Dieses Design hat einen besseren Namen verdient. Da lässt Kawasaki als erster Hersteller seit langem frischen Wind in die konservative Mittelklasse, wagt mutige gestalterische Schritte, findet ungewöhnliche technische Lösungen, und dann das: ER-6n, eine ebenso dürre wie irreführende Buchstaben-/Ziffernkombination. Denn es geht hier nicht um eine auf 600 cm3 aufgebohrte 
 ER-5. Erstens ist die 6er-ER eine 650er, zweitens ist ihr Motor 
 vom Ansaugtrichter bis zum Auspuffendstück neu konstruiert und drittens der ganze Rest ebenso. Kann sein, dass der einstellbare 
 Hebel der seilzugbetätigten Kupplung bei beiden baugleich ist, doch das war es dann auch schon.
 Der Reihenzweizylinder  ein Gegenläufer mit 180 Grad Kurbelversatz  präsentiert sich als Metall gewordene Investition in die Zukunft. Kleiner Ventilwinkel, weite, gerade Ansaugkanäle, vier Ventile pro Brennraum, topmodern. Eine Ausgleichswelle dämpft die Vibrationen um genau das richtige Maß, sorgt für Kultur, 
 aber spült nicht weich. Mit Dreiwege-Katalysator und Einspritzung erfüllt der Twin schon heute die Euro-3-Abgasnorm, leistet dabei 
 immer noch 72 PS und drückt 66 Nm.
 Dank extrem kompakter Bauweise  der Neue ist trotz größeren Hubraums und Ausgleichswelle kleiner als der ER-5-Motor  trägt er ein gut Teil zum leichten Handling der  ER-6  bei. In diesem Zusammenhang ist auch die Platz sparende »Semi-Trockensumpfschmierung« zu nennen. »Trockensumpf«, weil das herun-
 terlaufende Motoröl aus dem Kurbelgehäuse abgesaugt wird, »Semi«, weil das Ölreservoir, aus dem eine zweite Ölpumpe es 
 zu den Schmierstellen transportiert, im Getriebe liegt.
 Mit Schwungmasse ist dieses Triebwerk reichlich versehen, das zeigt es gleich nach dem Start im Präsentationsort Salz-
 burg, wenn der Fahrer in den vierten Gang schaltet und es aus 2000/min anziehen lässt. Wer nur mit einem bisschen Gefühl 
 Gas gibt, erlebt eine beeindruckende Vorstellung. Mit tadellosem Rundlauf nimmt der 650er Drehzahl auf, untermalt von dumpfem Klang aus dem kurzen Auspuffendstück. Wenig später, in den Kehren und steilen Anstiegen der Rossfeldstraße, erweist sich das als großer Vorteil, weil selbst enge Haarnadeln im zweiten Gang mit wenig Drehzahl umrundet werden können und fürs Beschleunigen dennoch genügend Druck zur Verfügung steht.
 Das sei ein wichtiger Teil der einsteigerfreundlichen Aus-
 legung der ER-6n, sagen Kawasaki-Offizielle und weisen noch auf das tadellose Lastwechselverhalten des neuen Motors hin. Stimmt, das Ansprechen auf Gasgriffbefehle hält den Mittelweg zwischen zu sprunghaft und zu stark verzögert, das 
 haben nicht nur Einsteiger gern. Dass die Lastwechsel der ER-6n für die Präsentation mit einer extrafetten Abstimmung im unteren Teillastbereich gefügig gemacht wurden, ist wohl so gut wie ausgeschlossen. Dagegen spricht ein Verbrauch von mäßigen 5,2 Liter Normalbenzin auf 100 Kilometer 
 zügiger Pässefahrt; auf der Verbrauchsrunde von MOTORRAD dürfte der Spritkonsum deutlich geringer ausfallen.
 »Zügige Pässefahrt«, das bedeutet hohe Drehzahlen, und auch die beherrscht der Zweizylinder. Ab 8000/min gibt er sich einen Ruck, wandelt sich sein Ton zu einem vierzylinderähnlichen 
 Geheul, und er dreht und dreht bis 11000/min. Bei der Leistung 
 sowie mit den erwähnten reichlichen Schwungmassen schafft er zwar nicht den fulminanten Drehzahlanstieg einer Ducati 999, 
 aber es geht ordentlich vorwärts. Zumal die Gangwechsel rauf 
 wie runter leicht, schnell und exakt ablaufen. Das können selbst verwöhnte Supersportler-Piloten goutieren.
 Was bei der Sitzposition weniger gut gelingen will. Die ist eindeutig auf die Belange von Fahranfängern und leichten, eher klein gewachsenen Menschen zugeschnitten. Mit 785 Millimetern geriet die Sitzhöhe fast zu niedrig, der Kniewinkel wird bei Leuten mit längeren Beinen eng. Schmal und hoch fällt der Lenker aus; er streckt seine Griffe dem Fahrer weit entgegen. Wogegen zunächst nichts einzuwenden ist, weil sich die Mittelklasse-Kawa so von 
 jedermann einfach rangieren lässt. Doch die Sitzhaltung ist auf 
 einen engen Bewegungsspielraum begrenzt. Wer sich beim flotten Kurvenwetzen oder schneller Geradeausfahrt nach vorn stemmen will, wird gehemmt. Deshalb möchte Kawasaki eine höhere Bank als Zubehörteil anbieten.
 Sicherlich würde sie das Kurventalent der ER-6n stärker be-
 tonen. Sie wedelt locker, folgt exakt der vom Fahrer anvisierten 
 Linie und beginnt trotz komfortabler Abstimmung der Federelemente erst dann leicht mit der Hinterhand zu pumpen, wenn sie einer richtig herzwiebelt. Die Schräglagenfreiheit lässt sich auf der Landstraße kaum ausschöpfen. Vielleicht ginge etwas mehr, wenn der 160er-Dunlop D 221 auf der 4,50-Zoll-Felge seitlich nicht so eingezwängt wäre. Dadurch wird seine Kontur spitzer, was zwar leichtes Einlenken fördert, das letzte Quäntchen Grip jedoch nicht aufkommen lässt. Andererseits ist das Jammern auf hohem  oder besser tiefem  Schräglagenniveau.
 Ausgeliefert wird die ER-6n im Oktober, bis dahin soll sie noch Verbesserungen im Finish, zum Beispiel bei den Schweißnähten des Stahlrahmens, bekommen. Wünschenswert wären außerdem etwas schärfere Bremsbeläge. Die Bremsen der Basisversion beißen nämlich sehr zurückhaltend. Gut gemeint, um die Blockiergefahr bei Schreckbremsungen zu mildern, aber zu gut ausgeführt.
 Ab Dezember soll die ER-6n gegen 600 Euro Aufpreis mit Bosch-ABS zu haben sein. Der Gesamtpreis addiert sich dann 
 auf rund 6600 Euro, das gäbe ihr bei ihren Qualitäten eine starke 
 Position im Feld der anderen Mittelklässler mit ABS.
Technische Daten
Motor: wassergekühlter Zwei-
 zylinder-Viertaktmotor, eine Ausgleichswelle, zwei oben liegende, 
 kettengetriebene Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder, Gabelschlepphebel, Semi-Trockensumpfschmierung, Einspritzung, Ø 38 mm, geregelter Katalysator, Lichtmaschine 336 W, Batterie 12 V/14 Ah, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe, O-Ring-Kette.
 
 Bohrung x Hub 83,0 x 60,0 mm
 
 Hubraum 649 cm3
 
 Verdichtungsverhältnis 11,2:1
 
 Nennleistung
 53 kW (72 PS) bei 8500/min
 
 Max. Drehmoment
 66 Nm bei 7000/min
 
 Fahrwerk: Gitterrohrrahmen aus Stahl, Telegabel, Ø 41 mm, Zweiarmschwinge aus Stahl, ein Federbein, direkt angelenkt, verstellbare Federbasis, Doppelscheibenbremse vorn, Ø 300 mm, Doppelkolben-Schwimmsättel, Scheibenbremse hinten, Ø 220 mm, Einkolben-Schwimmsattel.
 
 Alu-Gussräder 3.50 x 17; 4.50 x 17
 
 Reifen 120/70 ZR 17;
 160/60 ZR 17
 
 Maße und Gewichte: Radstand 1405 mm, Lenkkopfwinkel 65 Grad, Nachlauf 106 mm, Federweg v/h 120/130 mm, Sitzhöhe 785 mm, Gewicht vollgetankt 196 kg, Zuladung 180 kg, Tankinhalt 15,5 Liter.
 
 Garantie zwei Jahre
 
 Farben Gelb, Silber, Schwarz
 
 Preis inklusive Nebenkosten
 zirka 6000 Euro




