2016 war das letzte Modelljahr, in dem fast jeder der großen namhaften Hersteller noch einen 600er-Supersportler im Programm hatte. Das Ende der Saison 2016 bedeutete damit das Aus für die Klasse.
2016 war das letzte Modelljahr, in dem fast jeder der großen namhaften Hersteller noch einen 600er-Supersportler im Programm hatte. Das Ende der Saison 2016 bedeutete damit das Aus für die Klasse.
Bei Honda verdichteten sich schon länger die Anzeichen, Suzuki und Kawasaki wollten es nur noch nicht offiziell kommentieren und bei Triumph pfiffen es die Spatzen schon vorher von den Dächern: 2017 stellen diese vier Hersteller die Produktion ihrer Supersport-600er ein – einige ganz, andere zumindest für Europa. Die CBR 600 RR, GSX-R 600, ZX-6R und Daytona 675 sind damit Geschichte. Dass ausgerechnet 2017 dieser Totentanz der einst so erfolgreichen Klasse stattfindet, hat einen einfachen Grund. Der heißt Euro 4. Die damit verbundenen Investitionskosten und die im Vergleich dazu miserablen Absatzzahlen stehen sich unvereinbar gegenüber.
Betrachten wir zunächst einmal die Absatzzahlen der letzten 25 Jahre, dann waren die 600er einst eine echte Macht bei den Umsätzen der Hersteller. Die investierten kräftig in ihre Supersportler, und wer nicht alle zwei Jahre ein Modell-Update brachte, drohte abgehängt zu werden – in einer Klasse, die sich lohnte.
Im Jahr 1998 wurden allein in Deutschland über 12.000 Supersport-600er verkauft. So viele wie nie zuvor oder danach. In den Jahren unmittelbar davor und danach lag die Stückzahl aber fast immer im fünfstelligen Bereich. 2003 waren es dann noch mal fast 10.000 Stück, aber auch bis 2007 reichte es immerhin noch für über 8.000 Einheiten pro Jahr. Die legendäre Honda CBR 600 F hält bis heute mit 3.800 Stück im Jahr 1996 hierzulande den Rekord in der Klasse.
Heute verkaufen alle 600er-Hersteller zusammen im Jahr aber keine 700 Stück mehr. In anderen Ländern Europas sieht es noch düsterer für die 600er aus. Während aber in Deutschland der Motorrad-Nachwuchs generell fehlt, haben wirtschaftliche Schwierigkeiten einhergehend mit hoher Jugendarbeitslosigkeit den 600er-Markt in Südeuropa, wo die kleineren Sportler bei den Jüngeren hoch im Kurs standen, ausgetrocknet.
Keine guten Voraussetzungen, um die Entwicklung voranzutreiben. Dazu stehen jetzt angesichts der Euro 4-Regelungen seit 1. Januar 2017 hohe Investitionen an, um die Fahrzeuge überhaupt weiter verkaufen zu können. Doch rechnet sich dieses Investment gerade für die 600er-Klasse überhaupt noch? PS hat bei den Herstellern recherchiert, welche Investitionen für einen Euro 4-Supersportler genau nötig wären. So richtig wollte sich keiner in die Karten schauen lassen, aber ein Entwicklungsingenieur in Italien hat uns einige Zahlen zukommen lassen.
Drei wichtige Felder sind von den Euro 4-Bestimmungen betroffen, nämlich Abgas, Geräusch und Ausgasung von Treibstoff. Entscheidend für die Höhe der Kosten in diesen Bereichen ist grundsätzlich die Entwicklungsstufe des aktuellen Motorrads, also hat es beispielsweise bereits Ride-by-Wire. Damit lassen sich die Kosten etwa bei den Abgasen schon eindämmen gegenüber Motorrädern, die noch keine topmoderne Elektronik besitzen. Mit Ride-by-Wire, geänderten Steuerzeiten und einer neuen Auspuffanlage ist die Euro 4-Norm mit überschaubarem Aufwand zu schaffen – wenn auch meist verbunden mit Leistungsverlust. Dennoch belaufen sich solche Entwicklungskosten schnell auf 200.000 bis 500.000 Euro.
Die Lautstärke-Bestimmungen haben einen großen Einfluss auf den Motor und das ganze Fahrzeug. Die Euro 4-Testverfahren für die Homologation beziehen die Drehzahlen, das Fahrzeuggewicht und die Beschleunigung mit ein. Auf eine einfache Formel gebracht: Der leichteste Weg, Euro 4-Geräuschvorschriften zu erreichen, wäre es, wenig PS bei einem hohen Fahrzeuggewicht, aber viel Drehmoment bei niedrigen Drehzahlen zu haben. Das ist bei der Entwicklung einer scharfen 600er jedoch keine gute Idee. Deshalb betrifft die Entwicklung der Supersportklasse die Punkte Ansaug-, Motor- und Auspuffgeräusch ganz besonders, dazu kommen mechanische Geräusche etwa von der Kette. Und das kann unter Umständen die 1,5-Millionen-Marke bei den Entwicklungskosten durchschlagen.
Vergleichsweise günstig ist da der nötige Einbau eines Kohlefilter-Behälters, der die austretenden Benzindämpfe wegfiltert. 600er-Modelle, die bereits nach Kalifornien ausgeliefert wurden, haben dieses Bauteil schön länger, man muss diese Maßnahme nun einfach auf alle Fahrzeuge ausweiten. Aber schon die Software-Updates mit teilweise jetzt vorgeschriebenen Anzeigemöglichkeiten des Verbrauchs und damit neuer Displays frisst wieder Entwicklungsgeld und schlägt bei einem kleinen Hersteller von 600ern wie etwa Triumph oder MV Agusta noch einmal mit rund 50.000 Euro zu Buche. Und zu guter Letzt müssen die Testverfahren und die Zulassung auch bezahlt werden. Das kostet noch einmal um die 150.000 Euro. Demnach müsste ein Hersteller allein für diese Entwicklung fast 2,5 Millionen Euro in die Hand nehmen.
Angesichts der Absatzzahlen von 600er-Supersportlern weltweit und ganz besonders in Europa ist das eine gewaltige Summe, die die Hersteller an die Kunden weitergeben müssten. Die Fahrzeuge würden entsprechend teuer. Das sind sie aber ohnehin schon.
Eines der am häufigsten aufgeführten Argumente, warum sich Sportmotorrad-Fans lieber für eine 1000er-Maschine als eine 600er entscheiden, ist der marginale Preisunterschied im Vergleich zur gebotenen Leistung. „Leistung ist nun einmal ein starkes Verkaufsargument bei Supersportlern“, erläutert Gerhard Lindner, Projektleiter der S 1000 RR bei BMW. Der deutsche Supersport-Meister von 1992 sieht das Aus der 600er jedoch nicht so dramatisch. „Die 1000er sind doch heute so fahrbar geworden, dass es weder auf der Straße noch auf der Rennstrecke groß Argumente für den Kauf einer 600er gibt, die dann auch noch annähernd dasselbe kostet.“
Ähnlich sieht es Jörg Teuchert. Der Ex-Supersport-Weltmeister findet es natürlich schade, dass die 600er verschwinden, weil sie viel Fahrspaß gerade auf der Rennstrecke bieten. „Aber heute kannst du jeden Teletubby auf eine 1000er setzen, und es geht gut“, so Teuchert. „Als Instruktor kann ich beobachten, welche Fehler die Leute machen. Trotzdem bleiben sie sitzen. Früher wäre das schiefgegangen, weshalb es dann immer hieß: Lerne mit einer 600er das Fahren, dann kannst du auf die 1000er aufsteigen.“
Den bisher logischen Weg über die 600er in die Superbike-Klassen wird es auch sportlich nun wohl nicht mehr lange geben. Eine Entwicklung, die Thomas Kohler, Koordinator des Yamaha-Cups, allerdings mit Sorge sieht: „Du gehst doch aus dem Kindergarten auch nicht direkt aufs Gymnasium. Mir fehlt der Schritt von den wirklich kleinen Klassen der Youngster zu den Superbikes, wenn die 600er fehlen.“
Wie lange die Supersport-WM überhaupt noch läuft, ist dann eben auch die große Frage. Ohne viele verschiedene Hersteller verliert diese Rennserie an Attraktivität. Die Dorna hält sich als Rechteinhaber hier mit einer Einschätzung momentan noch zurück. National ist die 600er-Klasse aber schon fast tot. In der IDM starten in der Stock 600 gerade noch 15 fest eingeschriebene Piloten.
Da die Maschinen nicht mehr oder nur noch teilweise weiterentwickelt werden, könnten 600er-Piloten künftig zwar auf bestehende Rennmotorräder zurückgreifen und die „alten“ Modelle fahren oder außereuropäische Modelle für den Sport ordern. Suzuki beispielsweise baut die GSX-R 600 weiterhin unverändert für den US-Markt, der nach wie vor 600er haben möchte.
Sieht man den Sinn der Rennklasse allerdings auch darin, dass hier seriennahe Modelle durch Rennsiege für den Kunden attraktiv sein sollen, fällt das Kartenhaus in sich zusammen. Gibt es also bald nur noch 1000er als seriennahe Rennklasse? „Für mich macht der Unterschied von Stock 1000 auf offene Superbikes am meisten Sinn“, sagt Gerhard Lindner. „Damit kann man ebenfalls Kosten sparen, da die Motorräder bereits aus der Kiste schnell sind. Eine ordentlich gehende 600er aufzubauen, ist da vergleichsweise sehr aufwendig. Wer dann von der Stock 1000 den nächsten Schritt machen will, tunt diese Motorräder zu echten Superbikes.“
Yamaha und MV Agusta stehen also ab 2017 allein da, denn nur diese beiden Marken werden neue, Euro 4-konforme 600er anbieten. Wird die Moto2-Klasse im Grand Prix-Sport dann auch von den 600er-Honda-Motoren auf andere Fabrikate umsteigen müssen? Honda wird ja voraussichtlich den Bau der Spenderin CBR 600 RR ab nächstem Jahr komplett einstellen. „Wir haben mit Honda für die Moto2 einen Motorenvertrag bis Ende 2018“, sagt Danny Aldridge, technischer Direktor der MotoGP-WM, gegenüber PS. „Wir würden gern verlängern und sind in Gesprächen mit Honda, aber wir prüfen auch die Möglichkeiten mit anderen Herstellern.“
Doch es droht über 2018 hinaus schon neues Ungemach, denn die Euro 5-Norm soll wohl 2020 mit noch strikteren Regularien für Abgas, Elektronik-Management und Geräuschemissionen kommen. Ob der Markt trotz der jetzigen Herstellerverknappung bei den 600ern für diese weitere Investition dann noch genügend Verkäufe hergibt? „Letztendlich steuert das Kaufverhalten den Markt“, sagt Jörg Teuchert, und deshalb darf am Fortbestand der 600er-Klasse, wie wir sie heute kennen, in der Zeit nach 2020 endgültig gezweifelt werden.
Als Aufsteigerklassen für den Rennsport bieten sich dann vielleicht einfach die Bikes an, die der Markt hergibt. Der alte Gedanke von „Win on sunday, sell on monday“ bekäme dann wieder mehr Gewicht. Dann könnten Motorräder vom Schlag einer Honda CBR 650 F die Lücke schließen. Schließlich fährt schon heute der European Junior Cup mit dem günstigen Alltags-Ableger der teuren CBR 600 RR packende Rennen. Die F verkauft sich auch noch besser als das radikale RR-Renneisen. 436 Stück der mit 8.290 Euro um 4.000 Euro günstigeren Maschine wurden 2015 bei den Händlern geordert. Vielleicht finden die Hersteller einen Weg, mit den fertig entwickelten Supersportmotoren doch noch Euro 4-verträgliche, alltagstaugliche Motorräder für kleines Geld zu bauen – mit denen man dann auch noch günstig Rennen fahren kann. So hat das mit den Supersport-600ern ja mal angefangen, und heißt es nicht: „Totgesagte leben länger“?
Die Statistik macht das ganze Dilemma sichtbar: In zwölf Jahren verlor die Yamaha YZF-R6 als Topseller der 600er-Klasse fast 90 Prozent an Zulassungen. MV Agusta und Triumph (die Daytona 675) boten ihre 600er erst weit nach 2004 an und tauchen deshalb nur mit den Verkaufszahlen des letzten Jahres im Diagramm auf. Bei Kawasaki ist der Hubraum-Unterschied aufgeführt. Während hier der Importeur für 2014 von 96 verkauften 636ern spricht, wurden im selben Jahr beim KBA 126 Zulassungen registriert (das können auch Maschinen aus dem Baujahr 2013 gewesen sein).