Mit einem lauten metallischen Schlag knallt der Magnetschalter das Anlasserritzel in die Schwungscheibe. Ächzend müht sich der riesige Bosch-Anlasser, die Kolben der Maschine gegen die Kompression zu drücken. Ein kurzer Dreh am Gasgriff lässt die Beschleunigerpumpen der 36er-Dellortos ein wenig Benzin in die Einlasskänale spritzen. Die ganze Maschine taumelt von links nach rechts, plötzlich rumpelt sie los, schüttelt sich, würgt ein bisschen, will mit ein paar Gasstößen und von einem mächtigen Schwungrad am Leben gehalten werden. Aber sie läuft. Und wie! Mit höchstens 400/min wummert dieser V2 friedlich vor sich hin, so, als wolle er sich erst einmal ausruhen von dieser anstrengenden Startprozedur.
Kaum zu glauben, aber vor 25 Jahren war die Le Mans eines der besten Sportmotorräder überhaupt. Dieser Grobian von Motor soll das gewesen sein? Aber halt, man muss sich einlassen auf einen Youngtimer. Und auf ein Guzzi sowieso. Denn Guzzi fahren ist anders, ganz anders. Also weg mit den Zahlenspielereien, weg mit den heutigen Maßstäben, hinein in eine neue, alte Welt. Ein Welt, die damit beginnt, dass ein Gasgriff zwar unheimlich schwer gehen kann, aber deswegen noch lange nicht kurzhubig zu bedienen ist. Eine Welt, in der eine Handbremse nur unterstützend wirkt und die Hauptarbeit die Fußbremse übernimmt. Eine Welt, in der nicht einfach geschaltet wird, sondern Gangwechsel mit Bedacht durchzuführen sind, unter besonderer Berücksichtigung von Schwungmasse und zu erwartender Drehzahländerung. Will heißen, man muss schon mal Zwischengas geben.
Die ersten Kilometer auf einer Guzzi sind für »normale« Motorradfahrer eine Herausforderung. Aber schon bald tritt ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Jener Automatismus, der Hände und Füße koordiniert arbeiten lässt, ohne dass der Fahrer darüber groß nachdenkt. Es läuft, die Le Mans blubbert bei 3000/min, massiert sämtliche Gelenke mit gutmütigen Vibrationen. Zufriedenheit stellt sich ein. Und Verwunderung. Erstaunlich, wie schlank und geradlinig Motorräder einst gebaut werden konnten, wie moderat sportlich der Fahrer schon damals positioniert wurde. Auch erstaunlich, wie stabil und dennoch handlich Guzzi schon in den Siebzigern Fahrwerke konstruierte.
Der Fahrer beginnt bereits nach kurzer Zeit, immer forscher zu fahren, die Schmalspurreifen krallen sich ja doch ganz schön in den Asphalt. Obwohl der 110er hinten nicht mal so breit wie ein heutiger Supersport-Vorderreifen ist. Aber bitte schön, das Knie bleibt am Tank. Und dann die nächste Kurvenkombination anvisieren, um wie an einem Leitstrahl entlang sicher an deren Ende zu gelangen.
Le Mans fahren, das ist sanft gleiten ohne rumzuschnecken. Einmal tief durchatmen, durch offene Vergaser frische Luft mit Benzin mischen und beides unter Verbrennung in Vortrieb umsetzen. Spielerisch von einer Schräglage in die nächste fallen, genießen, lächeln. Funktioniert das mit einer V11 Sport auch?
Zweifelsohne ist eine Guzzi immer eine Guzzi. Der V2 streckt seine beiden riesigen, luftgekühlten Zylinder links und rechts unterm Tank hervor wie eh und je. Der 90-Grad-V-Twin mit längsliegender Kurbelwelle ist für Guzzi Pflicht wie der Boxer für BMW oder der 45-Grad-V2 für Harley. Und noch immer haut der Starter unbarmherzig sein Ritzel in das Schwungrad. 25 Jahre und keinerlei Fortschritt? Gut, der hinter einer Blende versteckte Anlasser ist viel zierlicher. Ebenso die Batterie der V11, was ihr Gewicht drückt. Dafür sind die Dellortos verschwunden. Diese wirklich imposanten Spritdosierer werden von schnöd gezeichneten Drosselklappengehäusen ersetzt, deren Öffungswinkel über ein Potentiometer gemessen und so die richtige Menge Sprit über Einspritzdüsen zugeteilt wird.
Aber die Einspritzung macht ihren Job gut. Vor allem geht der V11-Gasgriff etwa 23-mal leichter, und sein Weg ist 23-mal kürzer als bei der Le Mans. Problemlos die Kraft des prächtigen 1100er-V2 abrufen. Kaum vorstellbar, dass dieser Motor ein simpler Zweiventiler ist. Schon bei 1500/min drückt die Sport nach vorne, genehmigt sich bei 4500/min eine Verschnaufpause, um dann erneut anzugreifen. Ab 6000/min dreht die V11 zügig hoch, gnadenlos und unbarmherzig schüttelt sie Leistung aus der altertümlichen Konstruktion, dass es einem Angst und Bange wird. Ist da ein BoT-Rennmotor drin? Verbiegen bei 8000/min nicht diese ellenlangen Stoßstangen? Wobei sich das Ganze mit einer verblüffender Laufruhe abspielt.
Im Vergleich zur V11 wirkt die Le Mans träge. Die größere Schwungmasse lässt den 850er langsamer hochdrehen, und das Triebwerk mit dem kleineren Hubraum der von der Firma XXXXX liebevoll aufgebauten Maschine tut sich deutlich schwerer. Die 70 PS schienen wohl eher Prospekt- denn DIN-PS zu sein. Die V11 liefert dagegen 95 statt der 91 angegebenen PS an die Kardanwelle. Und zwar über ein eng gestuftes Sechsganggetriebe, das sich zudem richtig gut schalten lässt, ohne Gasgriff-Artistik, ohne lange Schaltwege.
Der sportlichen Fortbewegung nützlich zeigt sich außerdem die Momentabstützung des Kardanantriebs. Wie bei BMW besitzt die Abtriebswelle zwei Kreuzgelenke. So bleibt die V11 hinten auch dann ruhig, wenn hektisch am Gasgriff gedreht wird. Die Le Mans schaukelt dagegen bei Lastwechseln bedenklich mit dem Heck, das mit kurzen Federwegen und straffer Abstimmung im Zaum gehalten werden muss. Die V11 bietet deutlich mehr Möglichkeiten, Sportlichkeit mit Komfort zu verbinden. Auf welligem Asphalt spielt sie Feder- und Dämpferreserven aus, während die Le Mans bereits beleidigt durchschlägt oder unwillig mit dem Lenker zappelt. Da hat sich viel getan, wenngleich die V11 nach heutigen Maßstäben ebenfalls nicht perfekt abgstimmt ist, Dämpfung und Federung vorn könnten deutlich optimiert werden.
Und die Sport ist um Welten handlicher. Fast schon nervös gibt sie sich in engen Kehren, fällt wie mit einer Servolenkung gesteuert sofort in tiefste Schräglagen, betört in Wechselkurven wie Carvingskier statt Abfahrtsbretter. Die Le Mans kann da mit der Würde ihrer 25sten Saison nur erstaunt zurückbleiben. Und darauf verweisen, dass die V11 in schnell gefahrenen Kurven dafür anständig pendelt. Deren zierlicher Zentralrohrrahmen wirkt labil, kein Vergleich zu dem stabilen Doppelschleifenrahmen der Le Mans.
Was ist also nun geblieben vom Guzzi-Feeling? Kann die V11 Sport noch diese Faszination erzeugen wie eine Le Mans? Sie kann. Wenn auch viel kultvierter als die alte Dame, ist die V11 immer noch unverkennbar eine Guzzi mit diesem einzigartigen Klang. An Charakter hat sie nichts eingebüßt. Den sechsten Gang schon bei 40 km/h einlegen, das macht richtig Laune. Ein Genuss, diesen Zweizylinder ziehen zu lassen. Mit 2500 Touren einen Berg hochfahren und die Kraft am Lenker rütteln lassen. Bei 100 km/h langsam das Gas zurücknehmen und spüren, wie sich die Kolben nur noch ganz sanft auf und ab bewegen. Bei einem Cappuccino den Blick über den brillant im Sonnenlicht schillernden hellgrünen Lack gleiten lassen, während die Schalldämpfer friedlich vor sich hin ticken. Die flimmernde Luft über den mächtigen Krümmern beobachten, die immer brauner werden, je heftiger man dem V2 eingeschenkt hat. Und nach 500 Kilometern Fahrt schließlich mit einem Lächeln absteigen und verstehen: Guzzi-Bewegen ist diese andere Art, Motorrad zu fahren.
Moto Guzzi-Spezial
Guzzi bleibt Guzzi. Ist man einmal der Faszination dieser charaktervollen V2-Maschinen erlegen, fängt einen der klassische Schlag dieser Motoren immer wieder ein. Da unterscheidet sich eine V11 Sport nur wenig von einer Le Mans. Nach heutigen Maßstäben gibt sich die Le Mans aber eher als ruhiger Gleiter denn als Supersportler. Die V11 ist dagegen ein bärenstarker Kurvenstar. Handlich, feurig und eindeutig eine Guzzi. Für die Freunde dieser anderen Art Motorrad zu fahren bleibt immer noch genügend Eigenständigkeit übrig. Und daran soll sich nach MOTORRAD-Meinung auch nichts ändern.