Mit der Aprilia Tuono 660 gibt es erstmals auch eine kleinere der feinst austarierten Portion Fahrdynamik-Donner auf zwei Rädern. Im Top-Test knöpften wir sie uns ausgiebig vor.
Mit der Aprilia Tuono 660 gibt es erstmals auch eine kleinere der feinst austarierten Portion Fahrdynamik-Donner auf zwei Rädern. Im Top-Test knöpften wir sie uns ausgiebig vor.
"Tuono" ist ein großer Name in der Motorradwelt, der allerdings auch mit großen Erwartungen verknüpft ist. Umso mehr, wenn die Portionsgröße wie bei der Aprilia Tuono 660 nun etwa halbiert wurde.Wobei es auf den ersten Blick gar nicht so aussieht, als wären bei der Tuono-Schrumpfung viele halbe Sachen gemacht worden. Man muss schon zweimal hinschauen, um die große von der kleinen Tuono zu unterscheiden, zumal die 1.100er fürs aktuelle Modelljahr ebenfalls die neue LED-Front spazieren fährt. Hier und da einen Tick kompakter dimensioniert, unsichtbare, aber nicht weniger eindrucksvolle 33 Kilogramm leichter und kaumweniger lautmalerisch designt. Selbst der Reihentwin wurde zwar halbiert – stellt er doch quasi die vordere Zylinderbank des berüchtigten V4 dar – aber dann nochmal per Extrahub auf 660 Kubik gebracht. Dazu eine Armada an Fahrelektronik, die jener der Ober-Tuono in fast nichts nachsteht. Und dann diese stiernackige Ergonomie: intimer Knieschluss, breiter Lenker, tiefer montiert als so manche Stummel der Konkurrenz, und Fußrasten, die im Vergleich zum zugrunde liegenden Sportler nur so weit in Richtung Komfort positioniert worden sind, dass man es gerade so erwähnen kann. Ganz wie die Große.
Aber dann gibt es ja noch den zweiten Blick. Und der registriert unweigerlich, dass von der gewohnten Verarbeitungs- und Materialgrandezza doch einiges dem Rotstift zum Opfer gefallen ist. Stichwort Rahmen- und Schwingenlack: sehr plastikös. Stichwort Dekor: teils lose. Stichwort Entgratung: mitunter grob. Die halben Sachen hätte man sich eher bei der Preispolitik gewünscht. Über 10.500 Euro sind eine Ansage für ein 95-PS-Motorrad, vor allem wenn für den Quickshifter und die Schräglagensensibilität erlaubende IMU-Einheit (beides serienmäßig beim sportlichen Schwestermodell RS 660) noch extra gezahlt werden muss. So aufmunitioniert stehen deutlich über 11.000 Euro auf der Rechnung für die Aprilia Tuono 660. Mehr als für die RS 660, was kurios ist. Auch mehr als für eine Street Triple R oder Z 900, was mutig ist. Und fast so viel wie für eine MT-09 SP oder 890 Duke R, was geradezu kühn ist. Nun, ich sprach ja bereits von hohen Erwartungen.
Echter Pansch ab 7.000/min
Erwartungen, die nur auf dem Asphalt erfüllt werden können. Und schnell vergessen sind, sobald der neue, zündversetzte Reihen-Twin angeworfen wird. In bester V2-Manier bellt es einen zuerst aus dem Hauch von Endrohr und mit zunehmendem Gasfluss aus der Airbox an. Vom tiefen Bollern über hartes Schmettern bis hin zu feistem Röhren reicht das Stimmchen und vereint so erlebnisfördernd akustische Qualitäten der V2- und V4-Ahnen, selbstredend immer einen Tick zu laut. Und viel leiser wird es nicht, denn einerseits animiert die sportliche Aprilia Tuono 660 zum beherzten Auswringen, andererseits ist dies aber auch bitter nötig. Der Motor lässt sich zwar früh ans Gas nehmen und läuft respektabel kultiviert, aber echten Punch gibt es unter 7.000 Touren nicht. Wer sich noch an die Donnervögel vor der 1.100er erinnert, weiß, dass auch die 660er sich damit in bester Tuono-Tradition befindet. Doch was unten abgeknapst wurde, findet sich obenrum umso mehr. Bis über 11.000 Umdrehungen lodert das Feuer und reißt einen erstaunlich garstig nach vorne. Unterbrochen nur von minimalen Verschnaufpausen beim automatisierten Hochschalten. Wer die Kupplung nutzt, sei es aus Gewohnheit oder Geiz bei der Bestellung, unterbricht den flotten Flow deutlich länger und muss auch mehr Kraft am Schaltfuß aufwenden. Kein Spaß ohne Gas ist die Message, die auch die kleinste Kraftrad-Tuono schon beim schieren Geradeaus-Gebolze unmissverständlich in Dauerschleife abschickt. So weit, so Tuono.
Dass sportlich aber nicht automatisch schmerzhaft heißt, beweist auch die Aprilia Tuono 660. Verbindlich und fordernd waren sie alle, doch die wirklich qualvollen Zeiten sind in der Casa Aprilia schon längst vorbei. Beispiel Fahrwerk. Wie zu erwarten, ist das Grundsetup eher sportlich, allerdings mit der italotypischen Note: vorne etwas softer, hinten etwas härter. Das lässt sich mit der einstellbaren Zugstufendämpfung jedoch gut harmonisieren. Das Ergebnis ist ein durchaus gefühlsechtes, aber immer noch angenehm ansprechendes Fahrverhalten. Das direkt angelenkte Federbein rumpelt dann jedoch nach wie vor ganz leicht über kurze Unebenheiten. Zur Einordnung: Die erst kürzlich getestete Triumph Trident 660 agiert hier deutlich gnadenloser.
Gasannahme und Mappings
Beispiel Gasannahme. Welches der drei Motormappings man auch wählt, die Befehle in den Maschinenraum gehen immer gleichbleibend sanft vonstatten, nur beim Gas-Schließen ruckelt es minimal. Ändern tut sich mit den Modi nur die Verzögerung, mit der ein Gasbefehl umgesetzt wird. Vielleicht ein kurzer Einschub zu den anderen Elektro-Gizmos an dieser Stelle. Motorbremse: vernachlässigbar, da kaum Unterschiede zu spüren. Wheeliekontrolle: ebenso vernachlässigbar, da die spitz motorisierte Tuono sich eh nur mit beherztem Gaseinsatz aufs Hinterrad reißen lässt. Traktionskontrolle: in acht Stufen fein justierbar und selbst in defensiveren Einstellungen nie aufdringlich. Wenn sie regelt, geht dies sehr sanft vonstatten. ABS: sportlich. Sehr sportlich. Nur im defensivsten Modus "3" bleibt das Hinterrad auch beim starken Bremsen zuverlässig auf dem Boden und wird früh am Vorderrad geregelt. Bedienung: Es wird besser. Es gibt nun einen eigenen Modusschalter, einen Vierwegeschalter und die Traktionskontrolle lässt sich auch beim Fahren einstellen. Aber nur im Race-Modus. Der nur im Stand vorgewählt werden kann. Und da wiederum nur im frei konfigurierbaren "Time Attack(!)"-Modus … Einschub Ende.
Beispiel Alltag. Winkelventile, integrierter Gepäckträger und ein bequemer Soziusplatz? Serienmäßig an dieser Tuono. Doch wer nun fürchtet, dass die kleine Tuono angesichts solcher Alltagsmeriten zum lediglich laut brüllenden Papiertiger mutiert ist, könnte falscher nicht liegen. Wechselt man von der schon ganz unterhaltsamen Längs- in die Querdynamik, kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus. Natürlich ist die Aprilia Tuono 660 mit knapp über 180 Kilogramm ein sehr bewegliches, wenn auch nicht überragend handliches Motorrad. Doch was sich viel eher mit Vehemenz in die Hirnrinde brennt, ist die Stabilität im Radius. Mit traumhafter Präzision lässt sich die gewünschte Linie wählen, anschließend mühelos in den Winkel bremsen und bis in allertiefste Schräglagen abklappen, um dann unbeirrbar stabil und mordsschnell durch die Kurve zu schneiden. Selbst ausgiebigste Turnereien, notwendige Linienkorrekturen oder plötzliche Griffe zur wirklich starken Bremse können diese Schienenfahrt kaum trüben. Zumindest wenn man nicht im ABS-Modus "2" unterwegs ist. Dort kann das ABS schon mal unerwartet und unwillkommen beim In-die-Kurve-Bremsen regeln, indem es die Bremse öffnet. Alltagsfahrer nutzen besser den defensiven, aber berechenbareren Modus "3". Geübte Sportfahrer Modus "1", in dem das ABS wirklich nur unmittelbar vor der Blockiergrenze und am Heck gar nicht regelt. Weil man so schön vorderradorientiert gebettet ist und die Gabel so schön transparent funkt, gibt es bei alledem noch eine satt eingeschenkte Portion Rückmeldung dazu.
Man wähnt sich nicht auf einem Naked Bike, sondern auf einem kleinen Sportler. Führt man sich die Geometrie vor Augen, ist man es auch fast. Kurzer Radstand, steile Gabel: Das findet sich so radikal selten auf einem Naked Bike. Aber eben häufig auf einer Aprilia Tuono. Da bleibt auch die kleine Ausgabe voll auf Familienlinie. Auch auf unseren Fahrdynamik-Parcours überrascht die Aprilia Tuono 660 mit ihren dynamischen Qualitäten. Auf beiden Slalom-Kursen kommt sie bedrohlich nah ran an eine deutlich stärkere und nicht gerade hüftlahme Triumph Street Triple R. Abseits der sportmotorrad- und damit tuonotypischen, nicht überhandlichen Auslegung liegt das vor allem an der spitzen Motorcharakteristik. Schnelles Anfahren und sattes Rauspfeffern nach den Umkehrpunkten sind nicht gerade die Stärke des drehzahlgierigen Twins. Es dauert einfach – auch in niedrigen Gängen – bis der Antrieb richtig Zug aufbaut. Wäre das anders, hätten Streety und damit auch viele Andere nichts mehr zu lachen.
Nahezu unendliche Schräglagenfreiheit
So wie auf der Kreisbahn, auch ganz ohne satten Mittendruck. Da fegt die Aprilia Tuono 660 mit ihrer unglaublich satten Kurvenlage und der nahezu unendlichen Schräglagenfreiheit die Triumph einfach weg. Umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass ihr straffes Fahrwerk die ausgeprägte Kante auf der Kreisbahn deutlich weniger souverän wegsteckt als jene Britin.
Doch auch das lässt sich lösen. Feinste Federbeinware von Öhlins? Gibt es natürlich im Werkszubehör. Genau wie die nicht weniger feine Komplettanlage von Akrapovic. Damit lassen sich dann vielleicht auch ein paar Zusatzcavalli in der Mitte finden. Wer dann noch das Schaltschema mittels des optionalen Quickshifters umkehrt, kann endgültig am Trackday auftrumpfen. Mangels Restgeld und Zulassung dann aber vielleicht auch nur noch dort.
Tuono bleibt Tuono – so emotionale Dynamik gab es noch nicht in dieser Klasse. Obwohl, welche Klasse eigentlich? Die Liste originärer 95-PS-A2-Bikes ist kurz und findet eher hochbeinig statt. MT-07 und Co. steckt die Aprilia Tuono 660 locker in die Tasche, flirtet in Vollausstattung preislich aber schon mit 890 Duke R und ähnlichen Kalibern. Dafür fehlen ihr jedoch mindestens 20 PS und 200 Kubik. Solvente Leichtbaufans und Nonkonformisten können trotzdem beherzt zugreifen.