Arno ist schuld. „Nehmt die Blaue auch im Gelände ruhig ran. Die ist kein Showbike.“, frotzelte der Marketing-Mann von Wunderlich, als er die hauseigene Urban G/S ein paar Tage zuvor aus der Werkstatt schob. Doch hatte er wirklich das gemeint? Wollte er wirklich sehen, wie die Maschine in dieser Furt abtaucht, sich mit ihren Sturzbügeln wie ein Schneepflug den Weg durch den glibberigen Matsch schiebt, um ein paar Meter weiter schlingernd und im Drehzahlbegrenzer sprotzend an der Uferböschung hochzukraxeln? Egal. Arno Gabels Antwort hätte Kollege Jo Bauer ohnehin ignoriert.
Stunt-Profi testet Urban G/S
Der hauptberufliche Stunt-Profi klappt den Seitenständer der BMW aus, stellt sie grinsend ab, blickt zurück ans andere Ufer und legt fordernd den Kopf zur Seite. Ich? Da durch? Auf der serienmäßigen Urban G/S? Mit den Metzeler Tourance Next-Reifen, die schon auf dem feuchten Feldweg so zugeschmiert aussahen wie ein glasierter Donut? Vergiss es. Ich werfe das Handtuch.
Jo dreht um. Wieder spritzt die Brühe, wieder brüllt der Boxer. Wieder egal. Zweimal 30 Meter haben gereicht, um das Bike endgültig in Lehm zu brennen. Wie eine hellbraune Schokoladen-Kuvertüre überzieht die Pampe das Motorrad von der Kotflügelspitze bis zum Nummernschild. Spuren einer siegreichen letzten Schlacht. Akzeptiert. Zwei, drei oder von mir aus auch vier zu null. Die Biere heute Abend gehen auf mich.
Fahrwerk und Sitzhöhe
Am Morgen waren die Kräfteverhältnisse noch längst nicht klar. Denn so wie die Wunderlich BMW R nineT G/S fahren ja heutzutage viele herum, die zersägten, gelifteten oder post-patinierten Gummikühe. Rollen nicht selten auf Contis Grobstrick-Pneus, mit faltenbalgbewehrten Gabelrohren und Handschützern. Allerdings durch Downtown, nicht die Sahara. Und sie besitzen coole Namen. Oder wenigstens einen Untertitel. Designed by wird gern genommen. Samt unleserlicher Unterschrift, deren Urheber ganz allein und ausschließlich der Besitzer kennt. Doch die blaue Urban G/S von Wunderlich heißt schlicht Urban G/S. Das hätte uns stutzig machen sollen.
Schon deshalb, weil es ein paar mehr Blicke als den ersten braucht, um die Verwandtschaft zur Basisvariante überhaupt zu erkennen. Urban G/S, das heißt bei BMW R nineT mit 19- statt 17-Zoll-Vorderrad, Upside-down- statt konventioneller Gabel, Stahl- statt Alutank und rund 2.000 Euro günstigerem Preis. Der Casus knacktus: der optische Brückenschlag zur Ur-Reiseenduro, der R 80 G/S aus dem Jahr 1980. Die Lackierung in den weiß-blau-roten BMW-Motorsportfarben und die rote Sitzbank sind ein Hingucker.
Trotzdem stiehlt die Wunderlich der Münchnerin die Show. Bereits durch ihre Dimension. 20 Millimeter vorn und stattliche 70 Millimeter hinten heben die Federelemente die Urban G/S von Wunderlich an. Gekleckert wird dabei nicht. Von der ursprünglichen, nicht einstellbaren Gabel bleibt nur noch die untere Hälfte übrig. In den beiden verlängerten Standrohren steckt rechts ein Cartridge-Kit für die Zugstufendämpfung, links das Pendant für die Druckstufendämpfung. Und statt des hinteren, nur in der Zugstufe einstellbaren Federbeins lässt sich der Nachrüst-Monoshock mit Zug-, High- und Lowspeed-Dämpfung rundum justieren. Ein Schnäppchen ist die vom Federungsspezialisten Wilbers produzierte Kombo freilich nicht. Rund 1.400 Euro wandern für den Gabelumbau, etwa 800 Euro für den Stoßdämpfer über die Ladentheke – und liften die Sitzhöhe nebenbei auf stattliche 920 Millimeter.
Fahrverhalten Wunderlich Urban G/S
Wer deshalb aufhört zu lesen, kennt Gaston Rahier nicht. In den 80ern siegte der Belgier auf der hünenhaften Rallye-BMW zweimal bei der Dakar. Er selbst war gerade mal 1,64 Meter klein. Dass der viel zu jung verstorbene Haudegen auch heute trotzdem auf die Blaue klettern würde, steht dennoch außer Frage. Allein die gelb folierten Haupt- und Zusatzscheinwerfer, eine Reminiszenz an die mit dem zu jener Zeit in Frankreich vorgeschriebenen Gelblicht startenden Dakar-Pioniere, würden ihm die Tränen in die Augen treiben.
Und er würde sich im Sattel so pudelwohl fühlen wie damals. Oder wie wir jetzt. Erstaunlich, wie sich das Fahrgefühl durch ein paar Zentimeter mehr Federweg, den um 20 Millimeter höher gesetzten und nach vorn gedrehten Lenker sowie eine straffere Sitzbank ändert. Gegenüber der vergleichsweise zierlichen Standard-G/S gleicht das Wunderlich-Bike einem Raumgleiter, nein, einem Raumflitzer. Denn hoppelt die Basisvariante vor allem hinten relativ unkomfortabel durch die Lande, saugen die Wilbers-Federelemente völlig souverän jede Runzel weg, halten das Schlachtross unbeeindruckt auf Kurs. Klar, vom Grenzbereich bleibt man mit der Hardcore-Offroad-Besohlung Continental TKC 80 auf Asphalt schon aus Respekt weit weg. Und merkt dennoch schnell, dass das angehobene Heck viel mehr bringt als nur mehr Federweg. Trotz der burschikosen Bereifung lenkt die Urban G/S von Wunderlich viel leichter, müheloser und flinker ein als die Normal-G/S mit ihren auf der Straße so famos haftenden Metzeler Tourance Next. Dass die Enduro aus dem Rheintal mit dieser Abstimmung und noch dazu ohne Lenkungsdämpfer sogar auf Holperpisten übelster Ordnung trotzdem ungeniert geradeaus rennt, verwundert und dürfte auch zum Gutteil auf das Konto der fein abgestimmten Federelemente gehen.
Preis und Gewicht
Oder gewinnen die Gewissensbisse über den Offroad-Abstecher emotional doch noch die Oberhand? Denn so sehr Arno uns auch zu dem Ausflug ins Grüne ermuntert hat, die Hemmschwelle, das hübsch zurechtgemachte Motorrad durch den Dreck zu ziehen, bleibt hoch. Allein die Lackierung des Serientanks, des Rahmens und der Kunststoffteile kostet 1.800 Euro, der Heckumbau mit den witzigen Miniblinkern fast einen Tausender. Und die Liste der Anbauteile ist beinahe so lang wie die Starterliste der Dakar. Kein Plätzchen, das nicht mit blitzsauber gefrästen, abgekanteten oder geschweißten Metall kaschiert, verziert oder geschützt werden könnte. Die Teile wringen den Sparstrumpf noch mal kräftig aus. Wer das All-inclusive-Paket des Demo-Bikes bucht, ist einschließlich Basismotorrad mit insgesamt 21.762 Euro dabei.
Eine Summe, die aufs Gewissen drückt. Mit spitzen Fingern dirigieren wir die Wunderlich über die ersten Meter des Feldwegs. Bloß nicht hinschmeißen. Und fassen dennoch in Rekordzeit Vertrauen. Der zusätzliche Druck auf dem Vorderrad lässt die Frontpartie förmlich in den Schotter beißen. Von Minute zu Minute wird man schneller. Wasserrinnen, Löcher – na und. Gabel und Monoshock lassen die Schläge irgendwo in ihren Federwegen verschwinden. Und der gute, alte luftgekühlte Boxer harmoniert perfekt mit diesem Fahrwerk. Unaufgeregt und souverän drückt der technisch unveränderte Flat Twin voran, überlässt das Zepter immer dem Piloten.
Dass die Wunderlich mit all ihrem Lametta zwölf Kilo draufgepackt hat und sie nun 237 Kilogramm wiegt, bleibt bei diesem überzeugenden Auftritt unbemerkt.
Vergleich zur Original-BMW
Und die original R nineT Urban G/S von BMW? Humpelt fast bedauernswert hinterher. Metallisch schlägt die Gabel bereits bei kleinen Wellen durch, und das Heck rüttelt kräftig am Piloten. Kaum zu glauben, dass die Federraten sowohl vorn als auch hinten mit denen der Wilbers-Teile übereinstimmen, der Komfort also ausschließlich aus den längeren Federwegen und der gekonnten Dämpfungsabstimmung resultiert. Letztlich gibt die im Stehen vergleichsweise tief gebückte Haltung dem Chauffeur der Serien-G/S den Rest. Nein, das Retro-Moped ist für den befestigten Teil dieser Welt gemacht. Und selbst dort kann sie der Wunderlich nicht das Wasser reichen.