Der 11er-Thunfisch mit dem Knaller-V4 ist in die PS-Redaktion gefahren wie seinerzeit Marilyn ins Weiße Haus. Wir lagen alle flach und hatten Schnappatmung. 2017 schiebt Aprilia eine Euro 4-Version der Aprilia Tuono V4 1100 RR an den Start.
Der 11er-Thunfisch mit dem Knaller-V4 ist in die PS-Redaktion gefahren wie seinerzeit Marilyn ins Weiße Haus. Wir lagen alle flach und hatten Schnappatmung. 2017 schiebt Aprilia eine Euro 4-Version der Aprilia Tuono V4 1100 RR an den Start.
Der charismatisch röhrende V4 machte so unerhört viel Druck im Pannonischen Meer, dass die Front auf der kleinen, in Richtung Hauskurve abfallenden Kuppe in den Himmel drängte. Nicht hysterisch, panisch oder hektisch abrupt, sondern einfach wie durch einen gewaltigen, scheinbar unbremsbaren Sog. Göttlich! Es war wie damals, als die vollgepackte 1200er- XJR mit Remus-Auspuff und Jet-Kit samt Blume hintendrauf in die Galerie stieg, als ich am Weg in den Süden auf dem Beschleunigungsstreifen den Einser ausdrehte. Ich wollte mich noch vor dem forsch heranbrausenden Lkw einordnen. Bei 7.000/min trafen sich dann Drehmoment und Leistung des gewaltigen Reihenviererblocks, und die Fuhre hob den physikalischen Gesetzen folgend kraftvoll ab. War schon sehr beeindruckend. Werde ich nicht vergessen. Und den von Entsetzen und Empörung geführten, dumpfen Schlag der blumschen Faust am Hinterkopf auch nicht. Herrlich, diese Anteilnahme!
Nun, die locker lässige, vollkommen unaufgeregte Art des Aufstiegs war der des Thunfischs (ja, ja, ich weiß schon: Tuono heißt Donner) auf der Kuppe sehr ähnlich, aber das war’s dann auch schon mit den Parallelen. Denn während die XJR im Solobetrieb ohne Heckbeladung von sich aus nur mit großer Mühe und heftigem Kupplungseinsatz in die Galerie zu heben war, hat die nackte Aprilia Tuono V4 1100 RR eine unfassbare Wheelie-Gier. Der laut PS-Prüfstand 172 PS starke V4 reißt den vollgetankt 214 Kilo leichten Thunfisch mit dem Superbike-Radstand (1.445 mm) und der geraden Lenkstange mehr oder weniger immer und überall in Richtung Himmel – wenn man die Elektronik deaktiviert. Was ich aber bei meiner ersten, eingangs erwähnten Flugstunde in Pannonien natürlich nicht gemacht hatte. Keine Frage, ein Meister der Lüfte wie der scheinbar gravitationslose Kollege Jacko, der in der Galerie dermaßen beheimatet ist, dass er auf die Sitzbank steigt, sich auf den Tank setzt und sich überhaupt aufführt, als wäre das Hinterradfahren nicht schwieriger als Speckschneiden, wird die präzise und perfekt einstellbare Wheelie-Control ganz normal ausschalten – ich aber nicht. Überschläge brauche ich wie einen Kropf, wie man so sagt. Und jenseits der 150 km/h sowieso. Will mir gar nicht vorstellen, wie weit das edle Zeug dann fliegt und wie wenig davon übrig bleibt. Du humpelst voll desolat wie Quasimodo nach einem Brand im Glockenturm zurück in die Box, legst den verbogenen Lenker auf die Werkzeugkiste und sagst dem Mechaniker lapidar: „Der Rest liegt irgendwo draußen. Den Motor müsstest du eigentlich noch finden.“
Als konservativer und gesundheitsorientierter Bursche hatte ich die Wheelie-Control auf Stufe eins gestellt. Eigentlich hätte ich auch ohne das Lesen der mörderdicken Bedienungsanleitung wissen müssen, dass analog zur Traktionskontrolle die Stufe eins der Aprilia Tuono V4 1100 RR am meisten Freiheiten gewährt und also sehr spät eingreift. Aber ich ging irrigerweise davon aus, dass eins am meisten regelt und drei am wenigsten. Ja, und ergo hob der Thunfisch auf der Kuppe brachial ab. Zur Hölle, was für ein Raubtier! Als ich den Ausgang der vorhergehenden Linkskurve einigermaßen hinter mir hatte, legte ich mittels Schaltautomat bei vollem Zug den Vierer nach, achtete noch darauf, dass ich ohne Schräglage zur Kuppe kam, und dann stieg das Viech einfach auf.
Wow, was für eine unbändige Kraft, was für ein göttlicher Motor! Ich war so beeindruckt und überrascht, dass ich intuitiv in den Modus der Passivität wechselte. Ich veränderte weder Körperhaltung noch Gasgriffstellung, nahm also die Passagierhaltung ein und ließ der Aprilia Tuono V4 1100 RR freien Lauf. Nur nicht eingreifen, keinesfalls den Thunfisch in seinem natürlichen Bestreben, innerhalb der physikalischen Grenzen zu bleiben, behindern! Na bumm, die Elektronik ließ aber schon einen erheblichen Hochstand zu. Doch der Thunfisch wand sich nicht. Weder seitlich, noch vertikal. Da gab es kein Zucken auf der Suche nach Sauerstoff. Alles voll geschmeidig. Und nach geschätzten 50 Metern setzte das Vorderrad wieder auf. Ganz sanft. Ein Wahnsinn! Eine derart ruckfreie und im Sinne der Dynamik übergangslose Landung hätte ich selbst niemals zustande gebracht.
In der Box sinnierte ich gerade über die irre Aprilia-Elektronik (Traction- und Wheelie-Control sind unabhängig voneinander konfigurierbar, neue Reifen können einfach kalibriert werden, Launch-Control, ABS mehrstufig …), als sich Graf Seitzmo via Satellit zuschaltete: „Zonko, wir brauchen dringend den Text für die Attacke. Im Layout kocht es schon gewaltig. Die sind kurz davor, auszurasten.“ Hmm. Freddie Spencers RC 30. Spät dran. Eh klar. Nachtschicht. „Morgen früh, ehe die Werkssirene dröhnt“, posaunte ich, „ist der Text in Stuttgart. Aber jetzt muss ich noch mit der Abrülla kämpfen. Habe die Ehre, Graf, der Thunfisch richtet mich mörder her. Was für ein Räuber. Trotz Wheelie-Control war nach der Kuppe Flugrevue de luxe angesagt. Bin noch sehr aufgeregt, es reißt mich fast. Also, die Finger würden im Moment hundertpro nicht auf den richtigen Buchstaben landen. Aber dafür kann ich ganz klar sagen, dass die Aprilia Tuono V4 1100 RR das beste Serienmotorrad ist, das ich je hatte.“
Graf Seitzmo stutzte: „Bis morgen früh kann ich die Grafik wohl noch irgendwie hinhalten, aber bei allem Verständnis für deinen euphorischen Zustand – ich würde jetzt auch lieber auf der Renne im Sonnenlicht Feuer geben als mich im Untertagbau durch die Schlussproduktion zu graben –, warum ist die Aprilia Tuono V4 1100 RR für dich das Beste? Sicher, das Ding ist ein Knaller, ein wirklich fantastisches Naked, das wir dieses Jahr zum Landstraßenfeger Nummer eins erkoren haben, aber was ist mit der Rennstrecke? Allein schon wegen der etwas fraglichen Bremse. Und das Sachs-Fahrwerk geht da auch bald in die Knie, hättest lieber die Factory nehmen sollen.“
Ich musste relativieren: „Keine Frage, zum Rennfahren ist ein moderner 1000er-Supersportler natürlich effektiver, aber im Sinne des Universaleinsatzes ist der Thunfisch so doch unschlagbar. Ich bin damit nicht nur bei Trackdays, sondern auch auf der Landstraße und mit kleineren Abstrichen sogar in der Stadt bestens bestückt. Die Aprilia Tuono V4 1100 RR kann das alles auf sehr hohem Niveau. Für echt sportlich ambitionierte Typen spielt sie fast in einer eigenen Liga. Ich kenne keine Serienmaschine, die mein gesamtes Einsatzspektrum besser abdeckt. Ein göttlicher Allesfresser. Nur Dreck mag sie nicht. Das passt perfekt. Denn Offroad steht bei mir genauso hoch im Kurs wie Migräne oder Männergrippe. Brauche ich nicht, danke.
Und, weil du die Bremse und die Sachs-Komponenten ansprichst, schneller Seitzmo, für meine Bedürfnisse ist beides absolut ausreichend. Nachdem ich dann doch einen Blick in die Bedienungsanleitung der Aprilia Tuono V4 1100 RR geworfen habe, fand ich ein eigenes Setup für die Renne. Also eine voll detaillierte Werksangabe, wie die Sachs-Komponenten ideal abzustimmen sind. Passt! Und die Bremse ist zwar nicht die schärfste, aber schön zu dosieren und sehr berechenbar. Damit komme ich auch am Track sehr gut zurecht. Du weißt ja, ich bin nicht wahnsinnig schnell, aber dafür wahnsinnig fesch.“
Irgendwie fürchtete ich, dass die Aprilia Tuono V4 1100 RR die harsche Euro 4-Hürde nicht nehmen könnte. Der Sound des 2016er-V4 aus dem Serienpuffer ist so unfassbar schön, voluminös und begeisternd derb, dass ich keine Sekunde lang darüber nachdachte, einen anderen Endtopf zu montieren. Es ist der verheißungsvolle Klang einer Sportmaschine, die voll im Futter steht. Unpackbar großartig. Kollege Jacko mit den feinen Ohren eines Kapellmeisters kritisierte beim letzten Test die Klangwolke der nackten Abrülla als etwas zu wuchtig, für mich aber ist dieser volle, heiser brodelnde Sound das Beste vom Besten, das es legal zu kaufen gibt
Auf der INTERMOT wurde jetzt aber klar, dass sich auch die Italiener der strengeren Euro 4-Norm beugen und der Aprilia Tuono V4 1100 RR einen größeren Schalldämpfer verpassen. Wird also leiser sein. Wobei es schon auch eine leichte Hoffnung gibt, dass der dickere Puffer nur ein Fake ist. Es gab genügend Experten, die auch den 2016er-Thunfisch als Meisterleistung der Nichteinhaltung gesetzlich vorgeschriebener Geräuschlimits beurteilten.
Jedenfalls bleiben die vollen 175 PS (Werksangabe), 2017 greift der Limiter 500/min später ein. Die dramatischste Änderung betrifft die Bremse. Da wird der tobende Sir Tobi, der seinen privaten 1000er-V4-Thunfisch nicht nur beim Fischereihafenrennen auf der letzten Rille abfeuert (und mitunter auch darüber hinaus), doch schwer ins Grübeln kommen und im Ringen mit der Sehnsucht und dem Kontostand laut „Casalla!“ brüllen. 2017 bekommt die Aprilia Tuono V4 1100 RR nämlich nicht nur die 330-mm-Doppelscheiben von der RSV4 RR, sondern auch ein dreistufiges Bosch-Kurven-ABS, also die Crème-de-la-Crème des Ankerwurfs. Und was uns alle vor Gier in die Tischplatte beißen lässt, ist der neue Schaltautomat mit Blipperfunktion. Schon bisher waren die butterweichen, nahezu unterbrechungslosen Schaltvorgänge mit dem bärenstarken Thunfisch einfach der Wahnsinn – und jetzt kommt auch noch das vollautomatische Runterkicken dazu. Himmel, lass es Frühjahr werden!
Pit-Lane-Limiter, Cruise-Control und die Option, die Wheelie-Control in voller Fahrt zu verstellen (wie schon bisher die Traction-Control), sind weitere Goodies, die die Aprilia Tuono V4 1100 RR auf eine neue Stufe stellen werden. Das ist auch notwendig, denn BMW und KTM werden geschärfte Nackt-Raketen in die Euro 4-Zone schieben und Yamahas MT-10 SP wird sicher nicht freiwillig klein beigeben. Wow, das wird ein Vergleichstest der Extraklasse! 2017 wird es Granada spielen. Aber so richtig. Ich habe mir schon überlegt, etwas für meine Fitness zu tun, um den Granaten die Stirn bieten zu können, aber nachdem ich Sir Tobis letzten Bericht über seinen Einsatz beim R6-Cup gelesen habe, lasse ich das. Die Fitness wird überwertet. Die Geräte haben dermaßen viel Leistung, dass sie mich locker in die Umlaufbahn schießen, auch wenn ich nach dem nahrungsreichen Winter zehn Kilo zu viel auf den Rippen haben werde. Was für ein großartiger Ausblick auf die nahe Zunkunft!
Aprilia Tuono V4 1100 RR (2017)
Antrieb
Chassis und bremsen
Max. Hinterradleistung**
Beschleunigung**
Durchzug**
Höchstgeschwindigkeit*
Gewicht
Setup Gabel
Setup Federbein
Preis
alle Dämpfungseinstellungen von komplett geschlossen gezählt; statischer negativer Federweg senkrecht stehend ohne Fahrer; U=Umdrehungen; K=Klicks * Herstellerangabe ** PS-Messung
Wenn ich über die Aprilia V4 1100 Tuono RR nachdenke, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass sie für mich die beste Serienmaschine ist, die ich je hatte. Bärenstark, top Fahrwerk, gute Bremse, mörder Klang und in allen Revieren, in denen ich gerne wildere, absolut zu Hause. Der Thunfisch kann Landstraße extrem gut, Rennstrecke mehr als gut genug für mich und Stadt in absolut erträglichem Rahmen. Einfach eine gottvolle Maschine, die mir all meine Wünsche erfüllt. Gespannt bin ich auf 2017.
Ich fürchte, der Klang könnte wegen des dickeren Puffers etwas leiden, aber das neue Kurven-ABS, die 330er-Bremsscheiben und vor allem die Blipperfunktion des gut funktionierenden Schaltautomaten sind Goodies, die mir sehr taugen. Ob die Aprilia Tuono V4 1100 RR auch 2017 die Krone meines Herzens trägt, wird sich in den ersten Vergleichstests zeigen. Denn BMW, KTM, Ducati und Yamaha schieben verschärfte Gegner an den Start. Es wird spannend!