BMW hat es längst getan, Aprilia sowieso. Bei Kawasaki hat es ohnehin Tradition, selbst Suzuki ist jüngst dahintergekommen. Und nun endlich auch Yamaha. Endlich lassen die Japaner ein Power-Naked-Bike reinsten Wassers vom Stapel, direkt abgeleitet vom Supersportler. Nach dem eher glücklosen Versuch mit der zwar hübschen, aber zu braven FZ1 jetzt also das R1-Derivat Yamaha MT-10. Kraftstrotzend, aggressiv, so steht die MT-10 auf ihren neongelben Rädern, blickt grimmig aus den beiden dem Supersportler entnommenen LED-Scheinwerfern. Und macht unmissverständlich klar, dass sie gekommen ist, um die Riege der starken Nakeds gehörig aufzumischen.
Die Voraussetzungen dafür sind in der Tat ausgezeichnet. Technisch lehnt sich die Yamaha MT-10 eng an die R1 mit ihrem fantastischen Fahrwerk an. Und sie trägt natürlich auch den Crossplane-Vierzylinder des Superbikes, dessen asymmetrische Zündfolge für die knurrige Tonlage und das V4-Feeling sorgt. Die ursprünglichen 200 R1-PS dampften die Entwickler auf immer noch kraftvolle 160 PS ein, stärkten dafür das Drehmoment im unteren und mittleren Drehzahlbereich. 111 Nm bedeuten praktisch Gleichstand mit der R1, nur liegen diese jetzt bei 9000/min, also ganze 2500/min früher an. Die Entwickler wollten beeindruckenden Schub aus tiefsten Lagen, mit ein paar kleinen Retuschen war das nicht zu machen.
Rund 40 Prozent des Motors sind neu, die größten Änderungen spielen sich im Kopf ab. Neue Nockenwellen, engere Einlasskanäle und Einlassventile mit 31 statt 33 mm Durchmesser, dazu überarbeitete Brennräume und eine von 13 : 1 auf 12 : 1 gesenkte Verdichtung. Neue Schmiedekolben geben ihre oszillierende Bewegung nun über gecrackte Stahl statt Titanpleuel an die Kurbelwelle weiter. Diese bekam rund zwei Kilo mehr Schwungmasse, während die Airbox um zwei auf zwölf Liter anwuchs. Die Yamaha MT-10 kommt mit einer Einspritzdüse pro Zylinder aus und verzichtet auf die variablen Ansaugtrichter. Zieht die R1 ihrem Fahrer mit einer Leistungsexplosion im oberen Drehzahlbereich die Arme lang, soll die MT-10 das mit kräftigem und gleichmäßigem Druck von unten heraus erledigen.
Locker-lässige Sitzposition auf der Yamaha MT-10
Damit der Yamaha MT-10-Fahrer jederzeit Herr der Lage bleibt, modellierten die Entwickler eine locker-lässige Sitzposition. Der Tank vielleicht nicht ganz so schmal wie erwartet, aber die Beine ruhen unverkrampft auf den Rasten, der Oberkörper stützt sich leicht nach vorne gebeugt auf den konifizierten Alu-Lenker. Aktiv, voller Tatendrang. So, genug geschaut, Druck aufs Knöpfchen. Und dann meldet sich der Vierzylinder zu Wort. Röchelt im Stand heiser mit diesem wohligen V4-Knurren vor sich hin. Die Anti-Hopping-Kupplung braucht nur wenig Handkraft, der erste Gang rastet ein, ab geht’s. Wenn auch vorerst mit gebremstem Schaum. Die Straßen rund um das südspanische Mojácar sind noch klatschnass von einem kräftigen Regenguss.

Knapp über Standgas zieht der Vierzylinder stramm an. Drei Motor-Mappings hält die Yamaha MT-10 bereit: „Standard“, „A“ und „B“. Alle mit voller Leistung, aber unterschiedlichem Ansprechen. „Standard“ ist in der Stadt und auf den langsam trocknenden Straßen okay, auch wenn beim ersten Öffnen der Drosselklappen der Motor verhalten ans Gas geht. „A“ lässt ihn bei akzeptablen Lastwechseln spürbar direkter agieren. Wer es richtig giftig mag, greift zu „B“. Bissig reagiert der Reihenvierer dann auf Gaskommandos, springt förmlich ans Gas und kappt ebenso abrupt die Leistung beim Schließen des Gasgriffs wieder. Also heißt unsere Wahl auf den abtrocknenden Straßen „A“.
Prächtig schiebt der MT-10-Antrieb aus den Ecken voran, hat gegenüber der R1 untenrum spürbar Kraft getankt. So lässt es sich bestens auf der Drehmomentwelle reiten, die sich bereits bei 4000/min ordentlich auftürmt. Kraftvoll sprintet die Yamaha MT-10 voran; ab 6000/min ist Feuer in der Hütte, und die MT-10 dreht fulminant und ohne Hänger in Richtung Begrenzer. Mit diesem speziellen Röhren, das irgendwo zwischen V4 und MotoGP-Rakete liegt. Die 40 PS, die ihr zur R1 fehlen, vermisst man dabei nicht wirklich. Dank kräftigeren Drehmoments und kürzerer Sekundärübersetzung (Kettenblatt 43 statt 41 Zähne) genießt man den kraftvollen Antritt am Kurvenausgang auch in höheren Gängen trotz der rennmäßig eng gestuften Schaltbox der R1 mit ellenlangen unteren Gängen. So reicht der erste Gang noch immer bis 130 km/h. Behalten hat die MT-10 auch die knochigen Gangwechsel. Einen Schaltautomaten gibt es optional für 274 Euro.
Wuchtig schleudert die Yamaha MT-10 ihren Piloten von Kurve zu Kurve. Am Kurvenausgang wacht eine dreistufige Traktionskontrolle über das Hinterrad. Die Stufen eins und zwei lassen dabei sahnige Wheelies zu, während die am frühesten eingreifende Stufe drei diese hemdsärmelig unterbindet. Die ausgeklügelte Elektronik der R1 mit Schräglagensensorik besitzt die MT-10 nicht. Am Kurveneingang packen die bewährten Radialzangen gut dosierbar und kraftvoll zu. Ihnen steht ein Bosch-ABS zur Seite, allerdings ohne Überschlagserkennung.
Zuladung fällt mit 170 Kilogramm mager aus
Treffsicher sticht Yamahas Power-Naked in die Kurven. Chassis und Schwinge stammen von jenen der R1 ab, erhielten nur gezielte Änderungen bei der Steifigkeit. Der Radstand unterbietet mit 1400 mm sogar den des Sportlers. Der Pilot hat wenig Mühe, die laut Yamaha vollgetankt 210 Kilo leichte Yamaha MT-10 schwungvoll von einer Schräglage in die nächste zu werfen. Trotz ihres niedrigen Gewichts fällt die Zuladung mit 170 Kilogramm allerdings mager aus, ist mit zwei gut genährten Mitteleuropäern schon beinahe ausgeschöpft. Doch für Fernreisen gibt es ohnehin geeignetere Maschinen – daran ändert auch der serienmäßige Tempomat nichts. Auch nicht Packtaschen und Verkleidungsscheibe aus dem Zubehörprogramm – das Revier der MT-10 bleiben Kurven. Willig biegt sie ein, fegt stabil durch lang gezogene Rundungen. In Schräglage gibt es praktisch kein Aufstellmoment, von Bodenwellen lässt sich Yamahas Power-Naked auch nicht beirren.
Die Gabel federt und dämpft angenehm komfortabel, straffer geht’s an der Hinterhand zur Sache. Auf kurze Stöße reagiert das Federbein der Yamaha MT-10 mit Härte. Doch sorgen die Federelemente für erdig-satte Straßenlage. Immerhin entstammen auch sie der R1. Richtig gutes Material, voll einstellbar, hinten gar mit getrennter High- und Lowspeed-Druckstufe.
Nur zur rasiermesserscharfen Kurvengier der Klassenbesten fehlt vielleicht noch ein Quäntchen. Das könnten vielleicht schon andere Reifen liefern, die Yamaha MT-10 rollt auf nicht mehr ganz taufrischen Bridgestone S20. Auf jeden Fall ist sie bereit, im Kampf um die Power-Naked-Krone mitzureden. Mit extrovertiertem Design, charismatischem Motor und Durchzugskraft. Und einem Preis, der mit 12.995 Euro ebenfalls als Kampfansage zu verstehen ist.
Technische Daten Yamaha MT-10
