In der Grünen Hölle trafen Aprilia Tuono V4 1100 Factory und Yamaha MT-10 aufeinander. Denn dort, auf der Nordschleife des Nürburgrings kann man Naked Bikes mit 160 PS und mehr richtig rannehmen, ohne gleich im Gefängnis zu landen.
In der Grünen Hölle trafen Aprilia Tuono V4 1100 Factory und Yamaha MT-10 aufeinander. Denn dort, auf der Nordschleife des Nürburgrings kann man Naked Bikes mit 160 PS und mehr richtig rannehmen, ohne gleich im Gefängnis zu landen.
Das nenn ich mal Glück. Mit Aprilia Tuono V4 1100 Factory und Yamaha MT-10 stehen zwei der schärfsten Klingen im Naked Bike-Segment zum Test bereit. Die Aprilia mit echtem 65-Grad-V4, die Yamaha mit Crossplane-Reihenvierzylinder mit 90 Grad Hubzapfenversatz, womit er in Sachen Zündfolge und vor allem Sound einen 90-Grad-V4 imitiert. Zwei Tage Nürburgring Nordschleife im Rahmen eines MOTORRAD action team-Events stehen auf dem Programm. Und die Wettervorhersage lässt frohlocken. Regenrisiko? Gleich null. Nordschleife also. Genau das richtige Terrain, um Straßenkämpfer, die in direkter Linie von Superbikes abstammen, auf den Zahn zu fühlen. Keine synthetische Rennstrecke mit glatt gebügeltem Asphalt. Und auch keine limitierte Landstraße, wo das Ausloten von Power und Fahrwerksreserven der beiden wohl schnell in Kernschrott oder lang anhaltender Fußgängerschaft münden würde. Die Nordschleife dagegen bildet die perfekte Schnittmenge.
Eine Asphaltdecke gespickt mit allem, was auch Landstraßen zu bieten haben. Nur viel schneller. Wellen, Kuppen, Belagwechsel. Uneinsehbare Ecken, Vollgaspassagen und Kompressionen, garniert mit harten Bremsecken und Rüttelplatten. Hier können sich Fahrwerke und Motoren der beiden austoben, hier dürfen sie ihre Muskeln spielen lassen. Doch darf man sich hier keine Unpässlichkeit leisten. Präzision und Stabilität sind gefordert. Behändes Reagieren auf Kurswechsel. Ein falscher Einlenkpunkt, eine falsche Linie können verheerende Folgen haben. Auslaufzonen sind Mangelware. Wie auf der Straße auch. Das nötige Rüstzeug bringen sowohl Aprilia Tuono V4 1100 Factory als auch Yamaha MT-10 mit: Fahrwerke, die schon in Superbikes ihre Renntauglichkeit bewiesen haben. Motoren, die gehen wie die Hölle. Das Konzept für beide ist gleich, die Zutaten auch. Und doch haben beide Hersteller daraus – nicht nur optisch – etwas recht Unterschiedliches komponiert. Zumindest den Sitzpositionen nach zu urteilen.
Die Aprilia Tuono V4 1100 Factory fühlt sich wie ein Rennbike an, dem man das Plastikkleid heruntergerissen hat. Die Rasten hoch, dazu ein straffes Sitzpolster. Der Oberkörper neigt sich nach vorne, damit die Arme die breite, tief und flach montierte Alu-Lenkstange greifen können. Dagegen logiert der Pilot auf der Yamaha regelrecht entspannt. Tiefer montierte Rasten gestatten einen lockeren Kniewinkel. Der in hohen Risern gelagerte Lenker reckt sich dem Fahrer entgegen, der mit aufrechtem Oberkörper den Lenker in Empfang nimmt. Der Tank wölbt sich kräftiger vor dem Fahrer in die Höhe und spreizt die Beine stärker. Das lässt die Yamaha MT-10 wuchtiger wirken. Die rote Ampel an der Einfahrt zur Strecke erlischt, die Strecke ist frei. Auf geht’s. Allerdings zunächst nur für eine Runde lockeres Einrollen. Übermut gleich in der ersten Runde kommt hier gar nicht gut. Ein sachter Vorderradrutscher mit der Aprilia auf den noch morgendlich kühlen Betonplatten des Streckenabschnitts Schwalbenschwanz bestätigt das. Doch nach einer Runde sind Mensch und Material auf Temperatur.
Also mit Schwung hinunter durch das Hatzenbach-Geschlängel. Die Aprilia Tuono V4 1100 Factory lenkt verführerisch leicht ein, zwirbelt sich im Nu durch die Kurvenfolge. Die Yamaha MT-10 meistert die Passage kaum weniger elegant. Über Flugplatz und Schwedenkreuz, einem der schnellsten Streckenabschnitte, lassen beide erstmals die Muskeln spielen. Noch mit leicht gebremstem Schaum zwar, aber schon hier zeigt sich die brutale Potenz der beiden Vierzylinder. Ruckzuck stehen 200 km/h auf der Uhr, geht es über eine kleine Kuppe. Dann kurzes, kräftiges Anbremsen und steil bergab in die Fuchsröhre, hinunter in die Senke, wo die Fahrwerke brutal zusammengestaucht werden. Aber beide meistern sowohl Schwedenkreuz als auch die üble Kompression in der Fuchsröhre mit knapp 220 km/h auf dem Tacho dank satter Dämpfungsreserven, ohne zu zucken. Im folgenden Kurvengewühl des Adenauer Forsts und auch in der bergab führenden Kallenhard-Kurve lenkt die Tuono einen Tick präziser.
Den Power-Abschnitt bergauf zum Kesselchen nehmen beide mit vollen Segeln. Herrlich das V4-artige Röhren der MT-10, kolossal das Brüllen des „echten“ V4 der Aprilia Tuono V4 1100 Factory. Lastwechsel gehören normalerweise nicht zu den Stärken der beiden, doch auf der schnell und flüssig zu fahrenden Nordschleife lässt es sich mit beiden gut leben. Mit einer Einschränkung. Die MT-10 bietet mit „Standard“, „A“ und „B“ drei Fahrmodi. Aggressiv, regelrecht bissig hängt sie im B-Modus am Gas. Ob die Entwickler sich damit schon einmal auf den Betonplatten der Steilkurve im Karussell haben durchschütteln lassen? Wohl kaum. Jedes kleine Zucken des rechten Handgelenks lässt die Yamaha MT-10 nach vorne schnappen. Viel besser gelingt die Karussell-Durchfahrt im A-Modus. Verblüffend, mit welcher Stabilität sowohl Tuono als auch Yamaha selbst schnelle, vertrackte und mit Wellen oder Kuppen gespickte Abschnitte wie Wippermann oder das Bergwerk nehmen. Enorm hoch die Fahrwerksqualitäten der beiden.
Allerdings absorbieren die Öhlins-Federelemente der Aprilia kleine Wellen und Kanten deutlich feiner als die Showa-Pendants der Yamaha. Deren Federbein reagiert auf Kanten – und davon gibt es hier einige – mit deutlicher Härte. Also flugs Boxenstopp, Highspeed-Druckstufe reduzieren. Die ist allerdings durch das Rahmenheck etwas verdeckt und etwas fummelig zugänglich. Und wo wir grad dabei sind, schließen wir auch noch die versteckt liegende Zugstufe hinten und reduzieren die Ausfederdämpfung vorne etwas, um die Nickbewegungen der Yamaha MT-10 beim Umlegen im Adenauer Forst einzudämmen. Aber auch das Einstellen der Zugstufe am Federbein der Aprilia Tuono V4 1100 Factory ist bei heißem Motor nur mit gelenkigen Fingern und hitzefesten Handschuhen ratsam.
Doch zurück auf die Strecke geht es nicht mehr. Leichter Regen kommt allen Vorhersagen zum Trotz auf. Für die Eifel gelten in puncto Wetter eben eigene Gesetze. Das bietet immerhin die Gelegenheit, der Yamaha MT-10 neue Bridgestone S 20 mit Sonderkennung „W“ aufzuschnallen. Ihre Pellen waren von verschiedenen Tests doch schon arg strapaziert. Vielleicht gewinnt sie damit den Tick an Lenkpräzision, der ihr zur frisch bereiften Aprilia Tuono V4 1100 Factory fehlte. Feierabend, einpacken für heute. Über Nacht noch mal die Linie im Geiste sacken lassen, Einlenkpunkte durchgehen.
Rrrring, der Wecker reißt mich am nächsten Morgen unsanft aus den Träumen, der Himmel ist blau, die Luft noch frisch und kühl von der Nacht, doch die Sonne steht bereits am Himmel. Die zwei Gesichter der Eifel. Raus aus dem Bett, kurzes Frühstück, rein ins Leder und ab zur Döttinger Höhe, zur Streckeneinfahrt. Nach der obligatorischen Aufwärmrunde wird das Tempo heute strammer. Jetzt können Motoren und Fahrwerke zeigen, was in ihnen steckt. Runde um Runde steigt das Tempo, und es ist erstaunlich, wie wacker sich die beiden Nackten schlagen. Vollgas mit furchteinflößendem Speed das Kesselchen hoch, treffen beide mit traumwandlerischer Sicherheit die Linie. Lassen sich auch bei höchstem Speed zentimetergenau dirigieren, wobei die Aprilia Tuono V4 1100 Factory bei hohem Tempo feiner auf Lenkkorrekturen reagiert. Die Yamaha MT-10 verlangt mit fünf Zentimeter kürzerem Radstand, steilerem Lenkkopf und kürzerem Nachlauf beim Tempobolzen mehr Einsatz am Lenker.
Die Aprilia Tuono V4 1100 Factory liegt satt wie ein Brett, auch auf den welligen Passagen, die Yamaha dagegen wirkt bei angezogenem Tempo in der Front schon ein wenig nervöser. Dass beide einen Lenkungsdämpfer tragen, ist gewiss kein Fehler. Fiese Kanten in großer Schräglage wie in der Doppelrechts nach dem Pflanzgarten parieren beide souverän. Die Gabel der Yamaha MT-10 spricht zwar fein an, das Federbein aber wirkt auf kurzen harten Stößen noch immer stuckerig. Die Öhlins-Dämpfer der Aprilia saugen Bodenwellen wie in der Kallenhard oder dem Wehrseifen förmlich auf.
Doch je mehr das Tempo anzieht, die Rundenzeiten in Richtung neun Minuten und darunter fallen, desto mehr kann sich die Italienerin in Szene setzen, werden die Unterschiede sichtbar. Denn auch mit frischen Gummis kommt die Yamaha MT-10 bei scharfem Tempo nicht an die Präzision heran, mit der die Aprilia Tuono V4 1100 Factory in Kurven sticht. Besonders in heiklen Kurven, in denen viel Druck auf der Front lastet – wie in der bergab fallenden Kallenhard –, fehlt dazu das letzte Quäntchen Transparenz. Zumal die Bremsen nicht sonderlich bissig und mit etwas verwaschenem Druckpunkt agieren.
Knackiger, präziser, auf den Punkt biegt dagegen die Aprilia Tuono V4 1100 Factory ab. Ihre Bremsen packen spontaner, kräftiger und besser dosierbar zu. Die aktivere, nach vorne gebeugte Sitzposition sorgt für mehr Druck auf dem Vorderrad und liefert die klarere Rückmeldung. Das sorgt für Vertrauen, um tief in den Scheitel hineinzubremsen und Meter gutzumachen. So zirkelt die mit Pirelli Supercorsa SP besohlte Aprilia rasiermesserscharf auf einer engen Linie ums Eck, wo die Yamaha MT-10 tendenziell einen etwas weiteren Bogen schlägt.
Aber die Yamaha MT-10 hat noch einen Pfeil im Köcher, den sie auf den Power-Abschnitten auspackt: ihren gierig drehenden Crossplane-Vierzylinder. Sein gezügeltes Temperament unter 6000/min ist hier nebensächlich. Ab 7000/min brennt die Luft, feuert er die MT fulminant durch den Niki-Lauda-Knick am Bergwerk und anschließend das Kesselchen hinauf. Stellt die MT mit seiner Gewalt auf jeder Kuppe aufs Hinterrad. Doch die Aprilia Tuono V4 1100 Factory weiß zu kontern.
Ihr 1100er packt auch aus engen Ecken wie der Ex-Mühle und dem Bergwerg kraftvoller zu. Die in acht Stufen vom Lenker aus justierbare Traktionskontrolle der Aprilia Tuono V4 1100 Factory arbeitet feiner als die dreistufige der Yamaha MT-10. So kommt sie mit mehr Schub auf das knapp zwei Kilometer lange Bergaufstück zur Klostertal-Kehre und dem Karussell. Dreht noch vehementer in fünfstellige Bereiche, zerrt mit einem Affenzahn die Nadel des Drehzahlmessers übers weiße Ziffernblatt und tobt ungestüm den Hang hinauf.
Die Wheelie-Kontrolle hält das Vorderrad auf den kleinen Kuppen fein regelnd am Boden. Dank Schaltautomaten – bei ihr Serie, bei der Yamaha nur als Zubehör erhältlich – reiht sich nahtlos Gang an Gang und legt die Aprilia Tuono V4 1100 Factory Meter um Meter zwischen sich und die Yamaha MT-10. Ihrem Versuch, in Kurven verlorenes Terrain wiedergutzumachen, setzen die früh aufsetzenden Rasten Grenzen. So muss sie die Aprilia ziehen lassen, die auf diesem Parkett klar die Oberhand behält.
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Die Yamaha MT-10 ist ein tolles Landstraßen-Motorrad. Entspannte Sitzposition, stabiles Fahrwerk, feuriger Motor, feiner Sound. Doch auf einer Strecke wie der Nordschleife, wo die Grenzen zwischen Landstraße und Rennstrecke verschwimmen, ist die Aprilia Tuono V4 1100 Factory eine Macht. Stabiler, präziser, druckvoller. Mit mehr Schräglagenfreiheit und den besseren Bremsen gibt sie hier klar den Ton an, bietet mehr Fahrspaß und die wertigere Verarbeitung. Wenngleich zu deutlich höherem Preis.