Gas auf! Sofort stürmt die Horex VR6 Classic HL los, hebt sogar leicht das Vorderrad und spielt dazu eine Symphonica Feroce – dagegen klingt jeder 911er selbst mit offener Klappe wie ein Stümper. Das war gleich der erste Eindruck hinaus auf die Landstraße, und verwundert fiel mein Blick ins riesige, voll digitale Display. "Horex – steht da wirklich!"
Dieser Zweifel stammt nicht von ungefähr, denn als Horex noch bei Augsburg baute, bald die groß angekündigte Idee eines aufgeladenen Motors begrub, dann ein unausgegorenes Modell mit sechs Zylindern, aber etlich mehr Schwächen vorstellte und schließlich doch die ganze Firma wieder zusperrte, hätte ich keinen Pfifferling mehr auf die einst ruhmreiche Marke gegeben. Auch nicht, als 3C-Carbon mit beeindruckenden Umsätzen durch Spezialteile von der Formel 1 bis zur Luftfahrt im Hintergrund und großer Rennsport-Begeisterung die Traditionsmarke aufkaufte und Mastermind Karsten Jerschke versprach, das Projekt endlich vernünftig aufzustellen. Tatsächlich wurde es ruhig um Horex. Selbst die Vorstellung der Silver Edition vor gut einem Jahr unter 3C-Ägide war nur ein kurzes öffentliches Aufflammen – auch wenn man da schon sehen konnte, dass im großen Stil verbessert wird. Lange war danach wieder wenig aus Landsberg/Lech zu hören, wo die Horex heute gebaut wird. Da klingelt plötzlich das PS-Telefon, und Jerschke lädt freudig erregt zum Test: "Jetzt läuft die Serienproduktion, ihr könntet die Horex VR6 Classic HL exklusiv fahren!"
Zwei Horex pro Tag
Die erste Abzweigung von der Bundesstraße auf ein kleines Allgäuer Landsträßchen: Gas zu, runterschalten, einlenken, Gas wieder anlegen... "Horex – unfassbar!" Der Sechszylinder nimmt das Gas an, als hätten ihn japanische Renningenieure programmiert. Schön direkt, aber ohne jegliches Ruckeln. Und das bei dem kurzhubigen VR-Motorenkonzept und den 1200 Kubik. Flink und gierig dreht der Motor nach oben. Ein Grund, dass die Horex VR6 Classic HL ihre Arbeit so ordentlich macht, wirbelt jetzt direkt vor mir um die ersten Kurven unseres Testritts. Martin Bauer, dreifacher IDM-Superbike-Meister und blitzgescheiter Ingenieur, leistete große Entwicklungsarbeit an der VR6. Und er war nicht der einzige Spezialist, den sich 3C-Carbon für dieses Projekt leistet. Top-Firmen wie HWA, Conti und Bosch entwickelten und bauten mit. Immer wieder versichert uns Jerschke, wie viel Entwicklungszeit und -geld er in die neue Horex investiert hat.
Beim morgendlichen Rundgang durch die Produktionshalle, in der etwa zwei Horex pro Tag in einer Edel-Manufaktur von Hand entstehen, zeigte uns Jerschke das zerlegte Herzstück der Horex. Kein Stein blieb beim Antrieb auf dem anderen. Seit der Firmenübernahme 2015 ist vom ursprünglichen Motor nur noch das Konzept eines eng gebauten Sechszylinder-V übrig. Einspritzung, Drosselklappeneinheit, Zylinderkopf, Pleuel, Kolben, die drei obenliegenden Nockenwellen und die Kurbelwelle inklusive Gehäuse, die größere Airbox mit anderen Ansaugtrichtern usw. – alles neu. Dazu kam das Ride by Wire, ein viel umfangreicherer Kabelbaum, der neue Sensoren integriert, ABS...
Horex VR6 Classic HL wiegt 242 Kilo (fahrfertig)
Dann das Fahrwerk der Horex VR6 Classic HL: feinste Öhlins-Technik – alles voll einstellbar. Dazu tolle Frästeile wie etwa die Gabelbrücken. Durch neue Leichtbauteile wie zum Beispiel das neue Rahmenheck aus Kohlefaser soll die Horex in Summe 30 Kilo abgespeckt haben. Man glaubt es gleich, denn beim Wedeln selbst durch die eng umkurvte Allgäu-Bergwelt gibt sich der wuchtige Roadster extrem sportlich. Zackig winkelt die VR6 ab. Klar, macht das ein 600er-Supersportler agiler, aber für ein 242 Kilo (fahrfertig) schweres Bike ist das Handling schlicht verblüffend. "Wir haben unter anderem den Schwerpunkt deutlich abgesenkt", erklärt Bauer, und auch die Geometrie wurde spürbar verändert.
Trotz erstaunlicher Agilität liegt die Horex VR6 Classic HL stabil im Radius. Nichts pendelt, nichts wehrt sich, auch nicht beim Nachbremsen oder Gasanlegen am Scheitel – die Horex lechzt geradezu nach Kurven, je schneller, desto besser. Ein weiterer Knaller ist die Bremsanlage. Die Verzögerung, der Initialbiss, die Dosierbarkeit sind auf absolutem Sportlerniveau. Kein Wunder, denn Jerschke und sein Team machen mit den Brembo M50-Zangen auch hier keine Kompromisse. Dazu die hochwertige Radialpumpe, ebenfalls aus Italien, dann lässt sich der mächtige Sixpack auch entsprechend wieder einfangen. Und das Fahrwerk sorgt für die nötige Stabilität.
Optisch könnte es noch sportlicher werden
Fahrtechnisch macht diese Horex VR6 Classic jetzt richtig Freude. Die trübt auch nicht das etwas "wuchtige" Getriebe, das lange Schaltwege hat und die Gänge mit deutlichem "Klonk" einlegt. Auch die Vibrationen aus dem Kraftpaket stören nicht. Sie untermalen vielmehr diesen kernigen Charakter des Triebwerks, den man so wirklich nur in der Horex erleben kann. Immer wieder animiert der Sound und der ansatzlose Antritt dazu, dem Classic Roadster ordentlich die Sporen zu geben. 163 PS steht im Datenblatt. Man mag es vor allem beim Extra-Kick um die 7.000/min glauben. Ganz oben Richtung fünfstellig wird der Antrieb etwas milder, aber die Horex ist auch bei 260 km/h abgeriegelt. Da geht die Schere zwischen sportlicher Performance und eher edlem Outfit nicht mehr ganz so weit auseinander. Aber Jerschke hat noch weitere Pläne mit dem Sechser. Wir durften einen Blick in die Designabteilung werfen, und was wir da – besonders in sportlicher Hinsicht – zu sehen bekamen, wäre der Knaller. Günstiger dürfte diese Power-Vision aber auch nicht werden.
Wer es sich leisten kann, darf schon jetzt von der Horex VR6 Classic für knapp 39.000 Euro ein echtes Wonne-Bike erwarten und in vielen Details sogar beim Styling mitreden. Die Horex wird wohl kein Massenphänomen werden, das hat 3C auch nicht vor, aber mit dieser Performance kann sie mehr als im Markt bestehen. "Horex – wow, so kann's weitergehen."