Wenige Serienmotorräder haben je einen solchen Mythos begründet, vor allem unter amerikanischen Klassik-Liebhabern, wie die Crocker V-Twin, auch der Düsenberg unter den Motorrädern genannt. An die 110 Exemplare sollen zwischen 1936 und 1942 in Los Angeles gebaut worden sein, jede ein Einzelstück. Die genaue Anzahl steht nicht zweifelsfrei fest, denn der Firmenchef Albert G. Crocker war bekannt für seine unkonventionelle Art, die sich auch darin zeigte, dass er seine Bikes nicht kontinuierlich durchnummerierte. Ihn interessierten nicht Papiere, Anträge, Vorschriften, er wollte einzig und alleine eines: das schnellste, leichteste, stärkste und außergewöhnlichste Straßenmotorrad seiner Zeit bauen. Unglücklicherweise erwies sich sein hoher Qualitätsanspruch und die damit einhergehenden Kosten unvereinbar mit dem Ziel, Gewinn zu erzielen. Schon gar nicht angesichts der größeren Konkurrenten namens Harley-Davidson und Indian. Spätestens der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg und die Probleme mit der Versorgung der wichtigen Werkstoffe begründeten das Ende der Motorradproduktion.
2000 CAD-Zeichnungen des Original-Motors
Nach dem Niedergang der Firma war es lange still um Crocker. Doch 1997 rührte sich wieder etwas, als der Kanadier Michael Schacht, ein erfolgreicher Autohändler aus Toronto und leidenschaftlicher Biker, ins Spiel kam. Er kaufte und verkaufte Harleys und gilt als Besitzer einer der größten Indian-Sammlungen Kanadas. 1997 traf er auf Mark Karalash, einen Indian-Restaurator, der gerade eine Handvoll Crocker-Exemplare ergattert hatte – nahezu hoffnungslose Fälle. Schacht äußerte die Idee, diese sagenhaften Bikes als Neufahrzeuge wieder aufzulegen, doch Mark lehnte ab – er selbst wollte diesen Plan verfolgen. Zwei Jahre später bot er Schacht jedoch eine Partnerschaft an, 2002 erwarben sie die Crocker-Namensrechte – dank ihrer nachgefertigten Teile von höchster Qualität, die sie an Besitzer von Original-Bikes verkauften.
Doch Mark baute Mist, stürzte die Firma in Schulden, und als der Treuhänder die bankrotte Firma verwaltete, schlug die Stunde von Schacht: Er bekam die Chance, die Schulden zu begleichen und ist seit Mai 2008 stolzer Alleineigner der Crocker-Rechte. Er löste seinen Autohandel in Toronto auf und zog nach L.A. „Eine so historische Marke muss an ihrem ursprünglichen Firmensitz gebaut werden“, erklärt Schacht seinen Entschluss. „Wir stellten 2000 CAD-Zeichnungen des Original-Crocker-Motors her, um einen in jeder Hinsicht vom Original nicht zu unterscheidenden V-Twin bauen zu können.“ Neben Einzelteilen und ganzen Antriebseinheiten schuf Schacht auch sein erstes Komplett-Bike 2012. Seither wurde es stetig verbessert bis zum aktuellen Grad der Perfektion, in dem er die Bikes nun an die Kunden verkaufen will. „Wir haben genügend Teile, um zehn komplette Bikes zu bauen, die in jeder Hinsicht absolut identisch mit den originalen Crockers sind. Die Preise beginnen bei 200.000 Dollar und wie Al Crocker es getan hat, sind wir bereit, jedes Motorrad für den Kunden maßgeschneidert aufzubauen.“
Technische Daten Crocker V-Twin-Nachbau
Motor: Luftgekühlter 45-Grad-Zweizylinder-Viertakt-V-Motor, untenliegende Nockenwelle, je zwei per Stoßstangen und Kipphebel betätigte Ventile pro Brennraum, Bohrung x Hub 82,55 x 92,075 mm, Hubraum 986 cm³, Verdichtungsverhältnis 8:1, Leistung 60 PS bei 5800/min
Kraftübertragung: Achtscheiben-Ölbadkupplung, Dreiganggetriebe, Kettenantrieb
Fahrwerk: Einschleifen-Stahlrohrrahmen, starre Hinterradführung, Trapezgabel mit Zentralfeder vorn, Drahtspeichenräder mit Stahlfelgen, Reifen vorn und hinten 4.00 x 18, 178-mm-Simplex-Trommelbremsen vorn und hinten, Doppelfeder für Sitz
Maße und Gewichte: Radstand 1600 mm, Trockengewicht 225 kg, Tankinhalt 13,25 l
Fahrleistung: Höchstgeschwindigkeit zirka 192 km/h
Motor und Getriebe
Die Basis ist die moderne Version des 45-Grad V-Twins, doch mit dem Vorteil der Nutzung moderner Werkstoffe. So bestehen die Sandguss-Kurbelgehäuse aus robustem A356-Aluminium. Auch die Kurbelwelle ist aus hochwertigerem Material gefertigt, ebenso die eigenen Wälzlager samt Gehäuse. Die Ölversorgung wurde mittels zweier zahnradgetriebener Ölpumpen verbessert, um der Neigung des hinteren Zylinders zum Überhitzen vorzubeugen. Schacht übernahm den Wert für die Bohrung von 82,55 Millimeter für sein erstes Exemplar der modernen Crocker und beließ es bei der „seriösen“ Anhebung des Hubs auf 104,1 Millimeter, was zu 1144 cm³ Hubraum und etwa 80 PS bei 4800/min am Hinterrad führt.
Künftige Kundenbikes werden jedoch die originalen 92,075 Millimeter Hub und 986 cm³ aufweisen und rund 60 PS leisten, sagt Schacht. Je Zylinder steuern zwei Stoßstangen die obenliegende Nockenwelle, sie laufen in einem gemeinsamen Rohr und verleihen dem Ganzen den Königswellen-Look. Die neuen Zylinderköpfe sind dem ab 1938 verwendeten Design nachempfunden, mit sehr großen, parallel stehenden Ventilen. Schacht plant, die leistungsstärkere frühere Hemi-Kopf-Version der ersten 27 Crocker-Exemplare erst später anzubieten.
Dem Original exakt nachempfunden ist auch das Dreiganggetriebe, doch es hat verstärkte Schaltgabeln, da die alten zum Brechen neigten. Die 18-Zoll-Räder, die bei allen Crockers verwendet wurden, sind mit originalgetreuen Firestone-Pneus besohlt und vorn und hinten mit identischen 178-Millimeter-Trommelbremsen bestückt. Dank des großzügigen Einsatzes von Aluminium konnte das Trockengewicht des Bikes insgesamt niedrig gehalten werden, 225 Kilogramm können sich sehen lassen.
Noch nicht legal und straßenzulassungsfähig
Michael Schachts neu gebaute Crocker ist noch nicht legal und straßenzulassungsfähig genug, um damit durch L.A. zu düsen. Also nutze ich meine Chance, damit einige Runden auf dem Rollfeld des Flugplatzes direkt neben dem Crocker-Werk zu drehen. Hier ist Platz genug, um der neuen Crocker auch mal die Sporen zu geben. Bereits 2012 hatte ich das Vergnügen, zwei Original-Crocker-Maschinen, die bei einer Auktion versteigert werden sollten, durch die engen Straßen Londons bewegen zu dürfen.
Zunächst jedoch muss der langhubige V2 gestartet werden, eine Herausforderung, der sich zum Glück Michael Schacht und seine stämmigen Kumpels annehmen, während ich entspannt zusehe. Nach langen, anstrengenden Versuchen läuft der Motor endlich, die angedachte Ausrüstung mit einem E-Starter erscheint praktisch unverzichtbar. Die Original-Crocker in London waren nicht annähernd so schweißtreibend zu starten, also wird die Rückkehr zu den Werksmotor-Dimensionen, die Schacht für alle Kundenmotorräder plant, wohl die Startprozedur erheblich erleichtern. Jetzt, da er läuft, zweifelt niemand mehr an der fantastischen Leistung dieses in den 1930ern konstruierten Motors, der mit majestätischem Drehmoment aufwartet. Dazu gesellt sich ein echtes Donnergrollen aus dem langen, geraden, kaum gedämpften Zwei-in-eins-Auspuff und eine Laufkultur, die kaum vergleichbar scheint mit den deutlich stärker vibrierenden Exemplaren aus der Ära der klassischen amerikanischen 45-Grad-V-Twins. Glaubhaft scheinen mir auch auf Anhieb die Fahrleistungen – laut Schacht wurde die Crocker bereits mit über 120 mph (über 192 km/h) gemessen, womit sie in den guten alten Zeiten jeden Indian- oder Harley-Rivalen bei Straßenrennen abgeledert hätte.
Kupplung wird per Wipphebel vom Fuß betätigt
Die größte Herausforderung liegt jedoch, wie schon damals im Fahrerlebnis mit den Originalen geschildert, in der Gewöhnung an die Bedienung der Griffe und Hebel. Der Gasgriff befindet sich zwar wie üblich am rechten Lenkerende, doch sitzt links ebenfalls ein Drehgriff, mit dem die Zündung verstellt wird. Dieser ist nicht nur beim Start wichtig, sondern er kommt auch zum Einsatz, wenn es um die Unterstützung der recht mäßig wirkenden Trommelbremsen beim Verzögern der Fuhre geht. Der Handhebel zur Betätigung der Vorderbremse ist links statt üblicherweise rechts angebracht, immerhin verzögert die Hinterbremse beim Tritt auf das rechts angebrachte Pedal nicht ganz so lustlos. Anstatt per Handhebel wird die Kupplung per Wipphebel vom linken Fuß betätigt: Per Druck mit der Zehenspitze wird die Kupplung ausgerückt, während man mit der linken Hand per Handhebel an der linken Tankseite den Gang einlegt, anschließend rückt der Fahrer per Druck mit der Ferse langsam die Kupplung ein. All dies erfordert reichlich Übung, soll das Zusammenspiel von Gas, Zündung, Kupplung und Schaltvorgängen geschmeidig und flüssig ablaufen.
Der erste Gang ist relativ lang, und das Einlegen des zweiten sollte langsam und präzise erfolgen, will man nicht versehentlich im Leerlauf landen. Die Übersetzung passt jedoch fast immer und überall, schließlich hilft der Motor hier mit seinem mächtigen Drehmoment über vieles hinweg. Von Dahinrollen bei knapp über Schrittgeschwindigkeit bis zur furiosen Beschleunigung beim Aufreißen des Gasgriffs ist alles möglich. Das Schacht-Bike ist eine Neuauflage des Crocker „Big Tank“-Modells, dessen Chassis mit flacherer Gabel und 55 Millimeter längerem Radstand auf höhere Stabilität ausgelegt war, auf Kosten agileren Einlenkens. Das Handling fühlt sich sehr neutral an, kein Taumeln oder Aufschaukeln, wie so oft bei Bikes mit Trapezgabel zu beobachten, wenn Unebenheiten bei hohem Tempo ins Spiel kommen. Die Crocker-Gabel wirkt recht steif, allerdings bietet sie wenig Dämpfung, die fetten Reifen übernehmen einen Großteil dieser Arbeit. Zum Wohlbefinden des Fahrers tragen übrigens auch der Federsattel und die sehr gelungene Kröpfung des Lenkers bei.
In der Tat darf ich behaupten, dass der 1000er-V-Twin der Crocker ein echtes Original darstellt und deutlich macht, was Leidenschaft und Fähigkeiten zweier Männer, Crocker und Ingenieur Bigsby, hervorbringen können. Männer, die sich nie fragten, ob etwas zu schaffen ist, sondern wie es zu schaffen ist. Man muss die Crocker in einem Atemzug mit den Ikonen HRD Vincent und Brough Superior nennen, den ersten echten Superbikes der Welt. Und mit der Neuauflage der Crocker V-Twin stellt Michael Schacht sicher, dass dieser Teil der Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.
Crocker-Historie

Al Crocker wurde 1882 in der Nähe von Chicago geboren, absolvierte an der Northwestern University sein Ingenieurstudium und trat direkt mit der Jahrhundertwende seinen ersten Job bei der Thor Motorcycle Company in Aurora, Illinois an. Dort errang er früh zahlreiche Rennerfolge mit diversen Thor-V-Twins, wobei er auch seine Rivalen George Hendee und Carl Hedstrom, die Gründer von Indian, kennenlernte und sich mit ihnen anfreundete. Schon 1910 wirkte er als Designer und Ingenieur bei Indian in Springfield, arbeitete sich aber mehr und mehr in den Verkauf jener Motorräder ein, die er mitgestaltet hatte.
1913 übernahm Crocker das Management der Niederlassung in Kansas City, bevor er schließlich 1928 nach Los Angeles übersiedelte, um sich dort als Indian-Händler am Venice Boulevard niederzulassen. Dort heuerte er einen talentierten jungen Ingenieur namens Paul A. Bigsby an, mit dem er sich bald begeistert im Speedway-Racing engagierte. Crocker begann Rahmen für die 750er-Indian Scout-V2 zu bauen. Doch bereits nach einer Saison erkannte er, dass eine Einzylindermaschine für den Einsatz beim Dirt Track-Racing mehr Sinn machte. Also entwickelte er seinen eigenen Motor, einen 350er-ohv-Single, den er in insgesamt 31 Bikes einbaute – die ersten kompletten Crocker-Motorräder. Zwar konnte er sich damit gegen die amerikanischen Rivalen mit Harley-Motoren behaupten, doch hatten die britischen JAP-Motoren leistungsmäßig stets die Nase vorn.
Ein weiteres ehrgeiziges Vorhaben trat dann immer mehr in den Vordergrund: die Konstruktion eines klassenbeherrschenden V2-Straßenbikes, das schnellste Gefährt auf zwei Rädern in Amerika, am besten weltweit. Crocker gründete eine Maschinenfabrik mit eigener Gießerei in L.A. und machte sich daran, seinen Traum in die Realität umzusetzen. Der erste 1000er-V2 von 1936 stellte ein Gemeinschaftswerk dar, gespeist aus den Talenten von Crocker und Bigsby, das einzige Straßenmotorrad mit obenliegenden Ventilen, nicht wissend, dass Harleys Knucklehead-Motor ebenfalls so gut wie serienreif entwickelt war und bald darauf in Produktion gehen sollte. Der luftgekühlte 45-Grad-Motor mit freiliegenden Kipphebeln und Ventilfedern markierte die Plattform für alle späteren Crockers mit dem damals ungewöhnlich kurzhubigen 1000er. Der anfangs mit kugelförmigen Brennräumen und Ventilen im Winkel von 90 Grad arbeitende Motor mit seiner Verdichtung von 7,5:1 (später 8,5:1) wurde bald umgestaltet – zerstörte Köpfe und mangelnde Schmierung der Kipphebel zwangen dazu. Eine geänderte Brennraumform und parallel angeordnete Ventile schufen Abhilfe. Der originale Hemi-Motor hatte 55 PS bei 5800/min geliefert und war standfest bis zu beachtlichen 6700/min. Damit hatte Bigsby bei Rekordfahrten in der Mojave-Wüste mit beachtlichen 128 Meilen pro Stunde (205 km/h) die Tagesbestleistung für straßenzugelassene Motorräder erzielt.
Und obwohl die späteren Parallel-Ventiler nicht mehr so überragend schnell rannten, beharrte Crocker darauf, dass sie mit ihren 48 PS immer noch für 106 Meilen (170 km/h) gut waren – 15 bis 20 km/h schneller als eine Indian Scout oder Harley Knucklehead mit ihren 36 PS. Doch während die US-Bikes trotz aufziehender Konjunkturkrise noch ordentliche Verkaufszahlen erzielten, quälte sich Crocker mit zu hohen Preisen ab. Immerhin kostete eine Crocker stolze 495 Dollar – selbst eine brandneue Harley mit Knucklehead-Motor gab es bereits für 380 Dollar. Und die bot sogar ein Vierganggetriebe, die Crocker nur drei Gänge. In Zugzwang geraten, reagierte Crocker mit immer größeren Hubräumen durch Vergrößerung der Bohrung. Doch während Konkurrenten wie Brough eher auf zugekaufte hochwertige Komponenten setzten, beharrte Crocker darauf, so viele Bauteile wie möglich selbst zu fertigen.
Die Krise verschärfte sich, 1942 zog Al Crocker den Stecker und stellte die Produktion ein. In einem Interview erklärte er 1948, worin die Gründe für das Ende lagen: „Es war letztlich der Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg Ende 1941. Wir hatten die letzten 85 Maschinen fast fertig, doch die Regierung verweigerte uns die Zustimmung für die Verwendung wichtiger Materialien. Also zerlegten wir die Motorräder, bekamen 75 Dollar für den Schrott und eine Ausgleichszahlung für die erlittenen Verluste. Das war’s.“ Von den insgesamt etwa 110 gebauten Exemplaren existieren heute noch rund 65.