gilera von der Saturno 500 alleine nach Nippon verkauft.
Hierzulande waren es wesentlich weniger. Mit einem Listenpreis von 11.500 Mark übertraf der 38 PS starke Einzylinder-Sportler sogar deutlich potentere Japan-Vierzylinder, was die Saturno im leistungsverwöhnten Deutschland zum Nischenprodukt für rund 240 solvente Liebhaber machte. Die jedoch dürften – wie Tom und seine Frau – ihre helle Freude am quirligen Wesen der Gilera Saturno 500 haben. Zum einen, weil die Preise für gepflegte Exemplare locker den damaligen Einstandspreis erreichen. Zum anderen wegen des durchaus fordernden Charakters, der das Fahren zu einem sehr speziellen, intensiven Erlebnis macht. Denn ganz so leicht, wie es die 167 Kilogramm erwarten lassen, macht es einem die Gilera Saturno 500 nicht, weiß Tom. „Na, dann fahr mal“, fordert er mich mit einem vielsagenden Grinsen auf.
Ein Druck aufs Knöpfchen genügt, und der Halbliter-Eintopf bollert mit sattem Schlag los, während ich versuche, meine 189 Zentimeter auf der zierlichen Gilera Saturno 500 unterzubringen. Hohe Rasten und eine moderate Sitzhöhe ergeben einen spitzen Kniewinkel, dazu ziehen die tief angebrachten Lenkerstummel den Oberkörper ganz schön über den lang gestreckten, schlanken Tank.
Nichts wie raus aus der Stadt, fürs gemächliche Cruisen taugt die Gilera Saturno 500 nämlich überhaupt nicht. Dagegen sprechen nicht nur die sportliche Sitzposition, sondern auch das im unteren Drehzahlbereich ausgesprochen ruppige Wesen des Gilera-Singles, der im Vergleich zu den hubraumstärkeren Enduro-Schwestern in der Saturno einige Änderungen über sich ergehen lassen musste. Unter 3000 Touren hackt der im unten offenen Gitterrohrrahmen mittragende, wassergekühlte dohc-Vierventiler lustlos auf die Kette ein, erst ab 3500/min läuft es rund. In den Gängen vier und fünf sollte die gut gedämpfte Nadel des Drehzahlmessers gar an der 4000er-Marke stehen, bevor man die Drosselklappe des 40er-Dellortos auf Durchzug stellt.
Was innerorts noch gehörig anstrengt, ist auf den flüssig zu fahrenden Pfälzer Landsträßchen kein Thema mehr. Hier lässt sich der drehfreudige Single mit dem exakten, auf etwas längeren Wegen schaltenden Fünfganggetriebe problemlos in seinem Wohlfühlbereich halten. Der reicht laut Tourenzähler bis knapp an die 8000er-Marke, doch so weit will ich das Halbliter-Triebwerk gar nicht ausquetschen, weil es über 5000/min in Lenker und Rasten kräftig kribbelt, die gleichförmige Leistungsabgabe außerdem Richtung Redline keinen zusätzlichen Schub bereithält. So erinnert mich der Ritt auf der Gilera Saturno 500 irgendwie an ein ständiges Geben und Nehmen, wobei der Pilot die Vorteile auf seiner Seite hat, wenn er den Single schwungvoll zwischen 4000 und 7000 Touren durchs Winkelwerk scheucht, akustisch begleitet vom kernigen Bollern und dem hämmernden Ansaug-Stakkato.
Mit jedem Kilometer mehr wächst der Fahrspaß, klappt unsere Zusammenarbeit besser. Doch diese Harmonie muss ich mir erarbeiten, weil auch das spurstabile und grundsätzlich sehr kurvenwillige Fahrwerk seine Eigenheiten hat. Sehr spontan schon auf kleinste Lenkbefehle reagierend, klappt die Saturno nämlich nur zögerlich in tiefere Schräglagen, wirkt etwas steif. Was neben dem ziemlich abgefahrenen Hinterreifen vor allem der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass ich etwas mehr als die erlaubten 87 Kilogramm Zuladung auf die Waage bringe – und damit fast das Doppelte von Dagmar, auf die das sensibel federnde, überraschend komfortable Fahrwerk abgestimmt ist – Gewohnheitssache.
Dennoch, die kleine Rothaut hat mich gepackt. Jetzt, wo es gut läuft mit uns, gönne ich mir auf dem Rückweg ein paar Umwege. Und der Saturno in Gedanken ein paar Streicheleinheiten. Neue Reifen würden ihr doch prima stehen, ebenso ein strafferes Federbein, dazu vielleicht eine Stahlflex-Bremsleitung... So wird es reichlich spät, bis ich wieder vor Toms Garage stehe. Doch der ist völlig entspannt. Weil er genau weiß, wie perfekt die Gilera Saturno 500 die Kunst der Verführung beherrscht.
"Auch nach 23 Jahren bin ich von der Gilera Saturno 500 total fasziniert. Ihren zeitlos klassischen Stil finde ich absolut gelungen, außerdem gefällt mir, dass die Gilera nicht an jeder Straßenecke steht. Unsere ist eine italienische Version, der man etwas mehr Dampf nachsagt. Leistungsmäßig fehlt mir auf engen Landstraßen jedenfalls nichts, dort genieße ich das spielerische Handling und den kernigen Sound. Positiv überrascht haben mich Zuverlässigkeit und Verarbeitung, bis auf ein paar losvibrierte Schrauben gab es bisher überhaupt keine Probleme."
Mitte der 1980er-Jahre hauchte der Piaggio-Konzern seiner seit 1969 zugehörigen Tochter Gilera wieder Leben ein: Rund um einen neu entwickelten Einzylinder bauten die Italiener nach Jahrzehnten wieder eine hubraumstarke Viertakt-Modellfamilie auf. Den Anfang machte die Offroad-orientierte Dakota 350 für den Inlandsmarkt, der für den Export nach und nach weitere 600er-Modelle folgten.
Auch in der 1988 präsentierten Gilera Saturno 500 arbeitet der wassergekühlte Vierventiler, allerdings mit von 99 auf 92 Millimeter verringerter Bohrung bei 74 Millimeter Hub. Statt den bei den 600ern verbauten Registervergasern kümmert sich im Straßen-Eintopf ein 40er-Dellorto-Vergaser mit Beschleunigerpumpe um die Gemischaufbereitung. Außerdem muss die Saturno ohne die bei den hubraumgrößeren Enduro-Modellen verbaute, gegenläufig zur Kurbelwelle drehende Ausgleichswelle auskommen. Dennoch war der Halbliter-Eintopf damals ein technischer Leckerbissen unter den klassischen Straßen-Singles.
Mit seinem kühlenden Wassermantel, zwei per Zahnriemen angetriebenen, obenliegenden Nockenwellen, die über justierbare Schlepphebel die vier Ventile steuern, und dem gleitgelagerten Kurbeltrieb hatte der im Serienzustand weitgehend problemlose und standfeste Motor genügend Argumente, um auch Skeptiker zu überzeugen. So lässt sich beispielsweise nach der Demontage von Zahnriemen (Spezialwerkzeug erforderlich!) und vier Muttern der komplette Zylinderkopf samt Ventiltrieb abnehmen.
Gestartet wird der Single entweder per Knopfdruck oder Kickstarter, wobei ein automatischer Ventilausheber die Arbeit erleichtert. Der Motor trägt im wunderschön verschweißten Gitterrohrrahmen mit, dessen komplette Hinterradaufhängung mit Zentralfederbein, Umlenkhebeln und Schwinge als Besonderheit an zwei geschmiedeten Aluminiumplatten verschraubt ist.
XRT 600: Paris-Dakar war in aller Munde, da wollte Gilera nicht zurückstehen: die XRT von 1989 mit 47 PS, Schnabel und großem Tank (8995 Mark)
RC 600/C: Leicht, Offroad-tauglich und mit unübersehbaren Anleihen bei Hondas Dominator – so präsentierte sich 1989 der sportliche Ableger (9950 Mark)
RC 600 R: Puristisch und schnörkellos zeigte sich die auf nominell 53 PS erstarkte Enduro-Variante 1992 für grobe Schlammschlachten gerüstet
Saturno Piuma: Grand Prix-Technik für die populäre SoS-Rennserie – für 28500 Mark hatte der exklusive Renner aber ein paar Schwächen zu viel
NordWest: So eigentümlich wie der Name wirkte 1991 dieses Modell, mit dem Gilera die erste Serien-Supermoto aus dem Hut zauberte (10 500 Mark)
Foren/Spezialisten
Um die Gilera-Viertakteinzylinder kümmert sich vor allem Volker Heim (www.heimracing.eu), Infos, Links und Hilfe gibt es unter www.gileraclub.de.
Motor: Flüssigkeitsgekühlter Einzylinder-Viertaktmotor, zwei obenliegende, über Zahnriemen angetriebene Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, über Schlepphebel betätigt, Hubraum 491 cm³, Leistung 28 kW (38 PS) bei 7000/min
Kraftübertragung: Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Fünfganggetriebe, Kettenantrieb
Fahrwerk: Unten offener Gitterrohrrahmen aus Stahl, Telegabel vorn, Ø 40 mm, Zweiarmschwinge aus Stahlblechprofilen, Zentralfederbein, Alu-Gussräder, Reifen 110/70-17 vorn, 140/70-17 hinten, Scheibenbremse vorn, Ø 300 mm, Vierkolbensattel, Scheibenbremse hinten, Ø 240 mm
Maße und Gewichte: Radstand 1410 mm, Gewicht vollgetankt 167 kg
Vmax: 176 km/h