Nein, damit hatte bei MOTORRAD keiner gerechnet. In den kühnsten Träumen nicht. Über 100 Zuschriften in einer Woche, und der Strom riss nicht ab. Keine Frage, die R 120 CS-Studie von MOTORRAD-Zeichner Stefan Kraft bewegte die Gemüter. Nur einen ließ sie scheinbar kalt. BMW-Chef Hendrik von Kuenheim bestritt, dass es derartige Pläne gäbe, und antwortete auf die Frage, ob ein klassischer Straßenboxer zu erwarten sei: „Es wird bei BMW immer ein klassisch anmutendes Motorrad geben – diese Aufgabe übernimmt derzeit die R 1200 R.“
Und heute? Gibt es zwar keine R 120 CS, aber doch eine R nineT. War der MOTORRAD-Vorschlag schuld? Man weiß es nicht, aber spannend ist es allemal, sich noch einmal mit dem auseinanderzusetzen, was wir gewünscht oder prophezeit haben. Und mit dem, was dann Wirklichkeit wurde.
Beim jüngsten Fall, der Honda Africa Twin, zum Beispiel. Da lag MOTORRAD richtig, was das Konzept und den Motor angeht. Und trotzdem war der Wunsch einmal mehr der Vater des Gedankens. Oder anders formuliert: Die Realität holte anscheinend auch die Honda-Techniker und -Kaufleute auf den Boden der Tatsachen zurück. Aber vielleicht ist auch der Kompromiss – wie so oft – keine schlechte Lösung. Und jetzt viel Spaß beim Schmökern zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
BMW R 120 CS und BMW R nineT


Reine Spekulation – und doch ganz nah dran. Anlass für die R 120 CS war ein Vergleichstest moderner Klassiker. Und die Frage, warum denn keine BMW dabei sei, wo doch in München die Motorradtradition so lebendig ist.
Also machte sich Stefan Kraft ans Werk. Die Frage, welches Modell denn als Vorbild infrage käme, war schnell beantwortet. Die R 90 S ist für viele der Inbegriff einer sportlichen und formal gelungenen BMW, ihr „Daytona-Orange“ ist noch heute Markenzeichen. Und selbst jetzt, im Angesicht der R nineT, würde sich so mancher Boxer-Fan die Wiederauferstehung der R 90 S wünschen. Aber das letzte Wort ist in dieser Hinsicht angesichts der von ihr abgeleiteten Roland Sands-Studie „Concept Ninety“ wohl auch noch nicht gesprochen. Vor allem dank des feinen Händchens, das die Bayern mit der R nineT hatten.
Es ist ein gelungener Mix aus Alt und Neu, aus gestalterischem Purismus und Überschwang bei der Materialauswahl – Stichwort Aluminium –, kombiniert mit moderner Fahrwerkstechnologie und einem luftgekühlten Boxer, der noch lange nicht zum alten Eisen gehört. Und für den viele Boxer-Fans tief in die Tasche greifen, denn mit knapp 15.000 Euro ist die R nineT kein Schnäppchen.
KTM LC 8 Street und KTM 1290 Super Duke

Kinder, wie die Zeit vergeht! Anfang 2002, als sich MOTORRAD von KTM diesen sportlichen Zweizylinder wünschte, hatten die Österreicher lediglich Singles im Programm. Und mit der 640er Duke II ein einziges Straßenmodell. Doch die Zweizylinderpremiere stand ins Haus, für 2003 präsentierte KTM die 950er-Adventure. Und was wünschten wir uns von der LC 8 Street genannten Straßenversion? 110 PS und ein Gewicht unter 200 Kilogramm vollgetankt.
Zugegeben, von den 200 Kilogramm ist die aktuelle 1290er-Superduke mit 213 Kilo immer noch ein wenig entfernt. Von den damals geforderten 110 PS allerdings auch – mit knapp 1300 Kubik und 173 PS. Davon hätte 2002 niemand zu träumen gewagt. Ebenso wenig, wie wir uns vor 13 Jahren vorstellen konnten, dass KTM einmal acht Straßenmodelle im Programm hat. Voilà!
Ducati Scrambler


Ziemlich ähnlich – und dann doch ganz anders. Als MOTORRAD im Frühjahr 2012 über eine Ducati Scrambler spekulierte, gingen wir davon aus, dass die Bologneser seinerzeit nicht einmal über ein derartiges Bike nachdachten. Damit hatten wir wohl unrecht. Tatsache ist jedoch, dass der MOTORRAD-Scrambler damals deutlich sportiver ausfiel als der echte. Tatsache ist aber auch, dass viele Basics wie der Monstermotor, ein kurzer Stummelschalldämpfer und das kurze Schutzblech sowie die progressive Schwinge durchaus in beiden Versionen zu finden sind. Eine weitere Gemeinsamkeit: der weit zum Fahrer gereckte Lenker sowie die geschwungene Krümmerführung. Alles in allem darf man wohl beide Entwürfe als gelungen bezeichnen.
Zusammengefasst: Ducatis Scrambler ist eindeutig mehr Scrambler, während Stefan Krafts Entwurf erstaunlicherweise deutlich mehr Ducati darstellt. Wenn er zudem die Ducati-Designabteilung ein wenig inspiriert hat, würde uns das freuen.
BMW S 1000 RS und BMW S 1000 R


Mit einem bärenstarken nackten S 1000-Ableger musste man rechnen. Und auch wie so eine nackte Kanone aussehen könnte, war bei möglichst vielen Gleichteilen relativ festgelegt. Rahmen, Schwinge, Gabel, Räder, Motor, Tank – das alles würde aussehen wie bei der Supersport-Schwester, so viel war nach ersten Erlkönig-Bildern klar. Interessant ist beim Vergleich des MOTORRAD-Entwurfs (Heft 21/2012) mit der BMW-Lösung, wie sehr auch kleine Details ein Motorrad verändern können. In diesem Fall sind es vor allem die minimalistische Verkleidung und der Auspuff, die den Unterschied machen.
So aggressiv tief geduckt wie die echte S 1000 R kommt die „RS“ (die zukünftigen Namen sind in der Regel hochspekulativ) nicht daher, schaut deutlich braver aus. Und das Layout des Auspuffs zeigt, dass sich MOTORRAD-Zeichner Stefan Kraft über technische Zwänge ab und zu künstlerisch hinwegsetzt: Die Doppelrohrlösung ohne einen zentralen Vorschalldämpfer und ohne Katalysatorpatrone muss natürlich Wunschdenken bleiben.
BMW S 1000 Funbike und BMW S 1000 XR


Eine Sonderstellung in der MOTORRAD-Entwurfspalette stellt die BMW S 1000 F dar. Das, was später zur realen S 1000 XR wurde, fußte nämlich weder auf purer Spekulation (wie die Scrambler) noch auf Erlkönig-Bildern (wie die S 1000 R), sondern vor allem auf den Beobachtungen eines MOTORRAD-Lesers, der unserem Designer die nächste Vierzylindervariante nur aus der Erinnerung beschreiben konnte: Sascha Henning hatte bei der kurzen Begegnung auf der Schwäbischen Alb zum Glück sehr genau aufgepasst. Räder, Bremsen, Rahmen, Schwinge – das alles deckte sich weitgehend mit der späteren XR, einzig Verkleidungsscheibe und Seitenverkleidungen fielen beim Entwurf von Stefan Kraft etwas weniger aggressiv gestylt aus als beim Original. Das übrigens fuhr dann ein paar Wochen später dem Erlkönig-Jäger vor die Linse und brachte die endgültige Bestätigung.
Horex VR6


Alle 14 Tage neu: die Horex VR6. So war das jedenfalls im Sommer 2010, weil es in Marketingkreisen guter Brauch ist, neue Motorräder häppchenweise zu präsentieren. Im Fall der Horex bedeutete das: Kurz vor der Präsentation wurden weitere Details zum Motor bekannt, entscheidende jedoch zurückgehalten. Vom Kompressor war noch keine Rede, sodass Designer Stefan Kraft auch diese letzte Zeichnung Tage vor der Premiere ohne den Extra-Boost konzipieren musste. Was dann tatsächlich kam, sah jedoch anders aus, als Kraft es sich vorgestellt hatte. Viel klassischer, eine Mixtur aus Hightechmotor, Brückenrahmen und traditionellen Elementen. Und der Kompressor? War nur in den ersten Modellen zu sehen, ging aber nie in Serie. Abstimmungsprobleme, hieß es. So gesehen hatte Kraft mit seiner Zeichnung rückwirkend doch recht. Wer weiß, vielleicht wäre die VR6 erfolgreicher gewesen, wenn sie insgesamt mehr dem MOTORRAD-Entwurf geähnelt hätte?
BMW GS 1250 LC und BMW R 1200 GS


Der Wasserboxer musste irgendwann kommen. Wann, darüber konnten wir anno 2011 nur spekulieren. Ebenso darüber, wie er aussehen und welchen Hubraum er haben würde. Aber: Einen Zylinder auf jeder Seite, so viel war klar. Die MOTORRAD-Version verfügte trotz Wasserkühlung über ausgeprägte Kühlrippen, ganz wie der spätere Serienmotor. Ebenfalls schon beim Kraft-Entwurf zu sehen: die Anordnung von Ein- und Auslass oben und unten statt hinten und vorne.
Dass MOTORRAD den neuen Motor in einer GS präsentierte, hat auch bei BMW Tradition. Mit einer anderen brachen die Münchner dann: Der Kardanantrieb wechselte die Seite. Auch bei Stefan Kraft, der jedoch den Schalldämpfer auf der linken Seite ließ und den Blick aufs Hinterrad freigab. Das ist technisch schwierig, machte die MOTORRAD-GS aber luftiger als die spätere echte. Ebenso stechen die seitlichen Kühler nicht so ins Auge. Kein Wunder, denn in einem Punkt unterscheiden sich beide Motorräder radikal: Der Zeichnung fehlt das Telelever.
Yamaha Big Maxx und Yamaha Vmax


Die Legende war 2003 mausetot. MOTORRAD wünschte sich eine neue, denn Yamaha hatte die Vmax schon seit Längerem aus dem Programm gestrichen. Und wie das so ist, wenn man fröhlich vor sich hin wünscht, können die Gäule schon mal durchgehen. Statt in die bewährte, eher cruisermäßige Ausrichtung, verpackte Stefan Kraft den mächtigen 1800er-V4 (das waren rund 100 Kubikzentimeter mehr, als die tatsächliche Nachfolgerin haben sollte) in ein kompaktes Streetfighter-Chassis und nannte das Ganze „Big Maxx“. Von 180 PS war damals die Rede, aber nicht von Ride-by-Wire oder Traktionskontrolle.
Vermutlich ist es gut, dass die Yamaha-Oberen anders entschieden. Die Vmax bekam 2009 eine Nachfolgerin, aber die nahm die Ausrichtung der Vorgängerin auf, war mit 200 PS zwar bärenstark, aber mit 310 Kilogramm Gewicht auch bleischwer. Die Legende lebt also wieder – zum Glück. Dennoch fragt man sich, wie eine „Big Maxx“ sich wohl angefühlt hätte. Und bekommt dann eine Gänsehaut.
BMW 1850 GLT und BMW K 1600 GTL


Es waren filigrane Sechszylinder-Motorenteile, die Anfang 2007 erste Hinweise auf einen quer eingebauten Reihensechser bei BMW gaben – weit vor der viel beachteten Studie Concept 6. Schon damals spekulierte MOTORRAD mit einem ausgewachsenen Luxustourer als Nachfolger der damaligen K 1200 LT, spekulierte aber mit über 1800 Kubikzentimetern. „Prinzipiell würde ein Reihensechszylinder zu BMW sehr gut passen“, räumte der damalige Pressesprecher Jürgen Stoffregen ein. Trotzdem dauerte es noch knappe vier Jahre, bevor ein solcher Motor in der K 1600 GT/GTL tatsächlich bei BMW auftauchte. Angesichts dieser zeitlichen Differenz und der dünnen damaligen Faktenlage ist es erstaunlich, wie nahe der MOTORRAD-Entwurf der späteren Serienmaschine kam. Allein damit, dass die Bayern dieses Vorzeigetriebwerk derart unter Plastik verstecken würden, hatte Stefan Kraft nicht gerechnet. Und so wartet die Fangemeinde weiter auf die erste BMW, die ihren Reihensechser stolz und offen zeigt.
Honda Africa Twin


Sie war DAS Spekulationsobjekt – über Jahre. Der MOTORRAD-Entwurf entstand vor der EICMA 2014, auf der Honda die erste Studie präsentierte. Bekannt war damals der 1000er-Paralleltwin mit Unicam-Technologie, spekuliert wurde über einen radikal offroadigen Ansatz in Rallye-Manier nach dem Vorbild der einzylindrigen Dakar-Renner. Um die 100 PS bei 200 Kilogramm Gewicht vollgetankt – das waren die Vorab-Infos, aus denen MOTORRAD einen radikalen, hochbeinigen Entwurf im Rallye-Look mit Alu-Rahmen und Alu-Schwinge machte.
Dass es dann doch nicht ganz so kam, liegt ziemlich sicher an einer anderen Größe im Lastenheft: 10.000 Euro sollte sie kosten. Aber auch das ist Makulatur. Unterm Strich stehen jetzt zirka 230 Kilo und rund 12.500 Euro – aber auch eine attraktive Enduro fürs Gröbere.