Autobahnausfahrt Aachen-Lichtenbusch. Das Summen des Windes ist verebbt, und das Brabbeln von Dianas Yamaha XT 660 R dringt bis unter meinen Helm. An der Ampel warten wir auf Grün. Rechts geht’s zum Aachener Dom und zu Karl dem Großen. Blinker links Richtung großartige Eifel. Nein, wir machen keine Eifeltour. Wir wollen an der Bundeslandgrenze Nordrhein-Westfalens einmal im Kreis fahren. 1.300 Kilometer gegen den Uhrzeigersinn. Dabei lässt sich die Eifel erfreulicherweise nicht vermeiden. Doch zunächst müssen wir noch eine andere Frage klären: Wie eng wollen wir es mit der Grenzverfolgung halten?
Wuselstraßen wie aus dem Kurvenbilderbuch
Sehr eng! Zu eng! Ständig sind wir mit einer Fußraste in Belgien. Und es kommt noch kurioser: Die deutsche B 258 schwenkt hinter Roetgen nach Belgien ab, bleibt deutsche Bundesstraße, durchquert die Provinz Lüttich und kommt, ohne dass es eine Kreuzung gegeben hätte, bei Konzen wieder nach Deutschland. Und dann geht es richtig rund! Hellenthal, Manscheid, Dollendorf – alles gen Bundeslandnachbar Rheinland-Pfalz. Wuselstraßen wie aus dem Kurvenbilderbuch. Erst der Rhein macht dem ein vorläufiges Ende. Wir verschnaufen auf der Fähre von Bonn-Bad Godesberg nach Niederdollendorf. Die "Konrad Adenauer" treibt gelassen über den ebenso entspannt strömenden Fluss. Helm ab, Flussbrise einatmen und kurz auf Bonn zurückblicken. "Was meinst du wohl, wie die Leute in 100 Jahren über die Ex-Hauptstadt denken?" – "Wahrscheinlich wird’s ähnlich wie mit Avignon sein: Früher residierte da der Papst. Früher."
Bergisches Land, Sauerland, Weserbergland
Apropos Papst: Wir haben den Papst in der Tasche! Denn von nun an geht es schnurstracks durch einige der besten Motorradreviere NRWs: Bergisches Land, Sauerland, Weserbergland. Irgendwo, es muss zwischen Reichshof und Kreuztal sein, beginne ich, mich zu fragen, wie lange wir für die Runde benötigen werden. Nicht weil mir langweilig wird, im Gegenteil: Die Gänge meiner Ténéré flitschen nur so durch – ich bin bereits nahe einem schon länger nicht mehr erlebten Fahrrausch – als hinter mir das Fernlicht von Diana aufflackert. "Was ist denn mal mit Pause?" – "Äh, ja klar. Hast du irgendwo was gesehen? Am letzten Ort sind wir schon länger vorbei." Sie grinst verschmitzt, wie sie es gerne macht, wenn sie mir etwas voraushat. "Proviant habe ich dabei."
Ein abgelegener Waldweg. Ein sonnenbeschienener Baumstumpf. Wind rauscht durch die Blätter. Aus der Thermoskanne dampft Milchkaffee. Frisches Brot mit Käse, Gurkenstreifen und getrockneten Tomaten. Mit einem Mal verlagert sich das Gefühl, statt auf Ausflug nun auf einer richtigen Reise zu sein. Unabhängig. Nicht zwingend bei einem Restaurant zu stoppen, weil der Hunger nagt. Zu pausieren, wo die Pause auch wirklich lohnt. Jedoch nur, wenn man sich – wie Diana im Gegensatz zu mir – vorher in einem Laden mit guten Sachen eingedeckt hat.
Erndtebrück – Bad Berleburg – Medebach
Ach ja, Laden: Ganz Nordrhein-Westfalen ist so etwas wie ein Gemischtwarenladen. Zusammengewürfelt aus dem, was im Namen steht. Eine Zweckehe nach dem Zweiten Weltkrieg, die erstaunlich gut funktioniert. Und das, obwohl die Pferdenarren aus dem Münsterland mitansehen müssen, wie die Rheinländer ihr Lieblingstier zu Sauerbraten machen. Doch wieder zur Sache: Ich lasse die Kupplung schnalzen. Erndtebrück – Bad Berleburg – Medebach. Schlösser, Fachwerk. Wenn man aus der Großstadt kommt, wirkt’s hier beschaulich. Das Leben läuft relaxter. Wir schalten einen Gang runter und kommen trotzdem in den Flow, den ich vorhin aus Pausengründen nicht erreichte. Großartig! Warum bin ich nie hier gewesen? Kenne ich tatsächlich nur so wenig von meinem eigenen Land?
Na ja, ein paar Kleinigkeiten hätte ich schon auf der Pfanne. Zum Beispiel, dass wir geradewegs auf einen Fake-Vulkan zuhalten. Nach dem schräglagenfreudigen Sauerland cruisen wir jetzt nämlich über die Warburger Börde. Der Kegel vom Desenberg, der über der Verkleidungsscheibe auftaucht, wollte mal ein Vulkan werden. Aber zu einer gescheiten Eruption hat es nie gereicht. Ein Rohrkrepierer der großen Art. Geblieben ist der Schlot, der einmal Magma war. Alles um ihn herum ist wegerodiert. So wie die Reifenflanken meiner T7 nach gut 600 Kilometer Kurventanz. Aber ab jetzt wird mehr die Mittelrille dran glauben müssen. Entlang der nächsten Grenze: Niedersachsen. Mit einer Raste sind wir schon fast in der Weser. Seit Beverungen spiegelt sich die wässrige Bundeslandgrenze rechts von uns. Gemütliches motoflanieren entlang des Flusses bis nach Höxter. Für mich eine der kleinen Perlen, an die sich vor einiger Zeit eine noch dickere angereiht hat: Das benachbarte Kloster Corvey wurde zum Weltkulturerbe ernannt. Kann man da einfach dran vorbeifahren? Wie wäre es mit einem Deal? Erst Kulturerbe und dann örtliches Motorraderbe auf dem Köterberg? Deal!
3. Landesteil von Nordrhein-Westfalen
Eigentlich könnte man die Anfahrt zum Berg mit einem ordentlichen Einkehrschwung nehmen. Aber das haben offenbar schon andere vor uns getan. Mit zu viel Schwung. Wir sind artig, und zum Dank rollt NRWs östlichster Bikertreff die Panoramatapete aus. Jetzt ein Fernglas! Ich hätte da noch was auf der Klugscheißer-Pfanne: Wir sind im dritten Landesteil von Nordrhein-Westfalen. "Hä? Was soll denn da außer Rheinland und Westfalen noch sein?" Das Lipperland. Denn das verlor erst 1947 nach 800 Jahren seine Selbständigkeit und musste sich nach dem letzten Krieg zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen entscheiden. "Lipperland? Nie gehört." – "Na, hier. Und das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald gehört auch dazu. Vielleicht können wir es sogar aus der Ferne sehen …"
Nix da! Kein Hermann. Dafür schlenzen wir durchs Extertal und an seinen kuriosen Steinen vorbei. Ein Ausflug, den ich zuletzt in der siebten Klasse gemacht habe. Oder war’s die achte? Ich werde ohnehin das Gefühl nicht los, dass ich auf einer nicht ganz ausgegorenen Mission bin, Versäumtes aus dem Geschichtsunterricht nachzuholen. Vermutlich hatte ich damals einen Fensterplatz. Sonst wüsste ich, was es mit der Porta Westfalica auf sich hat. Tor nach Westfalen, so viel ist klar. Aber warum musste man da so ein protziges Ding hinklotzen? Der Hermann allein hätte doch schon genügt.
Hoppla! Bei dem ganzen Hin- und Hergedenke habe ich das Hin- und Hergefahre schlabbern lassen. So stehen wir plötzlich in Rinteln, Niedersachsen. Na, komm, das müssen wir ja niemandem verraten. Genauso wenig wie den Abstecher nach Aalten, direkt hinter der niederländischen Grenze. Wir dachten, dass wir Angus Young, dem AC/DC-Gitarrenzupfer, der dort wohnt, mal winken könnten. Wir haben auch gewunken. Aber gesehen wird er es wohl nicht haben. Wahrscheinlich war er irgendwo wieder mit seinem elektrischen Eierschneider zugange. Und wir sind wieder im Grenzbereich unterwegs. Diesmal haben wir die Maas immer in Sichtweite. Die Mittelgebirge liegen lange hinter uns. Und deutlich mehr als 1.100 Kilometer. Aachen ist schon wieder sehr nah, und wir rollen lässig aus. "Ich hätte nie gedacht, dass so viel Unbekanntes und Wissenswertes vor der Haustür liegt." – "Vielleicht solltest du statt des Fernglases öfter mal ein Mikroskop zur Hand nehmen." Diana grinst.