In Indien hat ein Motorrad aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts überlebt. Nun wurde die Technik modernisiert, doch das Design der 1950er-Jahre blieb erhalten.
In Indien hat ein Motorrad aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts überlebt. Nun wurde die Technik modernisiert, doch das Design der 1950er-Jahre blieb erhalten.
Der unbekannte Rollerfahrer im Stuttgarter Feierabendverkehr kennt sich aus. „Die ist ja neu“, kräht er mit leichtem Vorwurf in der Stimme als er neben der Bullet zum Stehen kommt. „Hab’ nie was anderes behauptet“, erwidert der Mann auf dem vermeintlichen Oldtimer. „Aber dein Motorrad behauptet was anderes“, beharrt der Rollerfahrer. Den folgenden Ampelstart gewinnt die Bullet, doch der Richtigkeit dieser Feststellung entkommt sie nicht. Sie macht auf Oldie und ist doch im doppelten Sinne neu. Neu gebaut und neu konstruiert. Bis 2007 hatte Royal Enfield im indischen Madras/Chennai ausschließlich klassische Bullets mit der Technik der 1950er-Jahre produziert. Motor- und Getriebegehäuse getrennt, mit 350, seit 1993 auch mit 500 cm3 Hubraum und wenigen modernen Komponenten, etwa einem Keihin-Vergaser ausgestattet. Nach Ablauf der Übergangsfristen bereitete die Euro-3-Norm diesem fabrikneu erhältlichen Oldtimer das Ende.
Weil der Reiz der Enfields für europäische und amerikanische Kunden in eben diesem Anachronismus bestand, versucht die Bullet EFI 500 Classic, möglichst viel von der ursprünglichen Anmutung zu bewahren – Ausrutscher wie die Lenkerarmaturen hatte sich auch schon die Vorgängerin geleistet. Wer die Bullets vergleicht, wird zahlreiche Ähnlichkeiten feststellen; der kompaktere neue Motor mit Kurbelwelle und Getriebe in einem Gehäuse bedingt lediglich andere Befestigungspunkte im Rahmen. Bohrung und Hub des Einzylinders (84/90 mm) sind gleich geblieben und auch sonst pflegt er traditionelle Tugenden. Große Schwungmassen zum Beispiel. Sie bescheren dem Langhuber einen gleichmäßigen Leerlauf und eine angenehme Laufkultur. Zumindest im unteren und mittleren Bereich, wo der Enfield-Single mehr massierend als vibrierend seine Arbeit verrichtet. Schnelles Hochdrehen ist nicht seine Sache; er hat viel vom sympathischen Phlegma eines Stationärmotors. Weil er schon bei 2200/min seinem maximalen Drehmoment nahe kommt, lohnt es nicht, ihn hochzuzwiebeln. Lieber den nächsten Gang nachlegen – das geht jetzt mit dem linken Fuß geschmeidig und exakt – und sich am satten Schlag erfreuen.
Tunneldurchfahrten empfehlen sich zur Steigerung des Klanggenusses.Meist ist schon unterhalb von 100 km/h der fünfte und letzte Gang eingelegt, auf der Landstraße geht es damit zügig vorwärts. Schnellstraßen oder Autobahnen werden allerdings zäh. Ab 110 im Fünften, also etwa bei 4500/min beginnt es in den Tiefen des Kurbelgehäuses zu poltern, Vibrationen wüten in Tank, Fußrasten und Lenker wie kleine Erdbeben. Wie lange Fahrer und Schraubverbindungen die Höchstgeschwindigkeit von 135 km/h, laut Tacho 140, aushalten, hat MOTORRAD nicht getestet. Lange Tagesetappen sind dank des geringen Verbrauchs trotzdem möglich – falls auch der Fahrer die Ausdauer mitbringt, unverrückbar auf dem gefederten Sattel zu verharren. An der Gabel der Bullet fallen die nach vorn gekröpften Achsaufnahmen auf, die den Nachlauf verringern. Vielleicht dienen sie der Anpassung der Fahrwerksgeometrie nach dem Wechsel von 19- auf 18-Zoll-Bereifung. Richtig harmonisch wurde das Lenkverhalten der Bullet dadurch nicht; ab etwa 15 Grad Schräglage möchte sie vehement weiter abkippen und es braucht Zeit, bis die richtigen Korrekturbewegungen und das Zutrauen in die Avon-Diagonalreifen entwickelt sind.
Dann meldet der in Rechtskurven aufsetzende Fußbremshebel bereits das Ende des nutzbaren Schräglagenbereichs, links herum geht es deutlich tiefer. Letztlich besteht die wahre Kunst darin, gerade eben nicht zu kratzen. Auch die vordere Einscheibenbremse verlangt tiefere Einsicht in den Zusammenhang der Dinge. Sie müsste deutlich besser bremsen, doch die Gabel verwindet sich unter ihrem einseitigen Zug schon stark genug. Also abermals: Rund und gelassen fahren, Extreme machen ein schlechtes Karma. Leichtes Unbehagen zumindest verursacht der Preis der Bullet. Dafür, dass ihre Käufer viel Humor und Toleranz gegenüber dem nonchalanten Finish aufbringen müssen, sind 5499 Euro ziemlich humorlos. Wer nicht lediglich ein originelles und günstiges Alltagsmotorrad sucht, bekommt für 904 Euro weniger eine Kawasaki Ninja 250, für 791 Euro mehr offeriert Suzuki die Gladius mit ABS.
Motor
Luftgekühlter Einzylinder-Viertaktmotor, eine untenliegende Nockenwelle, zwei Ventile, Stoßstangen, Kipphebel, Nasssumpfschmierung, Einspritzung, Batterie 12 V, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Fünfganggetriebe, Kette.
Bohrung x Hub 84,0 x 90,0 mm
Hubraum 499 cm³
Verdichtungsverhältnis 8,5:1
Nennleistung 20,3 kW (28 PS) bei 5250/min
Max. Drehmoment 41 Nm bei 4000/min
Fahrwerk
Einschleifenrahmen aus Stahl, Telegabel, Zweiarmschwinge aus Stahl,
zwei Federbeine, Scheibenbremse vorn, Ø 280 mm, Trommelbremse hinten, Ø 153 mm.
Speichenräder mit Stahlfelgen 1.85 x 18; 2.50 x 18
Reifen 90/90 18; 110/80 18
Bereifung im Test Avon Roadrider
Maße+Gewichte
Radstand 1370 mm, Lenkkopfwinkel 63,0 Grad, Nachlauf 90 mm, Federweg v/h 150/130 mm, Sitzhöhe* 790 mm, Gewicht vollgetankt* 172 kg, Zuladung* 193 kg, Tankinhalt 14,5 Liter.
Gewährleistung zwei Jahre
Service-Intervalle 5000 km
Farben Schwarz, Türkisgrün, Rot
Preis 5499 Euro
Nebenkosten 139 Euro
Messwerte
Fahrleistungen*
Höchstgeschwindigkeit 135 km/h
Beschleunigung
0–50 km/h 3,2 sek
0–100 km/h 11,3 sek
Durchzug
60–100 km/h 8,1 sek
Tachometerabweichung
Effektiv (Anzeige 50/100)47/94 km/h
Verbrauch
Landstraße 3,8 l/100 km/h
Kraftstoffart Super
Theor. Reichweite 382 km