Hin und Her bei MV Agusta: Im Frühjahr 2024 übernahm KTM die Mehrheit am italienischen Hersteller, fuhr dann aber dramatische finanzielle Verluste ein und war im Herbst 2024 insolvent. Auf Geheiß des Insolvenzverwalters wurde MV wieder verkauft – für kolportierte 60 Millionen Euro an den früheren Eigner, den russisch-stämmigen Timur Sardarov. MOTORRAD sprach mit ihm und dem MV-Geschäftsführer Luca Martin darüber, wie es bei MV Agusta weitergeht.
Sardarov: Klar, darf man gratulieren. Ich bin wirklich froh, dass wir MV zurückgekauft haben. KTM war bankrott, und MV riskierte, da voll hineingezogen zu werden. Im schlimmsten Fall mit der Konsequenz, dass wir aufgehört hätten, zu existieren. Denn bei KTM hat das Ausmaß der Verluste zu einer massiven Änderung der bisherigen Firmenstrategie geführt, der Insolvenzverwalter hat vorgegeben, dass KTM sich wieder auf Offroad fokussiert. Das passt natürlich ganz und gar nicht zu MV Agusta, deshalb gehen wir jetzt wieder unseren eigenen Weg.
Sardarov: Nein, jedenfalls nicht in industrieller Hinsicht. Wir haben aus der Erfahrung mit KTM gelernt, dass die Einbindung in eine große Firma für uns als kleinen, spezialisierten Hersteller eher schlecht als recht funktioniert, denn wir haben unsere eigene Art, Modelle zu entwickeln und zu bauen, unseren eigenen Spirit.
Wir sind nun mal nicht wie Lamborghini, die jede Menge Teile ihrer Konzernmutter Audi verbauen. Sondern wie Ferrari, die sind unabhängig und machen ihr eigenes Ding. Die Partnerschaft mit KTM hat uns in Bezug aufs Händlernetz viel gebracht, aber bei der Entwicklung und Produktion der Motorräder haben sich für uns keine Vorteile ergeben.
Martin: Das dachten wir am Anfang auch. Aber die beiden Firmen sind einfach zu unterschiedlich. KTM denkt in Größenordnungen von 300.000 bis 400.000 Stück, da sind Motorräder eine Ware. Unser Ansatz war und ist ganz anders, wir bauen mit viel Leidenschaft nur wenige Motorräder, und weil wir nicht so viele Leute sind, müssen wir sie effizient entwickeln und industrialisieren, da braucht es viel Kreativität. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Zusammenarbeit mit KTM war gut, und sie haben bei uns einige nützliche Dinge implementiert.
Aber eine so riesige Firma hat eine schier unendliche Kommandokette. Wenn Du einen Bolzen am Motorrad tauschen willst, musst Du die ganze Kette in Gang setzen, es dauert ewig, bis der Bolzen dann endlich da ist. Insofern ist für uns mit unseren geringen Stückzahlen die italienische Art, Motorräder zu bauen, viel besser geeignet: kreativ, schnell und mit kurzen Wegen.
Sardarov: Als wir versucht haben, das Prozedere von KTM zu übernehmen, wurden unsere Motorräder am Ende teurer, und es dauerte länger, sie zu bauen. Daher kommt für uns in Zukunft eine industrielle Partnerschaft nicht mehr in Frage, und die Mehrheit an MV Agusta werde ich auch nicht mehr aus der Hand geben.
Wir brauchen keine Leute von außerhalb, die für uns planen. Zumal wir jetzt ein junges, dynamisches und sehr motiviertes Management haben, mit Luca Martin an der Spitze. Möglich wäre aus unserer Sicht die Zusammenarbeit mit Partnern in Sachen Marketing, Kundenservice oder Händlernetz. Aber ein solcher Partner muss unsere Art zu arbeiten respektieren und uns vor allem zusätzlichen Nutzen bringen.
Martin: In den letzten zweieinhalb Jahren waren wir die Kirsche auf dem Kuchen von KTM. Jetzt wollen wir unseren eigenen Kuchen – mit einer großen Kirsche.
Sardarov: Ich sehe uns jetzt und in Zukunft als unabhängigen, starken Premium-Hersteller mit kleiner Produktion. Natürlich wollen wir wachsen, aber nicht zu stark und vor allem nicht zu schnell. Damit das mit dem Wachstum klappt, bringen wir selbstverständlich neue Modelle.
Martin: Die erste Neuheit kommt zur Eicma im Herbst. Aber ich verrate noch nicht, um was es sich handelt. Nur so viel: Sie werden überrascht sein, und mit Ihnen die ganze Branche. Ich bin das Motorrad schon gefahren, es ist sehr beeindruckend! Ich bin wirklich stolz auf unser Team, das unter widrigen Bedingungen ein so tolles Motorrad entwickelt hat.
Sardarov: Widrig waren die Bedingungen wirklich, KTM hat ja seit Ende Oktober 2024, seit der Insolvenz, weder unsere Leute bezahlt, noch die Zulieferer. Uns hat die KTM-Pleite sechs Monate Produktion gekostet, wir konnten sie erst jetzt im Mai wieder aufnehmen. In der Zwischenzeit mussten wir uns mit unseren beunruhigten Zulieferern verständigen, und die Löhne und Gehälter hier an unserem Standort in Schiranna zahlen. Das haben wir auch mit Hilfe eines Solidaritätsvertrags geschafft (dabei arbeiten die Beschäftigten weniger und verzichten auf einen Teil des Gehalts, Anm. d. Red.).
Martin: Eher nicht. Ganz sicher werden wir keine Motorräder mit kleinen Hubräumen bauen. Und auch keine billigen. Unser Ansatz lautet: Value for money. Wir wollen aber auch weg von dem Luxusgedanken, wir bauen unsere Produkte schließlich für Motorradfahrer! Und, ganz wichtig: Unsere Motorräder werden alltagstauglicher. Dafür haben wir in letzter Zeit viel getan. Mit einer Rush zum Beispiel kann man auf der Rennstrecke richtig performen. Aber auch ein Einsteiger wird sich auf ihr wohl fühlen.
Martin: Die jüngste Evolution des Vierzylinders ist aber anders! Bis 7.000/min kann man mit ihm jetzt gemütlich durch die Gegend cruisen. Darüber geht’s dann zur Sache, aber das muss man ja nicht machen, jedenfalls nicht immer. Für alle unsere Motorräder gilt jetzt die Philosophie: Sie müssen genauso für den Alltag taugen wie für die Rennstrecke. Mit Euro5+ hat sich da schon viel getan: weniger Vibrationen, der Drehmomentverlauf ist geschmeidiger, die Zuverlässigkeit hat sich deutlich erhöht. Wir arbeiten noch an der Ergonomie, das geht nicht über Nacht. Unsere Motorräder sollen künftig komfortabel sein.
Martin: Das hat sich schon geändert und wird sich noch weiter verbessern. Wir haben einen jungen, sehr guten Ingenieur, der intensiv am Ansprechverhalten der Gabeln gearbeitet hat und das weiterhin tut. Alltag und zugleich Rennstrecke – das habe ich gemeint, als ich gesagt habe, wir wollen weg von dem Luxusgedanken. Natürlich bauen wir weiter auch Luxusmotorräder, in unseren Sondereditionen wie der Superveloce 1000 Ago. Aber die Serienmotorräder verfolgen einen ganz anderen, deutlich bodenständigeren Ansatz.
Sardarov: Wie gesagt, wir wollen keine Luxusmarke sein, aber doch am oberen Ende des Premium-Segments bleiben. Das ist für uns eine sichere Nische, denn wir können schlicht nicht mit Volumen-Herstellern und deren niedrigen Preisen konkurrieren. In unserer Nische hingegen sind wir stark.
Martin: Wir werden weiterhin zwei Plattformen haben, den Dreizylinder mit 950 ccm, den kennt man ja bereits aus der Enduro Veloce. Der kommt in unterschiedlichen Evolutionen in den neuen Modellen zum Einsatz. Elementar für uns ist die Brutale, die macht derzeit rund 40 Prozent der Nachfrage aus. Und als zweite Plattform haben wir weiterhin den Vierzylinder, zu Hubraum und Leistung will ich im Moment aber noch nichts sagen. Obendrauf kommen dann die Limited Editions, wie bisher.
Martin: Die geht auf jeden Fall in Produktion, allerdings in einer etwas anderen Konfiguration.
Martin: Das tun wir ja schon. Die Enduro Veloce zum Beispiel hat 124 PS. Leistung ist wichtig, aber sie ist nicht alles. Wichtiger ist für uns, wie Leistung und Drehmoment abgegeben werden, nämlich geschmeidig.
Sardarov: Genau. Es gibt auf dem Markt Motorräder, die Leistung und Drehmoment viel zu schnell abgeben, ich nenne sie immer "Hooligans". Natürlich wollen wir schnelle Motorräder bauen, das ist ja unsere DNA. Aber eben nicht solche PS- oder Drehmoment-Monster, mit denen man die Kunden eher verschreckt.
Sardorov: Nein, die besteht nicht mehr.
Martin: Das hat mit uns nichts zu tun. Wahrscheinlich sollten wir sie verklagen …
Sardarov: Oh, ich bin auch jetzt durchaus aktiv! Grundsätzlich bin ich weiter für die generelle Strategie zuständig. Aber um das Tagesgeschäft kümmert sich Luca.
Martin: Stopp, ich will da kurz etwas klären, da gibt es in vielen Medien ein Missverständnis: Richtig ist, dass KTM uns geholfen hat, ein gutes Händlernetz aufzubauen. Aber es ist unser Händlernetz, nicht das von KTM. Wir haben jetzt 250 Händler weltweit. Das ist noch nicht optimal, ein paar mehr könnten es schon werden.
Martin: Genau, nach unserer Analyse ist es für uns besser, wenn wir in einem Land einen hochprofessionellen Händler haben, der 200 Motorräder verkauft, als zehn verschiedene Händler, die jeder 20 verkaufen. Oder, noch extremer, ganz viele kleine Händler, von denen jeder nur zwei verkauft. Für die könnten wir nie eine wirklich wichtige Marke werden, wohingegen wir für einen Händler, der 200 unserer Maschinen verkauft, an Nummer Eins stehen.
Wir wollen für unsere Händler ein attraktiver Partner sein. Nicht etwa, weil unsere Motorräder so gut aussehen und zuverlässig sind, sondern weil die Händler mit uns Geld verdienen und MV für sie eine profitable Marke ist.
Sardarov: Das heißt natürlich auch, dass wir die Produktion ausbauen müssen, derzeit sind es pro Jahr 5000 Motorräder. Aber wie ich vorhin schon gesagt habe, soll es kein schnelles Wachstum sein, sondern ein organisches, sonst geht es schief.
Wie 2017, als MV die Produktion zu schnell hochgefahren hat und dann pleite war.
Martin: Wenn man als Hersteller nur auf die absoluten Verkaufszahlen schaut, ist das kein organisches Wachstum. Wer zu viele Motorräder in den Markt drückt, wird am Ende bestraft, weil die Händler die Motorräder mit Rabatt verkaufen müssen, wenn ihre Lager zu voll sind. Genau das ist auch KTM passiert.
Sardarov: Das ist derzeit unser wichtigster Markt, wir haben 2024 dort 861 Motorräder verkauft.
Martin: Einspruch! Die Preise entsprachen mit diesem Rabatt eher unseren ursprünglichen Preisen. KTM hatte die MV-Modelle – weil wir ja die Kirsche auf der Torte waren – sehr hochpreisig angesetzt. Und das bei Modellen, die nicht gerade brandneu waren. Aber die Kunden sind nicht dumm, das hat nicht funktioniert. Wir wollen jetzt zurück zu einem Value-for-Money-Preis. Nur weil wir MV Agusta heißen, können wir nicht 50 Prozent draufschlagen, das geht nicht. Vielmehr muss der Kunde sehen, dass wir besser sind als die Konkurrenz, nur dann klappt das mit einem höheren Preis. Mit dem neuen Modell, das zur Eicma im Herbst kommt, geht auch eine neue Preispolitik einher.
Martin: Zu den Dingen, die wir von KTM gelernt haben, zählt, dass man als Hersteller selber auf einem Markt präsent sein muss, auf dem man wachsen will. In Deutschland bauen wir gerade ein eigenes Team auf, das die ganze DACH-Region bedienen wird, also auch Österreich und die Schweiz. Vor der formellen Trennung von KTM konnten wir das noch nicht offiziell machen. Einen Verantwortlichen für den Kundenservice haben wir schon, und auch den General Manager: das ist Sascha Renner. Er war bei KTM Brandmanager für MV Agusta und hat da einen richtig guten Job gemacht. Das Team wird aber noch größer.
Sardarov: 1.000 Stück im Jahr.
Martin: Wir haben dort jetzt gut 20 Händler, das sind alles Spitzenleute. Wir konnten dank KTM sehr selektiv vorgehen, das hilft uns jetzt. Ich habe ein paar Händler selbst besucht, die sind alle wirklich top und sehr engagiert. Deshalb wollen wir sie mit einem Team vor Ort unterstützen.
Martin: Guter Punkt. Wir hatten über KTM ein funktionierendes Teilezentrum in Österreich, aber seit letztem Oktober wurde der Logistikdienstleister von KTM nicht mehr bezahlt. Das läuft jetzt aber wieder. Bis zum Jahresende bleibt dieses Zentrum in Österreich, dann holen wir es zurück nach Italien, und zwar unter der Regie eines der drei besten Logistikdienstleister weltweit, den Namen darf ich noch nicht nennen. Unser Ziel ist es, jedes Ersatzteil innerhalb von sieben Tagen überallhin zu liefern.
Martin: Gesetzlich vorgeschrieben ist, dass wir Ersatzteile zehn Jahre lang anbieten. Aber wir haben gerade vor ein paar Tagen entschieden, dass wir ein Register für MV-Motorräder anlegen, in dem alle älteren Modelle von MV Agusta selbst zertifiziert werden. In diesem Zusammenhang reden wir auch mit einem Partner, der unser offizieller Lieferant für ältere Ersatzteile werden könnte. Die können wir nicht selber vorrätig haben.
Martin: Grundsätzlich ist unser Ziel, dass wir für Motorräder bis zum Alter von drei Jahren 98 Prozent der Ersatzteile sofort liefern können, bei bis zu fünf Jahren 92 Prozent, bei bis zu zehn Jahren 80 Prozent. Und wir bemühen uns natürlich, auch ältere Teile bereitzustellen.
Sardarov: Wir liefern insgesamt 4.500 bis 5.000 Motorräder aus.
Sardarov: Ja, wir hatten ja noch Motorräder auf Lager. Das sind die Euro5-Modelle, die wir Ende letzten Jahres noch zugelassen haben. Aber anders als andere haben wir sie nicht verschleudert, und werden das auch nicht tun.
Sardarov: Ich freue mich sehr, dass Hubert bei uns bleibt. Er kümmert sich um alles, was mit dem Kundenservice zu tun hat, denn den stellen wir künftig in den Vordergrund, das reicht vom Händlernetzwerk bis zum Marketing. Hubert, mit seiner langjährigen Erfahrung, ist ein sehr aktiver Präsident.
Sardarov: Wir sind tatsächlich in Gesprächen mit den zuständigen Managern, denn wir glauben, dass ein Engagement in der MotoGP für uns von Vorteil wäre. Aber das ist sehr teuer und die Organisation höchst kompliziert. Falls wir das tun, dann auf jeden Fall mit einer externen Struktur. Bislang ist da noch nichts entschieden. Als Herausforderung würde uns das sehr gut gefallen. Aber die MotoGP steht derzeit auf unserer Prioritätenliste nicht ganz oben. Sondern das Produkt, die Händler und vor allem die Kunden.