Das mit der Leistung bei Motorrädern ist ja immer so eine Sache. Einerseits begegnet man an jedem Stammtisch, an jedem Treff und in jeder Zweiradgazette immer wieder den gleichen, vermeintlichen Dauerweisheiten. Von "Wo soll man das denn noch ausfahren?" über "Mehr Motorrad braucht doch kein Mensch!" bis hin zu "Das kriegt man doch ohne Elektronik gar nicht mehr auf die Straße!"
Andererseits zeigt jede hiesige Statistik recht anschaulich, dass dann doch ganz gerne weit oben ins Power-Regal gegriffen wird, und wer als Motorradbauer aktiv das PS-Wettrüsten ad acta legt, kann sich – je nach Marken-DNA – der Häme großer Teile unserer Szene gewiss sein. "Mit so wenig Leistung trauen die sich noch in die Showrooms?"
Ein Blick in die Vergangenheit
Wahrscheinlich ein ewiger Kreislauf. Um trotzdem ein Gefühl für Verhältnismäßigkeiten zu bekommen, lohnt sich wie so oft ein Blick in die nicht allzu ferne Vergangenheit. 2014: Hatte forgotten Hero No. 1, die Suzuki GSX-S 1000 , da schon einen fahrdynamisch ähnlich portionierten Vorfahren? Fehlanzeige, eine nackte Sport-1000er gab es damals gar nicht, nur die hubraumstärkere, leistungsschwächere und gewichtsreichere Bandit 1250 mit 98 Pferdchen. Und Hondas CB 1000 R , Heldin Nr. 2? Hatte zwar schon ein gleichnamiges Schwesterchen, aber 125 PS waren für die Vorzeige-Japaner damals das Höchste der Gefühle. Selbst bei den rennsportverstrahlten Italienern von Ducati, Lieferant unseres letzten Protagonisten namens Ducati Streetfighter V2 , gab es zwar eine Monster mit satten 1.198 Kubik, aber nicht mehr als 135 PS. Wer die 150 Pferde oder gar mehr wollte, wurde damals zwar auch schon fündig, musste aber tief ins Portemonnaie und hoch ins Regal greifen. Dort, wo die Modellnamen gerne mit verschiedenen Kombinationen der Buchstaben R und S geadelt werden.
150-PS-Veteranen stehen zwischen den Stühlen
Und heute? Steht man mit unseren 150-PS-Veteranen irgendwie zwischen den Stühlen. Die Klasse nackter Straßenmotorräder um 120 PS bietet mit niedrigem Gewicht, modernster Elektronik und enormer Motorenvielfalt oft genauso viel oder gar mehr Druck und Dynamik. Für meist weniger Geld. Und die mit allen Hightech-Tricks gewaschenen Hyper-Nakeds ab ca. 180 PS pulverisieren dann alles und jeden. Für deutlich mehr Geld. Gut, es sei denn vielleicht, man entscheidet sich für eine – sagen wir, äußerst selbstbewusst eingepreiste – Ducati Streetfighter V2. Aber wie dem auch sei, unsere letzten Zweirad-Mohikaner scheinen ein wenig auf verlorenem Posten, versuchen sich fürs schärfere Profil in elegante Effizienz oder dynamische Inbrunst zu retten. Mit Erfolg? Nun, Genussmomente abseits des Mainstreams bieten sie alle, so viel sei verraten. Und für jene, die es mit der Leistung zwar etwas lockerer, aber mit dem Geld umso ernster nehmen, haben wir zwei Alternativen im besten Alter aufgetrieben, die beiden Denkschulen mehr als gerecht werden. Und für die ein oder andere Überraschung sorgen …
Suzuki GSX-S 1000 mit fünfstufiger Traktionskontrolle
Apropos alte Formeln: Der runtergebüchste Superbike-Vierzylinder im Nippon-Nackedei ist ja quasi das Urmeter des Alltagssports auf zwei Rädern. Mächtig, ausgereift, mechanisch feingeistig. Aber irgendwie auch aus der Mode gekommen. Liegt mal an seinem nicht immer breitkreuzig-dramatisch wirkenden Wesen und mal an seiner bauartbedingt oft ausladenden Umgebung. Beides findet sich auch an unserem Japan-Duo, jedoch unterschiedlich verteilt.
Und augenscheinlich gut versteckt bei Suzukis Beitrag. Die Suzuki GSX-S 1000 ist mit all ihren Zacken und Kanten sowie dem extrovertierten Farb- und Oberflächenmix sichtlich um Modernität bemüht. Aber spätestens beim Aufsitzen doch reichlich 90er. Tief sinkt man ins Motorrad, breit werden die Beine vom mächtigen Tank gespreizt, vergleichsweise eng ist der Griff zum Lenker. Und dann dieses Cockpit: irgendwo zwischen Casio-Digitaluhr und Radiowecker, nur nicht so gut ablesbar. Zum Glück gibt es eh nicht viel einzustellen. Fünfstufige Traktionskontrolle, drei Power-Modi, fertig. Dazu ein Hinterreifen mit antiquiertem 50er-Querschnitt."Hallo, das letzte Jahrtausend hat gerade angerufen und will seine Naked Bikes zurück!" Aber früher war ja nicht alles schlecht. Und der selige K5-Gixxermotor schon gar nicht. Man mag der Suzi fast alles an Rückwärtsgewandtheit durchgehen lassen, sobald dieser Reaktor angelaufen ist.
Suzuki GSX-S 1000: feine Laufkultur und praller Sound
Praller Sound samt animierendem Airbox-Röhren, feine Laufkultur und so viel Tiefendruck, Band und Drehfreude, wie man nur in die vierzylindrige Literformel kippen kann. Dazu lässt sich sein üppiges Paket im Fahrmodus B zusammen mit der knackigen, aber etwas langwegigen Schaltbox der Suzuki GSX-S 1000 herrlich portionieren. Man merkt eindrücklich, warum der Reihenvierer Japan zur Motorrad-Supermacht geformt hat. Wenn man seine ganze Kraft dann auf die Straße bringen will, holt die Vergangenheit einen aber doch wieder schnell ein. Erdig und stabil geht die nackte Gixxe ums Eck und saugt sich schön in den Radius. Vom agilen Tanz auf einer eher hinten angesiedelten Rille, wo all die MTs und Dukes gerne mal verweilen, ist die große Blaue aber weit entfernt. Sie will mit strammer Hand geführt werden, wenn es flott gehen soll, strebt immer sanft, aber spürbar in die Vertikale zurück. Dazu wäre ein bisschen weniger Ambition im Federbein und etwas mehr in der Bremse ganz schön.
Honda CB 1000 R mit leichtgängiger Kupplung
Themen, die Nippons zweiten Kombattanten weniger tangieren. Aber eins nach dem anderen. Die Honda CB 1000 R ist in vielen Punkten eine Art Antithese zur Suzuki GSX-S 1000. Sie flirtet mit ihrem leicht retroesken, aber sich dezent aus dem Honda-Portfolio entschleichenden "Neo Sports Café"-Design viel offensichtlicher mit dem Gestern, gibt sich im Kern allerdings deutlich moderner. Spürbar kompaktere (aber nicht leichtere) Dimensionen, Hintern etwas hoch, Oberkörper etwas runter, und sogar für ein zeitgemäßes Cockpit mit KlickiBunti hat es gereicht. Hondatypisch leider sowohl etwas überfrachtet als auch sperrig in der Bedienung, aber der Wille ist ja da. Auch ein Druck aufs Knöpfchen stimmt zuversichtlich. Dezenter, jedoch ebenfalls füllig tönt es aus dem Doppellauf hinten rechts, und der Vierer läuft so seidig, als würden Milch und Honig statt Öl und Benzin durch seine Venen laufen.
An der äußerst leichtgängigen Kupplung gezogen, ersten Gang im schmatzigen, knackig-kurzwegigen Getriebe eingelegt und… überrascht. Zwar beherrscht der Ex-Fireblade-Antrieb das gesamte Reihenvierer-Schmuse-Skillset virtuos, aber Druck gibt es diesseits der 6.500 Touren nur spärlich. Darüber kommt zwar richtig Leben in die Bude (auch in Form von Vibrationen), das Niveau der Suzuki wird aber zuverlässig und amtlich umzirkelt. Das Chassis fängt einiges dieser Lethargie auf, lässt sich viel spielerischer von einer Schlagseite zur anderen werfen und fängt die zweitaktigen Kohlen auf der Bremse auch deutlich kraftvoller wieder ein. Vor allem hinten wird es aber schnell ein bisschen zu lebendig, das komfortable Federbein ist spürbar unterdämpft, und vorn geht dank der soften Abstimmung einiges an Präzision beim Kurvenstechen verloren.
Honda CB 1000 R: wirkt unentschlossen
Die etwas unwirsche Gasannahme (Tipp: Fahrmodus"Tour") macht es nicht leichter, wenn in Schräglage zum Beispiel ein bisschen Stützgas angelegt wird. Irgendwie wirkt die Honda CB 1000 R unentschlossen darin, was sie eigentlich sein will. Zu stark und nüchternfür ein Retrobike, zu komfortabel und druckarm für ein Power-Naked, zu spitz und quirlig für einen Tourer. Zweimal ein Mixed Bag also aus dem einst so dominierenden Japan in Sachen kraftvoller Naked Bikes. Gibt es denn keine Alternative, welche alle Stärken vereint, die Schwächen ignoriert und Fans der alten Formel sowie von Reihenmotoren zufriedenstellt? Nein, leider nicht. Aber eine mit viel verbindlicherem Wesen, reichlich Charme und erheblich geringerer Gage.
Triumph Speed Triple (2012) mit 135 PS
Mal wieder lohnt ein Blick in die Vergangenheit. Auftritt Triumph Speed Triple von 2012. Gut, der Liter Hubraum wird etwas über-, die 150 Pferde etwas unterschritten. Und Zylinder gibt es derer nur drei. Sehr egal, denn ihre 135 PS reichen locker, um das Japan-Duo jederzeit einzudosen. Zwischen 1.000 und 9.000 Touren klatscht es gewaltig. Keine Explosionsnester, keine ausufernde Drehfreude, nur ausgeprägter Abrissbirnenruck, verpackt in cremigstes Fauchen und Rotzen. Nein, handlicher als die Suzuki oder gar Honda ist dieser merkwürdig zusammengestauchte Klotz nicht. Eher im Gegenteil.
Aber dafür geht er richtig stabil ums Eck und dämpft zwar straff, doch ausgewogen zwischen Bug und Heck. Zudem sprechen die hochwertigen Federelemente echt fein an. Aber Speedy-Fahren ist nichtsdestotrotz aus heutiger Sicht mit etwas Arbeit verbunden. Die Kupplung ist mörderstramm, das Getriebe traditionell rustikal und die Gasannahme noch wirklich"snatchy", wie man in UK sagt. Versöhnliche E-Manipulation wie Quickshifter und Fahrmodi: Fehlanzeige. Es hat generell was davon, einen Bullen direkt an den Hörnern zu dirigieren. Nur mit deutlich mehr Sitzkomfort. Und weniger Lebensgefahr. Aufs emotionale Konto zahlt die knorrige Britin trotzdem ungleich mehr ein. Und schont gleichzeitig das finanzielle. Think about it …
Ducati Streetfighter V2
Da haben wir die Emotionskurve ja schon mal ganz gut angefüttert. Wer da aber wirklich große Töpfe zu füllen hat, landet in Sachen Zweirad gerne beim V-Motor und damit nicht selten in Italien. Und wenn auch noch ordentlich Adrenalin hinzukommen soll, sind die Worte Ducati und Streetfighter eine sichere Bank. Es gibt nicht mehr viele Motorräder, die ihre Heißspornigkeit so unverhohlen aus jeder Pore rauspressen. Optisch, ergonomisch, akustisch oder auch fahrdynamisch. Schon der "kleine" V2 passt optisch gerade noch so in dieses gedrungen-grimmige Motorrad, das vor Kraft kaum laufen zu können scheint. Passend dazu, wie verbindlich es einen bei der Ducati Streetfighter V2 ins Katapult spannt: hoher Sitz, hohe Rasten, tiefer wie breiter Lenker und vor einem nichts als der Horizont. Zündung. Trocken, hart und metallisch bollert es aus dem kurzen Abgas-Stummel. Und wirklich laut. Der Ton wird im wahrsten Sinne gesetzt bei der Ducati Streetfighter V2, aber ob dafür wirklich 102 Dezibel im Stand nötig sind? Wie dem auch sei, es geht intensiv aromatisch weiter. Positiv formuliert erlebt man noch klassische Sport-Ducati-Tugenden: Absurde Mengen an Abwärme, ein Motor, der unter 4.000 Umdrehungen höchstens eine Teilnehmerurkunde erruckelt, und ziemlich gefühlsechte Federelemente.
Ducati Streetfighter: agiles Handling, direkte Gasanahme
Aber das ist ja für Bolognaerfahrene bekanntlich nur eine Seite der Medaille. Für die andere heißt es Gas auf und … uppsi. Just, wenn der massiv aufgeputschte V2 nämlich beginnt rundzulaufen, plumpst man in ein amtliches Kraftloch zwischen etwa 4.500 und 7.000 Touren. Da geht schon noch was, aber der Punch passt nicht so ganz zum Auftritt der Ducati Streetfighter V2. Das haben wir irgendwie noch vage anders in Erinnerung, als die viel zitierten circa 150 PS aus circa einem Liter Hubraum bei Ducati noch für das absolute Flaggschiff im Hause reichten. Aber nun, eine 999 R durfte seinerzeit auch noch deutlich freier in die Umwelt blasen. Schade, denn das Umfeld des "Superquadro" steigert bereits seine Mitarbeit. Auch im Sport-Modus ist die Gasannahme direkt und fein, das Handling geradezu dreist agil, ohne es an Präzision und Stabilitätmissen zu lassen, Getriebe und Quickshifter agieren verbindlich, aber cremig, und die mächtige Bremse könnte bei bestem Hebelgefühl noch viel mehr Kraft bewältigen. Wie zum Beispiel jenseits von 7.000 Kurbelwellenrotationen. Dann gibt es 4.000 Umdrehungen fein laufender Inbrunst und Explosivität, die sich vom Chassis in mitreißende Fahrdynamik verwandeln lassen können. Berauschend. Enervierend. Aber für den Alltag vielleicht ein bisschen arg fordernd. Und nebenbei auch ein bisschen Hyper-Naked-teuer.
Aprilia Tuono V4 R (2014) mit satten 170 PS
Doch keine Sorge, auch italophilen Power-Fetischisten mit kleinerer Spielgeldbörse bieten sich hier Optionen. Wieder ist ein bisschen Flexibilität hinsichtlich der alten Formel nötig, aber die Zahlen schlagen eindeutig in die richtige Richtung aus. Exakte 1.000 Kubik, satte 170 PS und bestenfalls nur 7.000 gute Gründe sprechen für die Aprilia Tuono V4 R (2024)."Das Lieblingsmotorrad deines Lieblings-Motorradredakteurs", wie ein Kollege es mal treffend beschrieb. Mehr Superbike für die Straße gibt es schon seit 2002 nicht, und mit dem 1000er-V4 kam 2012 noch eine konkurrenzlose Megaportion MotoGP dazu. Die emotionale Wucht dieses Antriebs, gepaart mit der schieren Funktion von Chassis und Elektronik, ist schwer fassbar, und das galt und gilt selbst für unser zehn Jahre altes Test-Exemplar, das abseits eines kleinen Facelifts in 2014 noch die erste Evolutionsstufe der V4-Tuono darstellt. Wenn die Ducati sportlich und dynamisch ist, dann ist dieses Motorrad olympisch und ballistisch.
Aprilia Tuono V4 für 15.703 Euro
Ja, das ergonomische Dreieck ist noch extremer, die Sitzbank noch härter und das Fahrwerk noch straffer. Und doch wirkt die Aprilia Tuono V4 R als Gesamtkonzept harmonischer und nicht ganz so fordernd im Alltag. Ihre Sportlichkeit erscheint weniger aggressiv und gewollt als bei der Streetfighter, sondern mehr als souveränes Produkt ihrer Kernkompetenzen. Sie ist weniger handlich, bremst nicht ganz so souverän, und ihr Schaltautomat kann nur eine Richtung. Aber das waren auch schon die Nachteile. Chassis: bombenstabil und gleichzeitig so präzise, dass man einzelne Kieselsteinchen auf dem Asphalt jagen könnte, dazu feinstes Ansprechverhalten der Fahrwerkskomponenten. Elektronik: als APRC-Variante immer noch kompletter und feingeistiger als vieles von heute. Dazu drei Fahrmodi, die herrlich konsequent Sport (smooth), Race (direkt) und Track (digital) heißen. Motor: Stimmumfang wie Pavarotti, Timbre wie Cocker, Laufkultur wie ein Schweizer Uhrwerk, Kraft wie Schwarzenegger und Drehfreude wie ein Kreisel. Und Durst wie Juhnke … gut, doch noch ein Nachteil. Mit bestenfalls über 10.000 gesparten Euros in der Hinterhand sollte sich der aber eine ganze Weile verkraften lassen …