Vor der Werkstatt steht ein Baum und unterm Baum steht ein Motorrad, manchmal zwei. Meist sind das dann Maschinen, die in der Werkstatt umgebaut wurden oder aus einer Ansammlung unterschiedlichster Bauteile zu einem Unikat mutiert sind. So wie die kleine Suzuki GS 400 E, aus der über einen langen, strengen Winter eine nette Mischung aus Scrambler und Racer wurde, kurz Scracer 402. Weil sich mittlerweile mehr als ein halbes Dutzend solcher Basteleien angesammelt hat, bleibt kaum noch Zeit, um mit allen auch zu fahren. Also kommen sie unter den Baum.
Wo andere Gartenzwerge aufstellen oder Fischteiche haben, stehen hier eben Motorrad-Skulpturen im Garten. Weshalb Spezl Tommy jedes neue Winterprojekt mit dem Spruch kommentiert: „Aha, wieder mal ein neues Bike zum Untern-Baum-Stellen.“
Bei solchen Macken könnte man sich ernsthaft Gedanken über seinen Geisteszustand machen, wären da nicht die unzähligen Motorrad-Freaks, die genau derselben Bastelleidenschaft erlegen sind. Was letztlich dazu führt, dass die Motorradszene mit unglaublich schönen und pfiffigen Eigenbauten so bunt ist wie nie zuvor.
Spagat zwischen Nutzwert und Faszination
Nicht nur die Kreationen der bekannten Edelschrauber, sondern auch jede Menge private Motorrad-Skulpturen zeugen davon, dass aktuelle Serienmotorräder zweifelsohne zuverlässig und solide daherkommen, den Puls aber lange nicht so beschleunigen, wie ein raffiniert zurechtgemachtes Eigenbau-Motorrad. Allerdings darf man sich nichts vormachen: Herrlich luftige Konstruktionen mit minimalistischer Ausstattung taugen nur bedingt für den Alltag und schon gar nicht für längere Ausfahrten. So manche gefeierte Design-Kreation würde bei einer TÜV-Prüfung sogar die Prüfhallen nur noch auf dem Transporter verlassen – sofort stillgelegt.
Auch Tankvolumen, Ergonomie und Fahrverhalten stehen bei so manchem Umbau-Künstler ganz unten oder gar nicht auf dem Zettel. Selbst bei der hochgelobten BMW R 90 S-Studie von Roland Sands hat der Designer auf den Fahrer keinerlei Rücksicht genommen, Lenker und Verkleidung in erster Linie nach der Optik gestaltet. Fragt sich nur: Wollen wir Motorräder zusammenbasteln, die nur unterm Baum stehen können? Pustekuchen, Motorräder müssen fahren. Und zwar gut, schräg, sicher und zumindest mit einem Hauch von Komfort. Alles andere ist für die Tonne. Genau dieser Spagat zwischen Nutzwert und Faszination sollte bei der Suzuki Scracer 402 bestmöglich gelingen.
GS 400 gehört zu den letzten Vertretern klassischer Motorräder
Als Basis dient der schier unkaputtbare dohc-Motor aus der Suzuki GS 400 von 1978. Mit den beiden demonstrativ zur Schau gestellten Nockenwellen auf dem großzügig verrippten Zylinderkopf, dem schlichten Doppelschleifenrahmen und einer schnörkellosen Tank-Sitzbank-Linie gehört die GS 400 zu den letzten Vertretern klassischer Motorräder. Von der Honda CB Seven Fifty oder Kawasaki Zephyr-Baureihe mal abgesehen.
Rohrrahmen, Drahtspeichenräder, Luftkühlung – die beste Basis für einen schicken Umbau. Denn eines ist auch klar: Plumpe, wassergekühlte Motoren mit entsprechend grauseligem Gummischlauchgewürm bringt auch der genialste Künstler nicht in Form, und für schwülstige Aluminium-Brückenrahmen gilt dasselbe.
Der ganz große Vorteil an der alten GS 400: Die Dinger gehen für kleines Geld über den Tresen und schonen das Budget. Wie auch ein Blick in die einschlägigen Internet-Verkaufsportale zeigt. Klar, wer ins prall gefüllte Portemonnaie greifen kann, darf sich gern einen klassischen, aber auch teuren Engländer oder Italiener zur Brust nehmen. Für alle anderen taugen preisgünstige japanische Youngtimer besser, weil bei guter Pflege oder gründlicher Restaurierung eine passable Zuverlässigkeit garantiert ist. Von der meist gesicherten Ersatzteilversorgung ganz zu schweigen.
Bester Tipp: Nicht plump kopieren, aber anstecken lassen

Das Schöne an solchen Winterprojekten: Man hat keinen Stress. Weil das eigentliche Gebrauchsmotorrad unter der Pelerine vor sich hinschlummert und im Frühjahr im Handumdrehen losbrummt, ist der Zeitdruck erträglich. Wann der Eigenbau tatsächlich fertig wird, ist unerheblich, wichtig ist die Lust am Tüfteln und Basteln. Und das kann sich über Jahre hinziehen. Auch deshalb, weil so ein Projekt oft erst mittendrin Form annimmt.
Dann werden Ideen wieder verworfen, bereits fertige Teile landen in der Mülltonne. Weil ein Gedankenblitz die scheinbar geniale Lösung in den Schatten stellt, kann, nein, muss man sich zu neuen Ideen bekennen. Nichts Beklemmenderes, als ein Projekt durchzuziehen, von dem man nicht überzeugt ist. Das gilt auch für den Punkt, an dem man sich in einer Sackgasse festgefahren hat und für wichtige Details ums Verrecken keine Lösung findet. Der beste Tipp: Schauen, was und wie’s die anderen machen. Nicht plump kopieren, aber anstecken lassen, Ideen aufgreifen, umarbeiten, ans eigene Konzept anpassen. Damit die Bastelei von vornherein in eine klare Richtung geht, helfen auch handgezeichnete Skizzen oder Fotos von Maschinen, die als Vorbild dienen.
Nicht vergessen: Grundfunktion und TÜV-Prüfung
Bei aller Euphorie und Leidenschaft für das eigens erdachte Motorrad nicht vergessen: Grundfunktion und TÜV-Prüfung. Es gibt nichts Lästigeres und ist unter Umständen auch noch recht kostspielig, wenn der fertige Umbau bei TÜV oder DEKRA in Ungnade fällt und die Plakette verweigert wird. Oft sind es nur Lappalien, wie ein zu schräg angestelltes Kennzeichen, Lichtanlagen mit falschen oder schlecht erkennbaren E-Prüfzeichen oder zu kleine Rückspiegel. Wenn aber tragende Bauteile wie etwa ein gekürztes Rahmenheck dem Prüfer ins Auge stechen, wird’s brenzlig. Deshalb sollte jede Änderung oder Schweißarbeit am Hauptrahmen vorher mit einem kompetenten Sachverständigen oder einer Fachwerkstatt durchgesprochen werden. Dasselbe gilt auch bei der Verwendung von Bauteilen von anderen Fahrzeugtypen oder Herstellern. Ein großes Plus, um solche Teile ohne unbezahlbare Festigkeitsgutachten zu legalisieren, ist es, wenn sie nachweislich von Fahrzeugen stammen, die schwerer (Traglast) oder schneller sind als der Umbau. Ein Umstand, der bei der Suzuki Scracer 402 die Zulassung wesentlich vereinfacht hat.
Auch bei der ersten Hauptuntersuchung zwei Jahre nach dem Stapellauf gab’s vom TÜV-Prüfer neben einem netten Kompliment die Plakette ohne Mängel. Als Stadt- und Kurzstreckenflitzer eingesetzt, stehen inzwischen gut 10.000 Kilometer auf der Uhr – ohne Ausfall, ohne Defekt. Nur beim Motoröl muss man gelegentlich etwas mehr als üblich nachgießen. Aber sonst, alles paletti.
Weshalb als Depressionshemmer für den Winter 2014 schon das nächste Projekt in allen Einzelteilen zerlegt auf der Werkbank liegt: eine BMW R 80 G/S von 1982. Eigentlich sollte ich nur einen Zweiseiter unter der Rubrik „Kultbike“ abliefern, als bei der Preisrecherche ein mit schwarzer Sprühdose übertünchtes Originalmodell auf dem Schirm aufblitzte. Anruf und Abholung waren ein Vorgang. Jetzt muss die Scracer 402 untern Baum und die G/S darf in die Bastelbude.
Umbau-Info

Scracer 402
Rund 3500 Euro Materialkosten und etwa 150 Arbeitsstunden waren nötig, um aus zweieinhalb ziemlich ramponierten Suzuki GS 400 (800 Euro) ein alltagstaugliches und zuverlässiges Motorrad zu basteln. Während das Rahmenheck geändert wurde, blieb der Hauptrahmen unverändert. Die Aluminium-Schwinge stammt von der ersten Suzuki GSX-R 750 und stützt sich ohne Hebeleien über ein Wilbers-Federbein ab. Auf die 17-Zoll-Drahtspeichenräder aus einer Sachs Roadster 800 mit einer 320er-Bremsscheibe vorn sind Reifen in 110er- und 130er-Breite aufgezogen. Eine mächtige Sechskolbenzange der GSX-R-Baureihe bringt das 163 Kilogramm leichte Motorrad aus 100 nach 39 Metern zum Stehen. Und das, obwohl vorn die Seriengabel mit nur 33 Millimeter dünnen Standrohren verbaut ist. Allerdings sind Dämpfung und Federung optimiert. Der Serientank ist leicht umgebaut, Sitzbank wie auch vorderes Schutzblech aus zwei Millimeter Aluminiumblech sind selbst gedengelt.