Harry kenne ich schon über 30 Jahre. Während ich noch studierte und mich mit einer Honda XL 250 fortbewegte, hatte Harry schon die dicken Bikes unterm Hintern und handelte mit Maschinen und Klamotten. Er war mindestens so angefressen vom Thema Motorrad wie ich. Was eigentlich gar nicht sein konnte. Niemals hätte ich früher gedacht, dass wir irgendwann einmal eine Geschichte zusammen produzieren. Ich war ja noch Maschinenbaustudent und wollte Motorräder bauen, darüber schreiben kam mir gar nicht erst in den Sinn. Und Harry war von der ersten MV Agusta Target noch so weit entfernt, wie Pluto von unserem Zentralgestirn.
Alle paar Jahre rief Harry mich an. Zum Beispiel, wenn ich eine Maschine seiner Meinung nach viel zu billig verkaufte. Oder wenn er sein Lebensprojekt, die MV Agusta Target bald fertig gestellt hätte. „Hä?“ „Ja, du hast richtig gehört. Die, die damals auf der MOTORRAD-Revue war. Die hab ich gebaut.“ „Glaub ich nicht.“ „Doch! Ich hab den Herrn Kasten gefragt, ob ich das darf und der hat sogar mitgeholfen.“
Harry platzt vor Stolz, und ich bin platt
Man kann Harry nicht nachsagen, dass er Storys erzählt. Und inzwischen hat er aus seinem früheren Spontanhandel ein piekfeines Unternehmen in der Nähe von Ochsenfurt gemacht. Die MV Agusta Target stellt er stolz in seinen Showroom auf glänzenden Alublechen und strahlt sie mit Scheinwerfern an. Mir fällt der Kitt aus der Brille. „Jetzt guckst du!“ Harry platzt vor Stolz, und ich bin platt. Das hätte ich meinem alten Ex-Anarcho-Moped-Kumpel nicht zugetraut. Eine perfekt aufgebaute, nietennagelneue MV Agusta in lupenreinem Target-Design. So wie sie nie wirklich realisiert wurde. Straßenzugelassen. Hochglanzpoliert. In diesem traumhaften Rot. Mit diesen wunderschönen roten Ventildeckeln. Den offenen Trichtern, dem radial verrippten Hinterachsantrieb, der Fontana-Doppel-Duplex-Bremse, dem ultrakurzen Heck. Ich muss mich setzen.
„Willst ein Bier?“ Harry, der nicht so aussieht, als wäre er der einfühlsamste Zeitgenosse, hat Mitleid. Er weiß, dass es ein Schock für mich sein muss, ihn, der früher seine Ware schon mal in einem ausgepumpten Swimmingpool lagerte, so wiederzusehen. On the top, eben. Ganz oben im Olymp. Mit einem sündhaft teuren Einzelstück, selbst gebaut, zusammen mit einer legendären Designfirma. Mit den Herren Hans-Georg Kasten, Lucas Lorch, Wolfgang Fuchs und der anmutigen Frau Thurner lässt er mich allein. Ihr bin ich dankbar, denn sie kredenzt ein deftiges Weißwurstfrühstück und hat Harry – „Ich fahre!“ – in etwa so im Griff wie seine mächtige Pranke den Kupplungshebel der MV Agusta Target. Den zieht er, startet und röhrt mit dem edlen Gefährt davon, um Bilder zu machen.
Wie die MV Agusta Target entstand
Wir unterhalten uns. Hans-Georg Kasten, der Chef von Target Design, hat wunderschöne Geschichten parat, wie es damals so lief. Mit seinen damaligen Partnern Jan Fellstrom und Hans A. Muth, mit der Suzuki Katana, der Zeit davor bei BMW und warum alles so lief wie es lief. Das Zeitfenster von 14 Tagen vom Go des Projekts bis zum Redaktionsschluss, welches ihm mein Vorvorvorvorvorgänger bei MOTORRAD, Helmut Luckner, nannte, lässt auch tief blicken. Heiseres Fauchen zeigt an, dass Harry wieder kommt. „Wer hat dir den Auspuff gemacht?“ „Hab ich selber gedengelt.“ „Und die Stoßdämpfer?“ „Das waren IKONS, die Teile unter dem Federteller habe ich selber gedreht.“ „Tankdeckel?“ „Selber!“ Harry hat eigentlich fast alles an der MV Agusta Target selber gemacht. „Manchmal dachte ich, das schaffe ich jetzt nicht. Den Motor habe ich komplett zerlegt und neu aufgebaut. Und erst die Bremse! Die musst du x-mal einstellen, zusammenbauen, probieren, zerlegen, neu einstellen. Da wirst du wahnsinnig!“
Harry will mich nicht fahren lassen. Das merke ich. Er will eigentlich nie jemanden mit seinen Motorrädern fahren lassen. Warum jetzt mich? Wenn da jetzt was passiert. Drei Jahre Arbeit. Sein ganzes Geld. Seine Frau schaut ihn an: „Harry, du bist zu groß für das Motorrad!“ Harry lässt mich fahren. „Den Dynastarter betätigst du links mit dem Zündschloss, wie beim Auto, einfach weiterdrehen. Und die Trichter sind noch zu kurz, die überfettet bei 3000 Touren etwas. Und pass bloß auf die Bremse auf, die zwickt wie die Hölle, und...“ Ich höre Harry nicht mehr, weil mich jetzt der MV-Vierer gefangen nimmt. Noch nie bin ich eine originale MV gefahren. Premiere! Jetzt bloß nichts falsch machen. Die mörderharte Kupplung der MV Agusta Target rückt ein, die offenen Dellortos liefern so etwas wie Gemisch, röchelnd schleiche ich mich vom Hof.
Überraschend schwer und hoch
Die MV Agusta Target ist überraschend schwer und hoch. Die Sitzbank liegt weit hinten und der Lenker eher weit vorn. So streckt man sich über die Designikone, was aber ganz angenehm sportlich ist. Dank neuer Bridgestones liegt die MV in Kurven prächtig. Die extrem kurze Schwinge macht die Antriebseinflüsse des Kardans spürbar. Man muss die MV ziehen lassen. Mechanisch macht ein MV-Vierzylinder mit den zahnradgetriebenen Nockenwellen ein ordentliches Spektakel. Da bewegt sich eben auch etwas. Aber ansonsten ist der 750er in seiner Leistungsentfaltung gut fahrbar und dreht ohne große Vibrationen hoch. Wenn die Drehzahl stimmt, lässt sich auch das Getriebe gut schalten, ansonsten wirkt es reichlich knochig, und im Stand findet sich der Leerlauf kaum.
Die Doppel-Duplex im Vorderrad ist wirklich was für höchstens zwei Finger. Zunächst wenig wirkend, wird sie bei Erwärmung oder erhöhter Handkraft unheimlich progressiv. Harry hat recht. Da muss man aufpassen. Nach ein paar Kilometern bringe ich die MV Agusta Target wohlbehalten zurück. Meine Hochachtung vor Harry ist grenzenlos. Er hat seinen Traum realisiert. Ja, sein Leben ganz auf dieses Projekt ausgerichtet. Jetzt will er eine Kleinserie auflegen. Wolfgang Fuchs soll ihm die Kunden besorgen. Die Basis-MVs hat er schon beschafft. Als Nächstes will er in Italien ausstellen. So wie ich Harry kenne, wird ihm auch das gelingt.
Interview mit Hans-Georg Kasten und Harald Thurner

Herr Kasten, unter welchen Umständen entstand damals der Entwurf der MV Agusta Target?
Die jährlich erscheinende MOTORRAD-Revue wollte als Titelgeschichte in der 1980er-Ausgabe „Stardesigner und ihre Traummotorräder“ bringen. Target Design war ein halbes Jahr vorher von Hans A. Muth, Jan Fellstrom und mir gegründet worden. Muth war zu diesem Zeitpunkt ein bereits bekannter und gut vernetzter Designer, dessen Aufgabe es war, Aufträge zu akquirieren und Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Der damalige MOTORRAD-Chefredakteur Helmut Luckner rief ihn an, ob er mitmachen wollte.
War das nicht ein bisschen vermessen, die beiden anderen Designteams waren doch Porsche Design und Italdesign?
Natürlich war es vermessen. Wir waren jung und Ferdinand Alexander Porsche und Giorgetto Giugiaro waren bereits weltbekannte Designer. Außerdem hatten wir auch gar keine Zeit, wir waren mitten im Projekt Katana 1100. Die 650er war bereits fertig und die 1100er von Suzuki begeistert angenommen worden. Aber diese Chance war einmalig, und wir wollten es machen.
Luckner rief wohl auch ziemlich spät an, oder?
Es waren genau 14 Tage bis Redaktionsschluss, als wir starten konnten. In dieser Zeit sollte das Konzept erstellt, das Motorrad zumindest grob als 1:1-Tape dargestellt und in ein Clay-Modell umgesetzt werden. Eigentlich unmöglich.
Wie haben Sie es dann trotzdem geschafft, in so kurzer Zeit ein fertiges Modell zu erstellen?
Ich ergriff drei Maßnahmen: Im Gegensatz zu den Katanas wollte Muth bei der MV mitreden. Ich sagte zu ihm: „Wenn du möchtest, dass wir in 14 Tagen fertig sind, bleibst du zu Hause“, was er akzeptierte. Für die dreidimensionale Umsetzung holten wir uns Verstärkung. Karl Heinz Abe, der sich später als BMW-Designer einen Namen machte und Alfred Böschl, heute ein bekannter Bildhauer, halfen uns. Und wir arbeiteten 20 Stunden am Tag, die letzten drei Tage fast rund um die Uhr. Am Abend vor dem Fototermin kam dann der Redakteur. Er war entsetzt, denn er sah nur Chaos und wollte den Fototermin absagen. Luckner wies ihn aber an, bis zum nächsten Morgen zu warten. Da war sie bereit.
Die MV Agusta Target konnte nur entstehen, weil Jan und ich ganz klare Vorstellungen von unserem Traummotorrad hatten. Eine kompromisslos sportliche MV. Unverkleidet, ein kleines rahmenfestes Cockpit, damals ein neues Konzept, um Hochgeschwindigkeitsstabilität zu garantieren.
Die Formensprache war damals revolutionär. Die Formensprache mit dem kurzen Heck war anders als alles, was man vorher kannte. Motorräder sehen seither anders aus. Die MV beeinflusste das Motorrad-Design weltweit.
Herr Thurner, wie kamen Sie auf die Idee, die MV Agusta Target nun wieder aufleben zu lassen?
Motorräder sind in meinem Leben Dreh- und Angelpunkt. Das fing schon in meiner Jugend an, und bereits vor 35 Jahren habe ich mich in der Branche selbstständig gemacht. Schon immer hatte ich eine besondere Affinität zu italienischen Motorrädern, und eines meiner Spezialgebiete ist der Hersteller MV Agusta.
Auf einer Feier kam ich in Kontakt mit Target Design. Mein Freund Hartmut Huhn hatte zusammen mit Target Design die Sachs Beast realisiert. Natürlich wusste ich aus der Literatur, dass es doch auch ein Projekt im Zusammenhang mit MV Agusta gegeben hatte. Man kam ins Gespräch und so langsam entwickelte sich bei mir die Idee, eine fahrbereite MV Agusta Target zu bauen. Diese Designsprache gepaart mit MV, was für ein Traum! Mir war natürlich sofort klar, dass das extrem zeitintensiv und teuer werden würde. Aber ich bin glücklich, dass meine Ehefrau mit mir vom ersten Tag an am gleichen Strang zog und mich unterstützte.
Wie ging es dann weiter und was haben Sie nun vor?
Zuerst habe ich mich mal in der Theorie mit dem ganzen Projekt befasst und den Kontakt zu Hans-Georg Kasten gesucht. Der erste wichtige Schritt war, dass mir Target Design zuhörte und letztendlich Unterstützung zusagte. Das war schon mehr, als ich erwartet hatte. Ich beschaffte mir eine passende Basismaschine, und dann ging es los. Target Design nahm die Daten auf und digitalisierte Fahrwerk und Rahmen. Basierend auf den alten Original-Unterlagen modellierte dann Lucas Lorch, einer der Leistungsträger der Sachs Beast, die MV Agusta Target am Computer in höchster Präzision. Keine einfache Sache, aber es gelang optimal.
Natürlich lief dann nicht alles wie am Schnürchen. Dieses Projekt hat mich voll gefordert, das kann ich ohne zu übertreiben sagen. Ohne die Hilfe von Target Design hätte ich es auch nicht geschafft. Aber auch Ducati-Spezialist Jürgen Fischer und Hannes Stiegelmeier von Huber Kunststofftechnik halfen mir mit ihrem Fachwissen und handwerklichen Können.
Die Resonanz auf den ersten fahrfertigen Prototypen war überwältigend. Ich habe dafür sogar eine Straßenzulassung. Wir haben es geschafft, eine Ikone zu realisieren. Eine Ikone, die man auch fahren kann. Geplant ist nun eine Kleinserie. Um den Vertrieb wird sich mein Partner Wolfgang Fuchs kümmern. Motorrad-Fuchs aus Osnabrück ist in der Szene eine bekannte und renommierte Adresse.