Fahrbericht Wakan V2
Shelbys Traum

Die Idee ist nicht ganz neu, aber immer aktuell: ein mächtiger Ami-Big-Block im filigranen Roadster-Fahrwerk. Carroll Shelby erfüllte diesen automobilen Traum einst mit der legendären Cobra. Joël Domergue träumt ihn auf zwei Rädern.

Shelbys Traum

Dass diese Geschichte einen französischen Hintergrund hat, ist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Auch der zweite hilft nicht entscheidend weiter. Im Gegenteil: mächtiger Stoßstangen-V2, wie er amerikanischer nicht sein kann, im knapp geschnittenen Roadster-Fahrwerk bester englischer Tradition und Askese. Und obendrein mit »Wakan« ein Name, der in der Sioux-Sprache »heilig« bedeutet. Wer bei dieser Gemengelage sofort auf die südfranzösische Provence tippt, muss hellseherische Kräfte besitzen.

Und dennoch: Joël Domergue, der ingeniöse Geist hinter der Wakan, ist ein Franzose reinsten Wassers. Und ein echter Macher. Jedenfalls, was die Umsetzung seiner Ideen anbelangt (siehe Kasten Seite 48). »Der Plan war ein zweirädriges Äquivalent zu dem, was Carroll Shelby richtigerweise als die ideale Formel ausgemacht hatte. Nämlich einen unaufgeregten, mächtigen amerikanischen Motor im handlingfreundlichen, europäischen Chassis«, beschreibt der 50-Jährige seine Stoßrichtung. Von diesem Ziel wich er nicht einen Millimeter ab. Daran besteht schon beim ersten Kontakt mit dem Ergebnis seiner Bemühungen keinerlei Zweifel. Wie die Türme einer Trutzburg ragen die mächtigen, stoßstangenbewehrten Zylinder im 45-Grad-Winkel aus dem Kurbelgehäuse des S&S-Motors, bilden Zentralorgan und Nervensystem gleichzeitig und dominieren so die reduzierte Peripherie wie bei keinem zweiten Motorrad. Weder massive Rahmenbrücken noch Unterzüge stören den freien Blick auf den luftgekühlten Twin, weil ein gewaltiges zentrales Rundrohr, auf das selbst Fritz W. Egli stolz wäre, Schwingenlager und Lenkkopf verbindet. Letzterer steht mit 68 Grad noch steiler, als der mutige Eric Buell für seine Kreationen je vorsah, und der Radstand liegt mit 1337 Millimetern nur knapp über dem einer XB12S – der kürzesten Buell, wohlgemerkt.
Mit dem Hubraum verhält es sich etwas anders. 1647 Kubikzentimeter – so etwas verbauen japanische Konstrukteure bestenfalls in Cruiser mit tankerähnlichen Ausmaßen oder in Metallgebirge wie eine Yamaha MT-01. Aber nicht in einen Springinsfeld, der trocken gerade mal 177 Kilogramm auf die Waage bringt und angesichts eines bescheidenen 13-Liter-Tanks unter der Sitzbank selbst vollgetankt Rekordwerte aktueller 600er-Supersportler locker unterbietet.

Es bedarf keiner besonders lebhaften Fantasie, um zu erahnen, dass den Reiter der Wakan ein außergewöhnliches Erlebnis erwartet. Die mächtigen 155 Newtonmeter Drehmoment, die die Spitze eines ausgedehnten Plateaus bilden, reichen immer, um den Traum von aus dem Handgelenk geschütteltem Vortrieb wahr werden zu lassen. Auf eine Weise, wie sie angenehmer nicht sein könnte: ohne Drehzahlgekreische, ohne kribbelige Vibrationen. Sehr bestimmt, mit tiefem Wummern, fast ohne Drehzahlanstieg – und unerwartet kultiviert.

Jedenfalls, wenn man bedenkt, dass hier ein V2-Quadrathuber (101,6 x 101,6 Millimeter) mit partyfassgroßen Kolben ohne Ausgleichswelle bebt. Gefüttert wird der zurzeit noch von einem 41er-Keihin-Flachschiebervergaser, der im Laufe der Serienproduktion einer Einspritzung weichen soll. Doch auch der Vergaser dosiert in Kombination mit den außergewöhnlichen, elektronisch gesteuerten Ansaugklappen oben auf der Tankattrappe das Gemisch jederzeit zuverlässig und sorgt für eine spontane, gleichwohl angemessen gelassene Gasannahme. Dazu passt das tiefe Ansaugröcheln, das in Verbindung mit der speziellen Zwei-in-eins-in-zwei-Auspuffanlage eine ganz eigene, unverkennbare Wakan-Tonlage ergibt.

Angesichts der lässig dahingeschlenzten Kraft reicht trotz der relativ langen Gesamtübersetzung selbst in den oberen drei von fünf Gangstufen jederzeit ein kurzes Zucken, um das zierliche Bike mit dem großen Herzen unerbittlich nach vorn zu feuern, während sich in den unteren beiden Gängen ein Powerwheelie nur mit äußerster Disziplin vermeiden lässt. Das
ist in der Tat nochmals eine ganz andere Art von Vortrieb, als sie beispielsweise eine Buell XB12S bietet. Und es trifft unzweifelhaft das, was Shelby sich seinerzeit vorgestellt hat.

Bezüglich der Fahrwerksqualitäten gilt das leider noch nicht ganz. Weder bei dem weißen Vorserienmotorrad noch bei einem weiteren Versuchsträger in Rot. Beiden gemeinsam: zu wenig Gefühl fürs Vorderrad, kein Vertrauen beim Einlenken und in Schräglage. Und das, obgleich sie auf den hochgelobten Michelin Pilot Power rollen. Entweder harmoniert der Pneu mit einem derart zierlichen, handlichen und leichten Motorrad nicht optimal. Oder Domergue trieb es auf der Suche nach Shelbys Ideal zu weit und schoss mit seinem radikalen Ansatz – ganz viel Motor, ganz wenig Motorrad – übers Ziel hinaus. An den Federelementen liegt es jedenfalls nicht. Sowohl der vielfältig einstellbaren Ceriani-Gabel als auch dem direkt angelenkten, voll einstellbaren Sachs-Federbein ist eigentlich nichts vorzuwerfen.

Der Bremsanlage mit AJP-Sechskolbenzange im Vorderrad hingegen schon. Ultimatives Handling hin, ungefederte Massen her: Mit einer einzelnen 340-Millimeter-Scheibe ist Domergue mit seinem Purismus ganz bestimmt einen Schritt zu weit gegangen. Hohe Handkraft, bescheidene Wirkung, schlechte Dosierbarkeit – wer ernsthaft ankern will, sollte auf den Einsatz der Hinterradbremse nicht verzichten, obwohl das bei einem großvolumigen Zweizylinder und dem Fehlen einer Anti-Hopping-Kupplung mit heftigem Stempeln quittiert wird. Bremsentechnisch überzeugt die Wakan nicht, da muss Domergue unbedingt nachrüsten. In der gefahrenen Konfiguration bleibt dem Fahrer folglich nur, sich am Kurvenausgang an der Dynamik explosiver Beschleunigung zu erfreuen. Sich einer Welt hinzugeben, in der motorische Größe zählt. In der die exponierten Klappen im Ansaugtrakt an die Ansaugschlünde spurtgewaltiger Big-Block-Hotrods erinnern. Dieser eine, großvolumige und gelassene Teil von Shelbys Traum wird in der Wakan für rund 28000 Euro jetzt schon Wirklichkeit. Der andere, messerscharfe und kurvengierige Teil bedarf noch etwas Feinarbeit.

Unsere Highlights

Joel Domergue

Es ist nicht die Regel, dass jemand über Jahre ein Projekt wie die Wakan vorantreibt – und kein Wort darüber verliert. Joël Domergue ist
so jemand. 1992 gründete der heute 50-jährige Ingenieur und Trialexperte die Trialmotorradschmiede Scorpa und führte sie zunächst mit Rotax-, später mit Yamaha-Motoren unter Graham Jarvis zum Sieg bei den Scottish Six Days und zu WM-Platz vier. Und auch zu kommerziellem Erfolg. 6000 Motorräder verkaufte der Trial-Hersteller in zehn Jahren. Bereits in dieser Zeit
reifte die Idee für ein Motorrad ganz speziellen Zuschnitts.
2003 war es dann so weit. Domergue verkaufte Scorpa und begann, seine Version von Carroll Shelbys Traum
mit Akribie in die Tat umzusetzen. Drei Jahre später konnte schließlich die
Serienproduktion der Wakan in Aniane (Frankreich) beginnen.

Wakan V2 (FB)

Es ist nicht die Regel, dass jemand über Jahre ein Projekt wie die Wakan vorantreibt – und kein Wort darüber verliert. Joël Domergue ist
so jemand. 1992 gründete der heute 50-jährige Ingenieur und Trialexperte die Trialmotorradschmiede Scorpa und führte sie zunächst mit Rotax-, später mit Yamaha-Motoren unter Graham Jarvis zum Sieg bei den Scottish Six Days und zu WM-Platz vier. Und auch zu kommerziellem Erfolg. 6000 Motorräder verkaufte der Trial-Hersteller in zehn Jahren. Bereits in dieser Zeit
reifte die Idee für ein Motorrad ganz speziellen Zuschnitts.
2003 war es dann so weit. Domergue verkaufte Scorpa und begann, seine Version von Carroll Shelbys Traum
mit Akribie in die Tat umzusetzen. Drei Jahre später konnte schließlich die
Serienproduktion der Wakan in Aniane (Frankreich) beginnen.

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Erscheinungsdatum 15.09.2023