Der Tag war stressig. Termindruck, Konferenzen – und das Finanzamt wartet auf die Steuererklärung. Jetzt heißt es, irgendwie den Kopf freizukriegen. Mit einem Motorrad, das genau dafür geschaffen ist. Du steigst auf die sehr attraktive Moto Morini Milano, und plötzlich ist der Tag dein Freund. Sie trägt den Namen Mailands, der Stadt von Stil und Eleganz. Passt genau. Dieses Design, diese Haptik! Die Maschine fasst und fühlt sich gut an mit ihrem Dreifarblack in Rot, Schwarz und Weiß – eine optische Verbeugung vor der legendären Moto Morini 3½ aus den 70er-Jahren. Aber 344 Kubik? Der neuzeitliche V2 mit seinen 87 Grad Zylinderwinkel hat glatt den dreieinhalbfachen Hubraum der seligen 3½: volle 1187 Kubikzentimeter. Dazu gesellen sich haufenweise schöne Details, feinst bearbeitetes Metall. Etwa die edel ausgefräste obere Gabelbrücke und das untere Pendant mit stabiler Dreifachklemmung. Formschön präsentiert sich die einteilige Sitzbank mit dem aufgesteppten Moto-Morini-Logo. Eindruck schinden die mächtigen Kunstwerke von Edelstahlkrümmern, die verschlungen wie eine Boa constrictor armdick aus dem mächtigen V2 züngeln. Und dann in ästhetisch geformte, übereinandergestapelte Schalldämpfer münden. Emotionen in Metall. Was für ein lässiges Motorrad das ist! Halt, Stopp, Moment mal: Moto Morini, dieser klangvolle Name, ist wieder da? Ja und ob, als kreative Manufaktur. Und ich darf die neueste Kreation fahren. Es ist mir eine Ehre.
Nicht krawallig, nur klangstark
Dieses Motorrad hat etwas sehr Eigenständiges. Das beginnt mit dem kurzhubigen V-Motor: Die riesigen 107er-Kolben haben bloß 66 Millimeter Hub vor sich. Sie nehmen zwar meist spontan die Arbeit auf. Doch nach dem Kaltstart wirkt die Gasannahme zunächst etwas synthetisch. Der V2 mit den dicken Kolben braucht Zeit, bis er sich nicht mehr verschluckt. Nicht einfach, so riesige Brennräume für den Teillastbereich vernünftig abzustimmen. Der Sound ist ein wohliges, bassiges Wummern. Dazu knurrt es aus der Airbox unter Last wie ein hungriger Wolf. Nicht krawallig, nur klangstark, akustisch präsent, in einer sehr angenehmen Tonlage. Heftig reißt der Motor an, mit mächtig Punch in der Drehzahlmitte.

In der Milano läuft der V2 etwas früher rund, operiert einen Tick niedertouriger als in den Corsaro-Schwestern. Dabei ist die Hardware identisch. Das Geheimnis? Anderes „Mapping“, also Software, reduziert den Schlegel angeblich von 139 auf 116 PS Spitzenleistung. In Wahrheit, auf der Rolle gemessen, reißen bei der Milano bis zu 131 Italian Stallions, Vollblut-Hengste, an der Kette. Tempo-30-Zonen gehen gerade so im zweiten Gang mit 2.000 Touren. Im Sechsten sollten mindestens 2.500 Umdrehungen anliegen, damit der V2 ruckelfrei rundläuft. Rasant: Von 3.700/min bis über 9.000 Touren liegen stets mindestens 100 Newtonmeter an. Von Tempo 60 auf 140 vergehen im sechsten Gang bloß zarte 6,4 Sekunden. Heißa, hier surfst du auf einer verdammt fetten Drehmomentwelle!
215 Kilogramm Leergewicht
Obacht, es ist keine Traktionskontrolle, nur ein abschaltbares ABS an Bord. So viel Elektronik wie nötig, um die Euro-4-Regularien zu erfüllen, aber so wenig wie möglich. Diverse Fahrmodi? Vermisst du nicht. Wer nichts einstellen kann, macht auch nie etwas falsch. Der V2 teilt mächtig aus. Die Leistung reicht jederzeit für ein kleineres oder größeres Freuden-Wheelie. Vibrationen? Klar, spürbar. Aber niemals störend. Ist eben ein höchst lebendiger Antrieb. Lang übersetzt dazu: Bei Tempo 130 rotiert die schmale Kurbelwelle moderate 5.000 Mal pro Minute. Drehzahlorgien? Nicht nötig. Schnell schließt du Freundschaft mit dem kraftvollen Motor alter Schule samt seiner leichtgängigen Hydraulik-Kupplung.

Bereits im Langsamfahrbereich gibt sich das 215-Kilo-Leichtgewicht gut ausbalanciert, ist nicht nur beim Rangieren leicht beherrschbar. Groß geriet nur der Wendekreis, über sechs Meter. Herrlich leichtfüßig klappt die Milano vor jeder neuen Kurve ab. Fast so handlich wie eine 125er. Der große Hebelarm des hohen, breiten Lenkers macht sich bezahlt. Nicht zu stark dran drücken, sonst wird’s zappelig. Auch die leichten Schmiederäder haben am federleichten Einlenken ihren Anteil. Radstand (1.490 Millimeter) und Nachlauf (109 mm) sind länger als bei den Corsaros. Der Gitterrohrrahmen aus Chrom-Molybdän-Stahl integriert den Motor tragend und fungiert ebenso wie die lange „Flechtwerkschwinge“ exklusiv für die Milano. Sie bringt gute mechanische Traktion. Federelemente von Mupo gelten bereits seit geraumer Zeit als Geheimtipp. Die kohlenstoffbeschichtete Upside-down-Gabel spricht klasse an, bietet tolles Feedback. Sie trägt Schnellversteller für Federbasis und vor allem die Einstellung der Dämpfung. Klick, klick – ganz ohne Werkzeug. Tipp: Druck- und Zugstufe jeweils 30 von 50 Klicks öffnen. Gefühlsecht arbeitet das Mupo-Federbein, holt das Beste aus nur 100 Millimetern Federweg: Du spürst die Straßenbeschaffenheit jederzeit, all ihre Tücken und Lücken in der Teerdecke, ohne darunter zu leiden. Nur am Ausgang von sehr schnell angegangenen Kurven treibt die Milano mitunter etwas weiter nach außen.
Ein echter Kurven-Cruiser
Zwar sind Pirellis famose Gran-Turismo-Reifen Angel GT mit prima Grip gesegnet. Doch vermutlich hätte es für dieses Konzept auch ein 180er-Hinterreifen auf 5,5-Zoll-Felge statt des Eyecatchers von 190er auf Sechs-Zoll-Felge getan. Er schmiegt sich Längsrillen an. Bodenwellen in Schräglage bringen die schicke Milano daher mitunter etwas vom angepeilten Kurs ab. Nicht schlimm, aber als dann abnehmende Lenkpräzision spürbar. Engagiert bewegt, geht es rechtsherum der Abdeckung des unteren Auspufftopfs schon bald funkensprühend an den Kragen. Leichtes Anheben des Hecks – eine schnell erledigte Übung – mindert diesen Effekt. Und schafft so mehr Schräglagenfreiheit im Winkelwerk. Falls Italiener dies unter einem „gemütlichen Cruiser“ verstehen, ist es eher ein echter Kurven-Cruiser. Oder doch ein bildschönes, fahraktives Naked Bike?

Kraftvoll packen Brembo-Monoblock-Zangen zu und sind dennoch keine wütenden Beißer. Der Druckpunkt der an sich sehr guten Stopper geriet nicht eben superknackig, sondern eher weich, nicht ganz exakt dosierbar. Als verlässlicher Partner fungiert das Bosch-ABS der Baureihe MP 9.1. Umgänglich gibt sich die Sitzposition: Der Knieschluss an den schmal eingezogenen Tankflanken passt, der Kniewinkel ist höchstens für richtig lange Kerls etwas spitz. Schön schmal, kleine-Leute-freundlich, ist die Sitzbank im vorderen Bereich geschnitten. Man kommt easy auf die Erde. Mittschiffs sitzen die Fußrasten. Fast aufrecht, herrlich breitschultrig nimmst du die Welt in Empfang. Du spürst und siehst alles, riechst und fühlst. Wunderbar. Einzig der Platz für den Sozius ist wie die Zuladung (magere 160 Kilo) ein wenig klein und fällt nach hinten ab. Passt immerhin für die Eisdiele. Okay, auch der dünne Fahrersitz ist nicht gerade tourentauglich – nach ein, zwei Stunden zwackt es im Hintern. Na und? Da musst du ohnehin tanken. Angesichts von 5,9 Litern Verbrauch bei vorsichtiger Fahrweise droht im 13,5-Liter-Tank recht bald Ebbe. Alles so schön digital hier: Das automobilartige TFT-Display präsentiert sich nicht ideal ablesbar. Und LED-Anzeigen zum intuitiven Erfassen der aktuellen Drehzahl (Grün – Gelb – Rot) blenden bereits am Tag. Gute Idee, aber nicht so gut umgesetzt. Geschenkt, denn dieses feine Manufaktur-Motorrad für faire 15.000 Euro macht mächtig Laune auf der Landstraße, schindet Eindruck auf der Flaniermeile – ist ja eine Italienerin. Bei jedem Stopp strömen Bewunderer herbei, verwickeln dich in Benzingespräche, wollen alles über den extravaganten Roadster wissen. Anders ist er, eigen, einzig. Wer vergessen hat, warum Motorradfahren etwas Wunderbares ist („Second best Feeling“) – hier lernt er oder sie es wieder. Termindruck, Finanzamt, Konferenzen? Weit weg. Mission erfüllt, Entspannung gefunden!
Fazit
Extravagant und doch breitbandig-alltagstauglich gibt sich die bildschöne, lässige Moto Morini Milano. Eine klasse Kombination. Und ein tolles, harmonisches Motorrad dazu. Der weichere, kaum schwächere V2 als in den Corsaros schmeichelt sich in dein Herz. Hoher Erlebniswert trifft einen herrlichen Unterhaltungsfaktor, Exklusivität durch feine Details auf hohe Fahrdynamik. Herz, was willst du mehr? Da verzeiht man gern kleine Eigenheiten.