Nach ersten Versuchen im Rennsportgeschäft hat Buell jetzt eine Art Streetfighter geschaffen. Breiter Lenker, kurzes Heck, kleine Cockpitverkleidung und große Lampe - ganz im Trend der heutigen Zeit. Dazu noch jede Menge technische Gimmicks und unkonventionelle Detaillösungen. Die riesige, 340 Millimeter große Bremsscheibe, der monströse Auspuff, das merkwürdige Federbein, die zierliche, aber leider brettharte Sitzbank oder die eigenwillige hintere Radabdeckung, nichts an diesem Motorrad kommt einem bekannt vor. Selbst der Gitterrohrrahmen trägt eine eigene Handschrift.
Nur der Motor, der ist keineswegs ein unbekanntes Wesen. Und dennoch ist auch er anders als alles bisher von Harley Bekannte. Dieser 1200er Sportster-Motor drückt nämlich sage und schreibe 93 PS auf den MOTORRAD-Prüfstand. Dabei macht er gleich noch mit dem alten Vorurteil Schluß, nur ein lauter Harley-Motor sei ein starker Harley-Motor. Die Geräuschentwicklung hält sich dank des baumdicken Ofenrohrs in zivilen Grenzen.
So wundert es wenig, daß die ersten Testkilometer ganz im Zeichen dieses Zweizylinders stehen. Mächtig der Antritt, spurtstark im oberen Drehzahlbereich, souverän beim lässigen Dahingleiten und bei alledem auch noch ein Muster an Sparsamkeit. Kein Rucken, kein mechanisches Klappern und kaum Vibrationen - wer glaubte, Harley-Motoren zu kennen, muß jetzt komplett umdenken. Dieser 1200er ist einfach eine Wucht.
Wo diese enorme Leistungssteigerung herrührt, bleibt bislang ein gut gehütetes Buell-Geheimnis. Der Auswuchs an der rechten Motorseite kann kaum die Erklärung sein. Denn diese als Helmholtz-Resonator gepriesene Kunststoffblase ist nichts anderes als ein ordinärer Luftfilterkasten, hinter dem ein 40er Keihin-Vergaser sitzt. Den vibrationsarmen und ruckfreien Motorlauf zu erklären, fällt schon leichter. Die komplette Antriebseinheit ist in dicken Gummilagern aufgehängt, und die Kraft wird über einen Zahnriemen aufs Hinterrad übertragen.
So weit, so gut. Aber leider besteht die S1 Lightning nicht nur aus Motor. Zur Buell gehört auch ein recht eigenwillig konstruiertes Fahrwerk. Vorn signalisiert eine steil eingebaute Upside-down-Gabel ein kinderleichtes Handling, in der Mitte verspricht der Gitterrohrrahmen Stabilität, und hinten deutet das freistehende Hinterrad auf jede Menge komfortablen Federweg hin. Aber weit gefehlt. Weder Handlichkeit noch Stabilität, noch Komfort gehören zu den Stärken der Buell.
Für Schräglagen ist der Pseudo-Sportler nur schwer zu begeistern. Bereits bei einem Neigungswinkel von 20 Grad versteift sich die Buell förmlich. Enge Kurvenradien sind nur unter erhöhtem Krafteinsatz möglich. Und in welligen Kurven reagiert das Kraftpaket mit heftigen Schlingerbewegungen. Selbst bei flotter Geradeausfahrt auf der Autobahn, und da erreicht diese Harley leicht über 200 km/h, gehören solche Eiertänze zur Tagesordnung.
Außerdem sprechen die White Power-Federelemente im Stand zwar sehr sensibel an, werden im Fahrbetrieb aber ihrer Aufgabe nicht gerecht. Jeder noch so kleine Fahrbahnabsatz wird gnadenlos an des Fahrers Hinterteil weitergeleitet. Die Buell benimmt sich wie ein bockiger Rodeo-Stier. Der Grund für diese doch gravierenden Fahrwerksschwächen ist nur unschwer zu erkennen. Der Konstruktion fehlt es an der nötigen Stabilität. Der Rahmen weist im hinteren Teil die Form einer Raute auf - anstatt eines verwindungssteiferen Dreiecks.
Die lange Stahlschwinge ist aus Vierkantwerkstoff ohne ein einziges Knotenblech zur Verstärkung stumpf zusammengeschweißt. Lenker gegen die Wand gelehnt, leicht seitlich gegen das Hinterrad gedrückt, und schon bewegt sich der gummigelagerte Motor gut zehn Millimeter im Fahrwerk hin und her. Da müssen sich die Herren Konstrukteure schleunigst noch mal ans Reißbrett begeben. Denn erst ein stabiler Rahmen kann dafür sorgen, daß die Gabel nicht eigenmächtig in Längsrichtung schwingt und dadurch massiv in ihrer Funktion beeinträchtigt wird.
Konstruktive Verbesserungen könnte auch der ungewöhnlich unter dem Motor angelenkte Stoßdämpfer vertragen. Trotz heftigster Bemühungen an den Einstellrädchen für Zug- und Druckstufe war nicht herauszufinden, was diese beiden Stellrädchen eigentlich bewirken. Selbst Federungsspezialist Benny Wilbers fehlten angesichts dieser abenteuerlichen Konstruktion die Worte.
Derer gibt es überwiegend lobende zu verlieren, kommt die Sprache auf die Bremsanlage. Die 340er Scheibe arbeitet mit dem nötigen Nachdruck und läßt sich dabei noch prima dosieren. Die 211 Kilogramm der Buell sind somit jederzeit sicher zu bändigen, auch wenn die hintere Bremse noch etwas mehr Biß zeigen könnte.
Als kleiner Trost bleibt, daß es für zirka 20000 Mark zwar keine technisch perfekte, aber zumindest eine einzigartige Harley gibt, die, egal wo sie vorfährt, immer für reichlich Aufsehen sorgt. Auch ein Grund, die Buell zu mögen.
Fazit
Die Buell S1 Lightning ist ein Motorrad mit zwei Gesichtern. Motorseitig herrscht eitel Sonnenschein. Sparsam im Verbrauch, viel Power, sattes Drehmoment und vibrationsarmer Lauf. Keine Frage: Dieser Harley-Motor ist der beste Serien-1200er aus Milwaukee, den es je gab. Auf der Fahrwerksseite verdunklen dagegen dicke Wolken den Himmel. Rahmen und Schwinge sind zu instabil, die Federelemente arbeiten nur mit mäßigem Erfolg, und die Sitzposition lädt auch nicht unbedingt zu längeren Touren ein. Kurz gesagt: prima Idee mit Schwächen in der Ausführung.Oder durch die Blume gesagt: ich mag sie, ich mag sie nicht, ich mag sie.
Gerhard Lindner