Murksereien am Motorrad erkennen ... außer einem Provisorium. Es sei denn, dass es vorher bricht.
Murksereien am Motorrad erkennen ... außer einem Provisorium. Es sei denn, dass es vorher bricht.
Unser ganzes Leben ist aus Kleinigkeiten zusammengesetzt. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute muss das menschliche Hirn unzählige Eindrücke verarbeiten und Gedanken produzieren, aus denen dann Entscheidungen und Handlungen werden. Nicht nur 1001 Eindrücke sollen es nach Meinung der Hirnforscher sein, sondern tatsächlich um die 40000 - pro Tag! Das Hirn als Entscheider muss dabei fachlich und sozial topfit sein, sonst geht die dann gefällte Entscheidung daneben und eine negative Kettenreaktion setzt ein.
Ähnlich ist es bei einer solch komplexen Maschine wie dem Motorrad: Schon eine nicht stimmige, winzige Kleinigkeit in der Stromversorgung, im Benzinsystem, in der Schmierung kann den Lauf des Motors hemmen, ihn absterben lassen. Leicht defekte Bedienelemente können einen falschen Handgriff des Fahrers bewirken, aus dem dann ein falsches Signal entsteht, das bei anderen Verkehrsteilnehmern falsche Reaktionen provoziert. Ein Fehler im Fahrwerk kann dazu führen, dass der Fahrer stürzt und - ja, mehr nicht an dieser Stelle, sonst wird‘s noch zu negativ.
Solch philosophisch angehauchte Gedanken haben wir öfter mal in unserer Redaktion, wo die "Motorrad-Reparaturanleitungen" entstehen. Schon unzählige Maschinen haben wir über den Laufsteg (vulgo: die Hebebühne) geschoben, neue und alte, japanische, deutsche und italienische Bikes, um sie zu begutachten, zu zerlegen, zu fotografieren und letztlich darüber zu schreiben. Da bleibt kein Murks unentdeckt. Und über solche Sachen wollen wir an dieser Stelle berichten: Nicht um den Zeigefinger zu heben und "Mach das ja nie nach!" zu rufen, sondern um ein paar Sachen zu zeigen, die scheinbar nebensächlich sind, aber über das Fahren und Stehenbleiben einer Maschine entscheiden können.
Wenn der Kupferwurm wütet, bleiben Auspufftakte rasch ganz still. Sieh mal den Batterieanschluss an, ist das was? Es kriecht der Gilb zwischen Schraubenkopf, Buchse, Anschlussöse am Kabel und Anschluss an der Batterie. Der Übergangswiderstand wird bald so hoch sein, dass sich der Anlasser beim Druck auf das Starterknöpfchen nicht mehr dreht und die Kurbelwelle einfach stehen bleibt. "Scheißkarre!", ruft Franz Matz, und die Frühjahrsausfahrt ist dahin. Abhilfe hätte so einfach sein können: Anschluss abbauen, reinigen mit feinem Schmirgelpapier und mit Polfett geschmiert wieder anbauen.Eine dicke Stelle im zweiadrigen, gelben Kabel, das von der Lichtmaschine zum Regler führt, fällt auf; die verheißt nichts Gutes, denn das darumgewickelte Isolierband ist schon durch Wärme verformt. Nach dem Abwickeln kommt eine spannungsüberlastete und deswegen durch Hitze schmelzverformte Lüsterklemme zum Vorschein. Bei der nächsten längeren Fahrt hätten die Kabel in der Gegend um die Klemme angefangen zu brennen und das Motorrad auch. Hier gehört entweder ein serienmäßiger Mehrfachstecker hin oder eine "fliegende Sicherung" mit 40 Ampere. Der Blinker hängt auf halb acht, der Blinkerschalter rastet nicht mehr ein und lässt sich nur noch nach dem "6-aus-49"-Prinzip ausschalten, und das Blinkrelais ist mit einem Kabelbinder an den Kontakten zum Rahmen hin aufgehängt. Merke: Wer in die falsche Richtung blinkt oder überhaupt nicht, der kann im Verkehr vom Auto fahrenden Nachbarn ganz böse abgerammt oder sogar überfahren werden. Klar hat der blöde Autofahrer Schuld, denn hinterher war‘s keiner, der die falsche (oder überhaupt nicht erfolgte) Richtungsanzeige gesehen hat
Wenn die Kupplung beim Anfahren, Schalten und Kolonnefahren rupft und deswegen die Karre bockt, suchen Sie bitte nicht gleich im Tank nach Sand, bauen neue Zündkerzen ein oder lassen sich gar einen Tuning-E-Prom verkaufen: Die Klauen an den Kupplungsscheiben haben sich nicht nur in den Kupplungskorb eingeschlagen, sondern auch um rund die Hälfte verdünnt. Solche Kupplungsschlampereien gehen auch aufs Getriebe, denn sie reißen an den Zähnen der Gangzahnräder und rupfen die Kette kaputt - sie machen einfach keinen Spaß. Da muss eine komplett neue Kupplung rein.
Ein Stehbolzen der Auspuffhalterung ist abgerissen. Zum Glück kann man den Rest mit einer Zange rausdrehen. Weil kein neuer Stehbolzen greifbar ist, wird eine 8er-Schraube abgesägt und ein Schlitz eingesägt. Der "neue Stehbolzen" kann aber nun damit nicht fest eingedreht werden, er wird eben "leicht handfest" eingeschraubt. Das hält auf Dauer nicht, weil sich ja auch der Dichtring am Auspuffkrümmerflansch zusammendrückt und die Spannung der Verschraubung nachlässt. Deswegen hilft nur der fachgerechte Einbau eines neuen Stehbolzens (ja, ich weiß: heißt nach Norm "Stiftschraube"). Am besten das Gewinde im Zylinderkopf gleich mit Helicoil reparieren, dann hält‘s wieder eine Ewigkeit.
An der hinteren Auspuffhalterung haben die Bohrungen nicht zusammengepasst, also werden ein Stück Flacheisen abgesägt und zwei Löcher reingebohrt. Das ist an sich gut und geht in Richtung "dauerhaftes Provisorium", aber wenn das Flachmaterial um die Hälfte zu dünn ist und die Verschraubung ohne oder mit zu kleinen Scheiben und zu dünnen Distanzhülsen ausgeführt wird, dann sieht man, dass der Mechaniker kein Konstruktionsgefühl für ein "haltbares Provisorium" hatte, denn eine solche Auspuffhalterung wird bald abbrechen.
An jedem Motorrad gibt es einige Bauteile aus Gummi: Tüllen über Bowdenzügen, Dämpfer und Distanzbuchsenhalter in Federbeinaugen, Kühlwasserschläuche. Weil sich die Weichmacher aus dem Gummi unter Einfluss von UV-Strahlen verflüchtigen, wird Gummi mit der Zeit porös. Das Umwickeln einer porösen Gummitülle über dem Gaszugeinsteller am Vergaser mit Isolierband ist ebenso ein Murks wie die Hinnahme einer altersbedingt zerdrückten Gummibuchse im unteren Federbeinauge.
Übrigens ist als Folgeschaden die Schweißnaht der Stahlbuchse am Federbein unten abgerissen, weil die kurzen Schläge, die über lange Zeit während des Fahrens (bzw. Federns) auf das Federbein einwirken, ungedämpft ankamen: Ein alter, weil poröser, harter und zusammengedrückter Gummi kann halt seine ihm zugedachte Aufgabe nicht mehr erfüllen.
Das ist nicht anders bei einem alten oder durch Sturz angeschürften Kühlwasserschlauch: Nicht bloß Isolierband drumwickeln und dann vergessen, sondern bei nächster Gelegenheit erneuern, denn wenn der angeschürfte Schlauch reißt, haut's binnen weniger Sekunden alle Kühlflüssigkeit raus, und der Motor überhitzt. Und wenn die Kühlwassersoße dann auch noch aufs Hinterrad gerät, ist ein Crash garantiert.
Zwei Dichtscheiben anstatt einer - auch das ist nicht in Ordnung. Alu- und Kupferdichtringe sollten jedes Mal erneuert werden, weil sie beim ersten Festziehen der Verschraubung gequetscht werden, sie passen sich der Oberfläche der zueinander abzudichtenden Bauteile an. Wenn man keine neuen Dichtscheiben hat, kann man eine gebrauchte Kupferdichtscheibe "ausglühen" und so wieder weich machen: Heizplatte auf hohe Stufe stellen, Kupferscheibe darauf gut durchheizen, mit einer Zange (!) herunternehmen und auf eine saubere und glatte Stahlunterlage legen, ein paar gezielte und besonnene Hammerschläge draufgeben und dann ins Wasserbad schmeißen.
Sorry, liebe Leser, wir wollten Euch mit diesem Artikel nicht bevormunden und vorschreiben, wo Ihr Eure Maschinen kontrollieren oder gar was Ihr daran tun müsst - aber sich die neuralgischen Punkte am Motorrad gelegentlich etwas genauer anzuschauen, ist ganz sicher kein Fehler. Erst recht nicht bei Maschinen, die schon mehrere Vorbesitzer hinter sich haben. Das oftmals nur für den kurzfristigen Einsatz geplante Provisorium hat nämlich die fatale Angewohnheit, sich dauerhaft einzunisten.