Gedanken über das Reisen

Gedanken über das Reisen Begegnungen der wichtigen Art

Warum fährt man mit dem Motorrad bis ans Ende der Welt? Welchen Sinn macht es, sich Hitze und Kälte, Staub und Regen auszusetzen? Weltenbummler Philippe Bovet versucht Antworten zu geben.

Es ist mittlerweile zehn Jahre her - meine betagte Yamaha XT 500 hatte damals schon 60000 Kilometer auf dem Buckel -, da zog ich los, um in neun Monaten das Mittelmeer zu umfahren. Wozu diese Reise? Und was suchte ich auf den vielen anderen Touren zu finden, die ich seither mit einer in den USA erstandenen 200er Vespa unternommen habe?Zu Beginn wollte ich eigentlich nur aus einer komplizierten familiären Situation fliehen. Doch mit der Zeit genoß ich das Leben im Freien und das Gefühl, mich treiben lassen zu können. Eine Erfahrung, die der Schweizer Autor und Verfasser von zahllosen Reisenberichten, Nicolas Bouvier, schon vor mir machte: »Eine Reise braucht keinen Anlaß. Sehr schnell beweist sie, daß sie sich selbst genügt. Man denkt, man selbst bestimmt die Reise, aber sehr bald muß man feststellen, daß sie über einen bestimmt.«Als Transportmittel kam für mich immer nur das Zweirad in Frage. Schon in meiner Heimatstadt Paris fuhr ich ausschließlich mit der XT. So war es nur eine logische Folge, daß ich mit ihr auf große Tour ging. Sicher, ich hätte auch ein Fahrrad wählen können - in den Waden prägt sich die Geographie eines Landes besonders gut ein. Außerdem ist Langsamkeit der größte Luxus beim Reisen, denn nur sie ermöglicht es uns zu beobachten und zu verstehen. Doch aus dem Sattel meiner XT 500 habe ich Japaner ihre Räder durch die Sanddünen der Sahara schieben sehen. Ob es ihnen wohl Spaß gemacht hat, sich so zu plagen und von der Sonne verbrennen zu lassen? Mit dem Motorrad jedenfalls sind Fehler bei der Streckenwahl, Verfahren oder andere unangenehme Situationen weit weniger problematisch als mit dem Drahtesel. Das Gefühl, mittendrin zu sein im Klima, in der Landschaft - oder auch in den Schwierigkeiten eines Landes - hat man mit beiden Gefährten. Und schließlich fahren die wenigsten Motorrad, um schnell voranzukommen.Deswegen ist es auch vollkommen egal, welche Maschine der Reisende wählt. Am Ende der Welt verblaßt jeglicher Mode- oder Technik-Schnickschnack. Bloß kein Kino durch die Windschutzscheibe gucken, sondern offen fahren. Offen für die Welt, weil Begegnungen mit anderen möglich sind, ohne daß erst eine Tür geöffnet werden muß. Dafür nimmt der Motorradfahrer in Kauf, das schlechte Wetter mitten ins Gesicht zu bekommen. Ist es kalt, dann täuscht keine Heizung über die äußere Wirklichkeit hinweg. Der Zweiradler fürchtet die schlimmsten Stürme, freut sich aber auch, von der Sonne gewärmt zu werden, und weiß, daß er nach dem Regen den unvergleichlichen Duft feuchter Erde riechen wird. Und manchmal friert er. So wie ich, 1987, auf der Rückfahrt von meiner neunmonatigen Reise - ja neun Monate, wie eine Schwangerschaft - ums Mittelmeer. Ich fuhr durch Anatolien. Strahlende, aber vor Kälte klirrende Tage ließen mich zum Eiszapfen erstarren. Von Café zu Café bewegte ich mich in kleinen Etappen vorwärts, beobachtete die einheimischen Männer, dicht gedrängt an den Holzöfen, verbrannte mir die Finger an heißen Teetassen und war trotzdem glücklich. Das Gebräu schmeckte unbeschreiblich nach Ferne.Man reist nicht nur in entlegene Gegenden, um Neues zu sehen oder weil vielleicht das Leben dort billiger ist. Man bricht auf, um anderen Menschen zu begegnen. Denn Landschaften allein bedeuten nichts, die Abfolge von schönen Horizonten langweilt nur, erhält die Reise nicht durch das Exotische, Andersartige ihre Würze. Reisen heißt: unter fremden Menschen, in anderen Kulturen leben. Und das ist überhaupt nicht schwierig, denn essen, ein Gläschen trinken, Musik machen und schlafen sind universelle Bedürfnisse.Das Zusammentreffen mit anderen wird um so intensiver, je kleiner die Reisegesellschaft ist. Als Paar zu reisen öffnet zwei Türen gleichzeitig: die zur Welt der Männer und die zu der der Frauen. Mehr als ein oder zwei Personen sollten aber nicht gemeinsam auf Tour gehen. Eine Gruppe baut nämlich schnell eine Barriere zu anderen Kultur. Sie stellt sich nicht mehr in Frage und ist meist zu groß, um für die Reize der Außenwelt noch empfänglich zu sein. Man braucht sich nur die Pauschalreisenden anzuschauen. Alles läuft nach einem festgelegten Plan ab, was kann da an Eindrücken vom Ende der Welt wirklich haften bleiben? Anders als der, der auf dem Feld arbeitet, haben sie ihren Pfad nicht selbst getrampelt. Und häufig sind sie es, die den Motorradreisenden voller Bewunderung betrachten, denn er ist ganz allein an diesen entlegenen Ort gelangt.Jedoch nicht durch Zufall. Vor allem wer darangeht, den Traum einer Weltreise zu realisieren, sollte sich gründlich vorbereiten, auch mental. Auf Abenteuer, die wegen nicht beantragter Visas, vergessener Werkzeuge, fehlender Impfungen und verschlampter Zollpapiere auf einen warten können, kann man locker verzichten. Gar nicht zu reden von der kostbaren Zeit, die man durch schlechte Planung verliert. Den Spöttern, die behaupten, gute Vorbereitung sei spießig und nur ohne Vorkenntnisse könne man richtig spontan und offen den anderen gegenüber sein, sei gesagt: Eine Reise will erarbeitet werden. Das Spannendste an einem Weltumrundungstrip ist nämlich der echte Zufall, die spontane Begegnung mit anderen Menschen und nicht die Anhäufung von Fehlern. Der britische Schriftsteller und Reisende Bruce Chatwin meint gar, daß das französische Wort »travail« (Arbeit) und das englische Wort »travel« (Reisen) den gleichen Ursprung haben.Sich ernsthaft auf andere Kulturen einlassen heißt: lesen, auswählen, sich informieren - und mit sich selbst im Reinen sein. Der Motorradreisende transportiert seine Welt in zwei Packtaschen. Da ist es wichtig, vorher zu wissen, was man wirklich braucht. Überhaupt lernt man auf langen Reisen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Begriffe wie Karriere und Rentabilität verlieren an Bedeutung, die Welt wird nicht mehr starr durch die europäische Brille gesehen. Losgelöst aus dem Alltagsleben gilt es, sich mehr mit sich selbst zu beschäftigen, Abstand zu gewinnen. Alles, was man im Berufs- oder Familienleben macht, wird doch gemessen und eingeteilt in Zeiteinheiten, Fristen, Ziele. Nichts geschieht wirklich frei. Man erledigt das eine, um das andere zu erreichen. Bei einer langen Motorradreise dagegen betrifft es nur mich, ob ich erfolgreich bin oder scheitere. Und wenn die Reise gelingt - wie groß ist die Befriedigung, die ich dann fühle. Nicolas Bouvier beschreibt es so: »Der Raum ist eine Droge (...), man reist, damit sich die Dinge ereignen und ändern, sonst bliebe man zu Haus. Und Shakespeare meinte gar: »I shall be gone and live, or stay and die.“

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