Vergleichstest Naked Bikes
Edel sei das Bike, reich an Kubik und Schub

Als der Herrgott am elften Tag das Motorrad erschuf, formte er ein mächtiges Naked Bike. Wer jemals auf einer Kawasaki ZRX 1100, Suzuki GSX 1200 oder Yamaha XJR 1300 saß, weiß das.

Zuerst das Wichtigste: Sie heißt nicht Inazuma. Der Name war bereits verkauft, geschützt und zugenäht. Von einem Namehunter, der das klangvolle Idiom teuer weiterverticken wollte. Suzuki hätte Unsummen dafür hinblättern müssen. Doch – »Pfeifendeckel«, sagten die Japaner. »Soll der Hunter auf seinen sieben Buchstaben sitzenbleiben.« Schluß. Aus. Vorbei. So findet die offizielle Markteinführung des neuen Vierzylinders unter der schmucklosen Bezeichnung GSX 1200 statt. Schade – eigentlich. Aber halb so schlimm. Denn von seinem Charme büßte der Bandit-Abkömmling nichts ein.
Charme – ja, er hat Charme, dieser Brummer. Allein die fein verrippten Zylinder. Oder die Rundungen des Knubbeltanks, die nahtlos in die Sitzbank fließen und in ein niedliches Heckbürzelchen münden, das schwer nach Kawasaki Zephyr aussieht. Dann die Erstbesteigung – von da an dürfte es zumindest um alle Bonsai-Big-Biker geschehen sein: So klein kann groß sein. Würde der Seitendeckel nicht ausdrücklich eine 1200er ankündigen, wähnte man sich allenfalls im Sattel einer 750er. Schlank, niedrig und alles so schön kurz hier. Also: sämtliche Berührungsängste über Bord und raus in den Frühling, mit echten 110 PS.
Seinem verflossenen Zunamen, der so viel wie Blitz bedeutet, macht der modifizierte Bandit-Motor nach wie vor Ehre. Zwar beschleunigt er nicht ganz so fix wie die in MOTORRAD 16/1998 getestete, grau importierte Version, doch drei Sekunden von Null auf Hundert reichen allemal, um die körpereigene Adrenalinausschüttung nach Belieben anzukurbeln.
Bei aller Leistungsbereitschaft verführt die GSX allerdings nicht im geringsten zum hemmungslosen Umgang mit dem Gasgriff. Vielmehr stimmt sie sanftmütig-milde. Nähmaschinengleich surrt der luft-/ölgekühlte Reihenvierer vor sich hin, reagiert feinsinnig auf die Stellung der Drosselklappen, schnurrt leicht und losgelöst durch sein Drehzahlrepertoire, und selbst die dabei frei werdenden Vibrationen muten wie zart gesponnene Höflichkeiten an.
Er hat nichts Scharfes an sich, dieser Motor, kommt ohne Geschmacksverstärker daher, so ein bißchen wie eines dieser hochmodernen Fatfree-Produkte: kein kulinarischer Hochgenuß, aber bekömmlich, leicht verdaulich – und satt wird man auch. Die Triebwerke von ZRX und XJR wirken dagegen wie im Fett herausgebraten. Echte Kalorienbomben. Schmalztriefend. Vor allem die Kraftquelle der 1300er Yamaha: 120 Newtonmeter, quasi aus dem Stand. Da reicht ein Zupfer am Gasgriff, und du hängst hinten am Nummernschild. Dieser luftgekühlte Vierzylinder ist die Inkarnation der sanften Gewalt. Brutaler Schub, samtweich serviert – immer und überall. In jedem Gang, in jeder Drehzahlregion. Ohne Verzögerung abrufbar.
Mit einem Schaltgetriebe wurde die XJR nur der Vollständigkeit halber ausgestattet. Das gehört bei einem Motorrad einfach dazu. Wirklich nötig sind die fünf Fahrstufen nicht. Kaum dreht die Kurbelwelle 1000mal pro Minute, rastet der letzte Gang ein. Selten jedoch ohne einen kurzen Zwischenstopp im Leerlauf, da sich der Wechsel vom Ersten in den Zweiten ausnehmend zäh gestaltet. Bei spätestens 3500/min begibt sich der Fuß dann auf die vergebliche Suche nach einer längeren Übersetzung. Dabei würde der Fünfte laut Gangdiagramm bis gut 260 km/h reichen. Am kraftstrotzenden Charakter des Motors liegt’s, der bis weit in den mittleren Drahzahlbereich hinein vollkommen unterfordert wirkt.
Bei der Kawasaki das gleiche Spiel: Ohne jegliche Anstrengung legt sie ein berauschendes Drehmomentfest aufs Parkett. Da wird gebührend Durchzug gefeiert. Nicht ganz so überschäumend wie bei der Yamaha, dafür aggressiver, lauter, kerniger. Bis 4000 Umdrehungen produziert der 1200er Vierzylinder markige Vibrationen, darüber verschreibt er sich der Laufkultur. Die Schaltarbeit gestaltet sich mit der ZRX zwar sehr schön, allerdings erweist sie sich als ebenso überflüssig wie bei der Yamaha. Selbst Schrittempo-Passagen lassen sich allein per Gasgriff und Kupplung regeln.
Allein die Suzuki verlangt nach häufigeren Gangwechseln. Und mit dieser Behauptung landen wir – zack – wieder einmal auf dem dünnen Eis der subjektiven Fahreindrücke, wo schon so mancher Vergleichstest eingebrochen ist. Also – ganz vorsichtig formuliert: Trotz sehr guter Durchzugswerte, ja, ja, gewiß, sie liegen sogar über denen der Kawasaki, fühlt sich die GSX etwas, sagen wir mal, »kurzatmiger« an. Es könnte unter Umständen, nur ganz vielleicht, das heißt natürlich nicht unbedingt, aber doch halt irgendwie möglich sein, daß dies an der Akustik liegt. Oder am etwas längeren Weg des Gasgriffs. Oder an den ausgeprägteren Lastwechselreaktionen des Motors oder an seiner drehfreudigeren Art. Wer weiß. Jedenfalls schaltet man mit der GSX häufiger.
Damit zurück zu völlig unzweifelhaften Axiomen. Zum Beispiel, daß Big Bike fahren absolut klasse ist. Fern aller menschenunwürdigen Verrenkungen im Sattel einer so mächtigen Schubkarre hofzuhalten fördert nicht nur die Beziehung zur Umwelt, sondern auch den biblischen Zugang zum Motorradeln. Keine Frage – so hat sich der Herrgott das damals ausgedacht: zwei Räder, dazwischen ein dicker Motor, drüber ein bequemer Sitz und am breiten Lenker alles im Griff. Sehr elementar. Sehr ehrlich und sinnlich. Sehen, fühlen, riechen – man reißt das Visier auf, läßt den blühenden Tag herein... War diese Welt schon immer so schön?
Am intensivsten fühlt sich die Sache auf der üppig gestalteten Yamaha an, die auch als Sitzgruppe im Schaufenster von Habitat stehen könnte. Derart ausufernde Platzverhältnisse findet man auf Motorrädern selten vor. Das gilt für vorn wie hinten. Die Kehrseite der Medaille: Beim Handling schneidet die wohlbeleibte 1300er am schlechtesten ab. Obschon sie deutlich agiler auf den Beinen ist als ihre Vorgängerin XJR 1200, die mit einem 130er Vorderreifen gestraft war.
Trotz seiner vergleichsweise trägen Art schwingt der Wuchtbrummer jedoch zehnmal leichter ums Eck als erwartet. Und die Schleifen, die er gut geglätteten Straßen abgewinnt, haben etwas sehr Hoheitsvolles an sich. Auf schlechtem Terrain ist’s dann aber vorbei mit der Würde. Vor allem wegen der hoffnungslos unterdämpften, viel zu weichen Gabel. Doch auch die laschen Federbeine bringen Unruhe ins Fahrwerk. Und wenn 254 Kilogramm Schwermetall erst mal in Wallung geraten, ist was geboten. Da freut man sich doch über eine fein dosierbare Bremse.
GSX fahren ist anders. Weniger majestätisch. Eher aufmüpfig. Fast keck. Die Beine sportlich angewinkelt, stürzt man sich gieriger ins Winkelwerk. Wer direkt von der Yamaha umsteigt, empfindet die gebotene Handlichkeit schon fast als Nervosität. Aber nicht lange. Je kleiner und mieser die Straßen, desto tiefer spielt sich die Suzuki in die Herzen ein. Mühelos nimmt sie jede noch so verwegene Kurvenkombination. Leichter kann Big Biken nicht sein.
Mit steigendem Tempo mischt sich dann leider die übertrieben komfortable Fahrwerksabstimmung ins Geschehen. Das Pumpen der Federelemente kann beim besten Willen nicht für gut befunden werden. Genaugenommen steht es dem hektischen Auf und Ab, das die Yamaha veranstaltet, kaum nach. Trotzdem liegt die 21 Kilogramm leichtere Suzuki ruhiger.
Die Sitzbank der GSX wirkt nicht unbedingt ausgeklügelt. Etwas zu weich und zu rund und zu kurz. Überhaupt scheint man sich bei Suzuki nicht allzu lange mit Detaillösungen beschäftigt zu haben. Beispiel hintere Fußrasten: wirklich sehr nett, die putzigen Teile, auf Dauer jedoch unkomfortabel. Beispiel Bremsen: Wirkung okay, Dosierung na ja. Beispiel Scheinwerfer: sieht blendend aus, in seinem verchromten Topf, erweist sich aber als trübe Tasse. Kein vergleich mit dem Strahler der Yamaha. Die Kawasaki bringt ebenfalls mehr Licht.
Wenig Glanz herrscht hingegen hinterm Rechteckscheinwerfer der ZRX. Schwarz ist edel, keine Frage. Und en vogue ist Schwarz sowieso. Das weiß man bei Kawasaki. Was man anscheinend nicht wußte: Schwarz im Cockpit wirkt irgendwie freudlos, vor allem wenn es nicht aufhört - sich über Gabelbrücke, Lenker und Hebeleien ergießt. Da findet das Auge so gar keinen Halt, und der Blick fällt, nachdem er Tacho und Drehzahlmesser gestreift hat, unweigerlich in ein dunkles Loch.
Abgesehen davon bietet die Kawasaki echte Highlights. Allein diese Dreiecks-Schwinge mit Exzenterspannern, die Sechskolben-Bremsanlage – das Fahrwerk überhaupt. Keinerlei Stabilitätsprobleme. Zudem läßt sich die Abstimmung der Federelemente zigfach verstellen. Da sollte für jeden Typ und Einsatzzweck das passende Set-up zu finden sein. Auch den Zweipersonenbetrieb meistert die ZRX mit Bravour. Schade nur, daß der hintere Sitzplatz so gar nichts taugt. Derart hoch angebrachte Fußrasten bringen selbst den leidensfähigsten Passagier zum winseln.
Vorn sitzt man gut. Ergonomisch liegt die Kawasaki zwischen GSX und XJR. Störend wirken höchstenfalls die Kanten am Tank. Allerdings soll es Leute geben, die darauf stehen: »Ein, zwei Druckstellen schaden nie«, sagen sie. Das verstärke die Beziehung zum Untersatz. Sei’s drum. Tatsache ist, daß die ZRX am ehesten zu sportlichen Aktivitäten animiert. Sie vermittelt den besten Kontakt zwischen Mensch, Maschine und Fahrbahn, lenkt am präzisesten ein, hält tadellos die Spur. Wer will, kann die Welt im Zeitraffer vorbeirauschen lassen. Immer und überall. Noch dazu mit relativ gutem Gewissen, da die ZRX über ein Sekundärluftsystem verfügt. Yamaha und Suzuki entlassen ihre Abgase völlig ungeniert in den Orbit. Zur Ehrenrettung der GSX sei gesagt, daß sie zumindest relativ wenig verbraucht, zur Ehrenrettung der XJR gibt’s nichts zu sagen, denn sie säuft wie ein Loch.
Auf anderen Ebenen schmeichelt sich die Dicke wieder ein: So verfügt sie beispielsweise über ein Sammelsurium an Gepäckhaken, und einen Hauptständer hat sie auch. Gleichfalls mit Hauptständer ausgestattet: die ansonsten eher spartanische Suzuki. Allein die Kawasaki kommt ohne daher – ist ja auch irgendwie Sportlerin, die Grüne. Eben drum trägt sie diese kleine Cockpitverkleidung, die – man glaubt es kaum – so etwas Ähnliches wie Windschutz bietet. Suzuki und Yamaha kommen ohne Gesichtsmaske daher, zugunsten der Schönheit. Das ist edel. Die Frage ist nur: Was fängt man mit dem ganzen Schub an, wenn’s einen bei 160 km/h fast von der Kiste zieht?
Ein Problem, das jeder mit sich selbst abmachen muß. Nur soviel: Schub hat mit Genuß und ziemlich wenig mit der Ausnutzung von hohen Geschwindigkeiten zu tun. An dieser Stelle einen schönen Gruß an alle Sensationsreporter. Stichwort Hayabusa. Mehr darüber auf Seite 69.

Unsere Highlights

Problemzone Fahrwerk: die Einstellung macht’s

Die perfekte Fahrwerksabstimmung, passend für jeden Fahrertyp, Einsatzzweck und obendrein den Soziusbetrieb, gibt es nicht. Deshalb besitzen die meisten Maschinen einstellbare Fahrwerkskomponenten. Mal mehr - mal weniger.Kawasaki ZRX 1100: Die steife Gabel und Schwinge sorgen für Fahrstabilität. Die Grundabstimmung der Dämpferelemente ist ausreichend straff gewählt. Sowohl vorn wie hinten lassen sich Zug- und Druckstufendämpfung als auch Federbasis über einen sehr breiten und wirkungsvollen Bereich verstellen. Außerdem läßt sich über den Exzenterspanner am Hinterrad das Fahrzeugheck anheben, was sich positiv aufs Handling auswirkt. Ob komfortabel, sportlich straff oder mit Sozius und Gepäck, die Kawasaki kann alles.Suzuki GSX 1200: Ihr Fahrwerk läßt sich vorn gar nicht, hinten in Federbasis und Druckstufe verstellen. Durch die recht schwache Zugstufendämpfung der Federbeine bewirkt deren Vorspannung allerdings, daß sich das Fahrzeugheck auf langen Wellen noch stärker aufschaukelt. Lediglich im Soziusbetrieb empfiehlt sich, das Heck über die Federbasis vollständig anzuheben, da die Federung sonst ständig auf Block geht. Diese Stöße sind sehr unkomfortabel für die Besatzung und sorgen in Kurven für starke Rührbewebungen. Der viel zu weichen Gabel kann nur mit dickerem Gabelöl, geringerem Luftpolster oder gar einer härteren Feder auf die Sprünge geholfen werden.Yamaha XJR 1300: Wer an der viel zu schlappen XJR-Gabel die Front per Federbasisverstellung anhebt, wird sich über das Gefummel ärgern. Auch hier bringt nur der Tausch von Gabelöl und Feder zufriedenstellende Ergebnisse. Hinten kann ebenfalls nur die Federbasis etwas umständlich mit zwei Hakenschlüsseln verstellt werden, was aber nicht viel bewirkt, da sich die Dämpfung nicht anpassen läßt. Der Effekt ist ähnlich wie bei der Suzuki. Das Heck federt zu schnell aus und neigt so zum Schaukeln.Es gilt also: Einstellmöglichkeiten ja - aber bitte sinnvoll.

Kawasaki ZRX 1100

1. Platz»Hab’ ich«, bekundet die ZRX bei jedem Stichwort: Power, Durchzug, Handlichkeit, Stabilität, Zielgenauigkeit, Windschutz, gute Bremsen, voll einstellbare Federelemente – »hab’ ich alles«. Sie kommt mit der Souveränität einer Siegerin daher, die ZRX. Erlaubt sich nur einen einzigen Schnitzer. Und zwar auf dem weiten Feld der Soziustauglichkeit: Wohl hält das Fahrwerk der Doppelbelastung locker stand, der hintere Sitzplatz hingegen ist eine Zumutung. Viel zu hoch angebarchte Fußrasten vereiteln jede traute Zweisamkeit.

Suzuki GSX 1200

2. PlatzSo groß - und doch so klein. Verblüffend, die GSX. Wirkt von außen her so respektheischend wie ein ausgewachsenes Big Bike und verliert nach der Erstbesteigung jeglichen Schrecken: Niedrig, schmal und kurz, kommt sie nicht nur Bonsai-Motorradlern entgegen, sondern auch ambitionierten Kleinstkurvenkünstlern. Zweifellos hat die Suzuki das agilste Fahrverhalten. Bei hohem Tempo sorgt die weiche Federung allerdings für leichte Stabilitätsprobleme. Der Motor geht gut. Wirkt aber kurzatmiger als die beiden anderen Triebwerke.

Yamaha XJR 1300

3. PlatzJa, so stellen wir uns einen Big Bike-Motor vor. Ein Zupfer am Gasgriff, und es katapultiert dich in die Umlaufbahn. Dabei wirkt er so sanft, dieser 1300er Vierzylinder, schiebt samtweich an. Weniger überzeugend: das Fahrwerk. Hoffnungslos unterdämpft und mit viel zu weichen Gabelfedern ausgestattet, gerät es vor allem auf schlechten Straßen vom Pfad der Tugend ab. Stabilität und Zielgenauigkeit gehen ziemlich flöten. Zum Glück bleibt die Handlichkeit einigermaßen erhalten. So behält man die Fuhre gut im Griff.

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MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023