Aprilia Tuono V4 1100 Factory und Yamaha MT-10 SP im Vergleichstest
Duell der Power-Naked-Bikes

Aprilias Tuono V4 1100 trägt das Grollen schon im Namen, Yamahas MT-10 entspringt direkt der dunklen Seite ihres Heimatlands. In den edlen Versionen Aprilia Tuono V4 1000 Factory und Yamaha MT-10 SP stellen sich die beiden Naked-Bikes dem Schlagabtausch.

Duell der Power-Naked-Bikes
Foto: Foto: www.factstudio.de

Aprilia hat es 2003 vorexerziert: Warum nicht für Freunde breiter Lenkstangen einfach den gängigen Supersportler des Hauses strippen? Das Erfolgsmodell Tuono gibt es seitdem ununterbrochen im Programm, nur dass wie beim Racebike aus dem ehemaligen V2-Rotax-Motor mittlerweile ein V4-Herz geworden ist. Das darf sich, da nicht für die Superbike-WM relevant, über 1077 Kubikzentimeter freuen, liegt über dem Liter des sportlichen Ablegers.

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Ansonsten sind die beiden eng verwandt, das zeigt der Blick in die Liste der Assistenzsysteme. Extras hat die Tuono in der edlen Factory-Version keine mehr nötig. Eine Traktionskontrolle gehört dazu, eine Wheelie- und Launch-Kontrolle ebenso, dazu kommen noch ein Quickshifter mit Blipperfunktion, ein Pit-Limiter sowie ein Tempomat. Zudem umfasst die Serienausstattung mehrere Motormappings, ein Kurven-ABS, ein TFT-Display. Nach oben abgerundet wird die Liste durch ein komplett einstellbares Öhlins-Fahrwerk, das nur der Factory-Variante vorbehalten ist.

Womit jetzt die Yamaha in den Fokus rückt. Schließlich ziert die SP-Version im Gegensatz zur herkömmlichen Schwester ebenfalls ein Fahrwerk aus Schweden. Das arbeitet sogar semi­aktiv, nutzt Infos, die in der ECU zusammenlaufen, um die Dämpfung während der Fahrt anzupassen. Ein weiterer Unterschied zur normalen MT-10 ist das TFT-Cockpit. Motormappings, Traktionskontrolle, Tempomat und ABS gehören auch bei ihr zum ­guten Ton.

Video zum Vergleich der Power-Naked-Bikes:

Zündung an: Das wahlweise im Rennsport- oder Normal-Modus anzeigende Cockpit der Aprilia fährt hoch. Ein kurzer Check der Bordsysteme folgt. Der Daumen drückt den Anlasser, der V4 erwacht wie ein Drache, den man aus seinem Mittagsschlaf geweckt hat. Hart und rau pulsiert der 65-Grad-V4 schon im Stand, gibt sich in Sachen Lautstärke noch relativ sozial verträglich. Smooth finden die Gänge zueinander, die Landstraße ruft. Kaum liegt das Ortsschild hinter den Diablo Supercorsa SP der Factory, wird aus dem schlafenden Vulkan unter dir ein vor Energie speiendes Ungetüm. Schon ab niedrigen Drehzahlen schiebt die Factory voran wie nichts Vergleichbares, animiert mit ihrem emotionalen Donner aus Airbox und Auspuff, das Gas immer noch ein wenig länger stehen zu lassen, stichelt in jedem Moment der Zweierbeziehung aus Fahrer und Motorrad gnadenlos, will immer getrieben werden, treibt immer an. Aus niedrigen Drehzahlen werden mittlere, werden hohe, Schub und Motorfeuer kennen erst jenseits von 11000/min ein Ende, und dann wurde der maximale Output von 175 Pferdestärken schon passiert.

Langsam zu rollen will mit der Tuono Factory nur schwerlich gelingen. Was mit am hervorragenden Fahrwerk liegt. Sind die Reifen auf Temperatur, liefert es unerschütterliche Stabilität, ohne jemals ins Unhandliche abzufallen. Ganz im Gegenteil. Die Factory biegt locker, mit satter Straßenlage, in jeden Kurvenradius, selbst Bremsen in Schräglage meistert sie ohne Aufstellmoment. Wobei die Bremsen noch herausgehoben werden müssen.

Bis zum letzten Jahrgang gab es einige Kritik für sie. Die Kombination aus normaler Handpumpe und etwas stumpfen Belägen war nicht glücklich gewählt. Aprilia hat reagiert. Die Hand greift nun zu feinster Brembo-Radialware, die M50-Zangen aus gleichem Haus beißen in pizzagroße, 330 Millimeter messende Scheiben. Und die Kombination ist wirklich richtig gut. Weil sie sich haarfein dosieren lässt, weil das ABS, in drei Stufen einstellbar, zusammen mit der Abhebeerkennung fürs Hinterrad ohne Fehl und Tadel funktioniert. Besser geht es nicht mehr – egal, ob ein Novize oder ein Könner am Hebel zieht. Der muss sich nur klar sein: Bei der Aprilia liegt der Fokus klar auf Racing, nicht beim Reisen. Wer das akzeptiert, führt einen der erregendsten Zweiradhobel spazieren, der Herz und Seele mit jedem Meter mehr gefangen nimmt.

Und die Yamaha? Besitzt zweifellos auch einen der betörendsten Vierzylinder im Naked Bike-Bereich. Ihr Inline-Four mimt dank Hubzapfenversatz einen V4. Und das richtig gut. Im unteren Drehzahlband knurrt er zwar noch gemächlich vor sich hin, aber so ab etwa 6000 bis 7000 Umdrehungen wandelt sich sein Charakter. Dann wird aus starkem Vortrieb eine richtige Rakete, mit einem Sound, der die Nackenhaare aufstellt. 160 PS bei 11500/min sind ein Wort. Das untermauern die Beschleunigungs- und Durchzugswerte. Zwar liegen sie über denen der Tuono, für sich genommen sind sie aber aller Ehren wert. Wie bei Aprilia basiert auch die MT-10 in ihren Grundzügen auf einem Supersportler, der R1. Nur geht sie die ganze Sache nicht so radikal an wie die Tuono. Emotion kann auch Genießen bedeuten. Ohne langsam zu sein, freilich.

Ein gutes Beispiel hierfür ist das fast schon touristische Platzangebot. Die MT-10 SP bettet den Fahrer wie in Abrahams Schoß, ihr großes Sitzpolster punktet mit Bequemlichkeit und Komfort. In die gleiche Richtung zielt das Fahrwerk. Die beiden semiaktiven Modi sowie die drei manuellen Grundeinstellungen lassen sich jeweils in 32 Stufen für die Druck- und Zugstufe von Gabel und Dämpfer justieren. Hohe Zahlen bedeuten dabei eine weiche, kommode Auswahl, niedrigere verhärten das Fahrwerk spürbar. Gegenüber der normalen MT-10 ist das ein deutlicher Zugewinn. Der dadurch noch zunimmt, dass man in Fahrt beliebig zwischen den voreingestellten Fahrwerksmodi wechseln kann. Kommt eine Holperpiste ins Visier, ­einfach eine weichere Einstellung wählen und lässig drübergleiten, soll’s flott über glatten Asphalt gegen, ist im Nu eine sportliche Wahl getroffen. Das funktioniert einwandfrei. ­Wobei die Yamaha Handlichkeit und Stabilität gelungen zu kombinieren weiß. Sie ist damit gut gerüstet für alle Anforderungen von Alltag bis hin zur knackigen Runde am Sonntagmorgen.

Bei allem Licht ist aber auch Schatten zu finden. Nicht beim Fahrwerk, bei den Bremsen schon ein wenig. Die MT-10 SP stoppt noch per herkömmlicher Pumpe, zudem regelt ihr ABS etwas grob, gerade bei Unebenheiten tendiert sie schon mal zum Stoppie-Handstand. Was sie daneben noch nicht mag, ist Bremsen in Kurven. Spontan will sich die MT-10 SP aufstellen, die Bridgestone S20 in Sonderspezifikation "W" gehen sofort in den Geradeauslauf über.

Daneben gefällt ihr Quickshifter, die Gangwechsel gehen ­allerdings etwas grob und harsch über die Bühne. Und die Kupplung dürfte sich ruhig feiner dosieren lassen, der Druckpunkt kommt spät, der Schleifpunkt fällt nicht üppig aus. Trotz der drei Powermodi für den Motor mit unterschiedlichem Ansprechverhalten sind – wie bei der Aprilia  – Lastwechsel zu spüren, besonders dann, wenn das Gas ­geschlossen wird. Ansonsten gibt sich der Antrieb umgänglich, wirft keine Fragen auf. Das größte Pfund der Yamaha bleibt aber ihr Fahrwerk. Die vielfältigen Einstellmöglichkeiten erlauben einen breiten Spagat zwischen hart und weich, sind ein echter Komfortgewinn. Den man allerdings nicht lange am Stück genießen kann, weil die Tankuhr schon wieder zum Nachfüllen bittet. 6,5 Liter Verbrauch auf der gemäßigten 100-Kilometer-Runde: Das ist üppig.

Kann ich aber auch, denkt sich die Aprilia, welche auf der gleichen Distanz ebenso viel Benzin schluckt. Das bleibt aber nicht der einzige Schatten, der sich in den Vordergrund drängt. Was der Tuono am meisten zu schaffen macht, ist ihre Radikalität. Sie ist auf pures Schnellfahren ausgelegt. Nur dann stimmen die Unterbrecherzeiten des Blippers, die sonst ungewohnt lang ausfallen, dann passt die harte Abstimmung ihres Fahrwerks, das über Reserven en masse verfügt. Nur wenn die Supercorsa noch kalt sind und die Drosselklappen mal nicht in permanenter Offenstellung Dienst tun, sind die Grenzen der Radikalität schnell aufgezählt. Unebenheiten werden eher überfahren als ausgebügelt, das Kreuz und die Hände am tiefen, wenig gekröpften Lenker, über jeden Absatz im Straßenbild genau informiert. Hinzu kommt noch die für ein Naked-Bike sehr knackige Sitzposition. Der Abstand zwischen Bank und Rasten fällt überaus sportlich aus, gerade Langen fehlt Bewegungsfreiheit. Und zu guter Letzt ist da noch der Sound: Natürlich kitzelt der jede Faser des Körpers. Aber die Tuono bellt ab 5000/min quasi ungedämpft. Dann wird im Schalldämpfer per Klappe auf freien Durchzug geschaltet. Was daran besonders stört: Von diesem Sound-Feuerwerk bekommt der Pilot zwar viel mit, die Umwelt aber noch mehr. Die Tuono ist einfach zu laut, wenngleich genau so zugelassen.

Bald öffnet sich die Herzblatt-Tür, wer darf es dann sein: Donnervogel oder dunkler Japaner? Wenn das Motorradfahrerleben auf einer 100-Prozent-Skala dargestellt werden könnte, bei der Alltag und Nutzen ganz unten, Top-Sportlichkeit ganz oben angesiedelt sind, erfüllt die Factory alles, was zwischen 40 und 100 Prozent liegt. Trotz gegenüber dem Vorgänger gesitteteren Umgangsformen, wie beispielsweise dem klar sanfteren Ansprechverhalten in allen Motor-Mappings: Ihre Welt heißt Vollgas. Das kann sie betörend, fast schon unvergleichlich gut. Die Yamaha wäre, wenn es drauf ankommt, das langsamere Motorrad. Aber dafür müsste es auf dem Track schon richtig rundgehen. Ihr Motor macht an, sie rümpf aber vor so profanen Anforderungen wie Alltag nicht ihre moderne Nase, wäre ein Null- bis 95-Prozent-Zweirad. Und falls noch eine Entscheidungshilfe gefordert ist: Die Tuono als Factory kostet satte 18490 Euro, die MT-10 SP ist mit 16790 Euro 1700 Euro günstiger. Donner und Dunkelheit fürs Bankkonto gibt es auf jeden Fall, egal, wie die Wahl ausfällt.

MOTORRAD-Testergebnis

1. Aprilia Tuono V4 1100 Factory

Italien schlägt Japan. Die Schwächen der Vorgängerin wie die maue Bremse sind ausgebügelt, der Charakter weiter geschärft, und der heißt eindeutig Racing, ohne Wenn und Aber.

2. Yamaha MT-10 SP

Das semiaktive Fahrwerk der SP ist ein Gewinn gegenüber der normalen MT-10. Auch sonst schlägt sich die Nackte gut, zu wenig Punkte bei Zuladung, ABS und Bremsen kosten aber den Sieg.

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MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023