Er will gerade auf den Knopf drücken, da schreit der Franzose: »Stop, arrêtez, arrêtez!« Es sei noch zu früh. Haralds GPS ist ausgefallen, hat sich einfach verabschiedet, gemeinsam mit seiner Uhr. Was inmitten der Wüste nicht eben von Vorteil ist. Zumal dann nicht, wenn es gilt, zu drücken. Einen grünen Knopf nämlich, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, am Ziel der Sonderprüfung. Da stehen die beiden, allein, irgendwo im Sand. Sie sind sich unterwegs begegnet, an einem Kontrollpunkt. Von dort aus sind die übrigen in alle Richtungen davongefahren, doch Harald und der Franzose haben zusammen entschieden, hier nur kann es lang gehen, auf diesem Trampelpfad, am Berg entlang, links steil runter, rechts steil hoch. Das muss der Weg zum Ziel sein, und das war der Weg zum Ziel.
Harald drückt also nicht sofort. Aus gutem Grund: Wer bei den Sonderprüfungen zu früh eintrifft, bekommt pro Minute zwei Strafpunkte aufgebrummt, wer zu spät
einläuft, erhält nur einen. »Wann«, fragt der Franzose, »bist du gestartet?« »Weiß ich nicht mehr so genau.« Aber er weiß, dass er zwei Plätze vor dem Franzosen gestartet ist, zwei Plätze, zwei Minuten. Und weil der Franzose noch drei Minuten Zeit hat, wartet Harald noch. Genau eine Minute lang. Dann sendet er per Tastendruck auf das Iritrack, ein Ortungssystem, seine Position.
Der Franzose hätte nichts sagen müssen. Und wenn er den Mund gehalten
hätte, dann wäre Harald am Abend nicht mit seinen Teamgefährten, den Brüdern Uwe und Axel Spaeth, zu den Franzosen rüber, in der Hand eine Flasche Rum. »Der Mann war sich sicher, dass er Erster wird an diesem Tag, aber Tatsache ist, das muss man sich vorstellen, wir haben gewonnen. Dank seiner Hilfe.«
Ums Gewinnen ging es bei der Heroes Legend ohnehin nicht wirklich. Allenfalls um einen Pokal. Allen Teilnehmern sollte es darum gehen durchzukommen, nach Dakar zu kommen. Und dem Veranstalter ging es darum, alle heil ans Ziel zu bekommen. Das hatte der Initiator Hubert Auriol bei einem Treffen in Hamburg erklärt, als
er seine Rallye vorstellte. Eine Rallye ausschließlich für die vor genau 30 Jahren präsentierte Yamaha XT 500, Start am
18. Februar in Paris, Ziel in Dakar am
4. März. Ausgeschrieben für Dreier-Teams mit einem Motorrad und einem Begleitfahrzeug, Anmeldegebühr 10000 Euro.
Harald war für einen Zehner nach Hamburg geflogen. »Von so was träume ich schon seit 20 Jahren, mit der XT durch Afrika, den Kurs der Dakar nachfahren.« Das Problem war nur, seine XT lag zu diesem Zeitpunkt zerlegt im Keller, an einem geeigneten Auto fehlte es ebenso wie an zwei Mitfahrern. Nicht gerade optimale Voraussetzungen angesichts eines Meldeschlusses bereits eine Woche später.
»Die Sache muss ich überschlafen«, hat Axel gemeint, Haralds Kollege. Hat er und dann seinen Bruder Uwe gefragt. Der hatte, weil er tags darauf in Urlaub fuhr, nicht mal die Zeit, darüber zu schlafen, musste sich auf der Stelle entscheiden: XT, Afrika, rund 5000 Euro, inklusive Zusatzkosten wie Rückflug und zwei Euro für eine Dose Bier ja oder nein? Ja, natürlich.
Uwe ging also klettern, Harald verdrückte sich in den Keller, um seine XT zusammenzubauen, und Axel suchte. Ein Auto. Er fand einen Mitsubishi Pajero, ein Benziner, für 2500 Piepen. Der machte bereits in Frankreich schlapp, Spannungsabfall. »Der Zeiger vom Voltmeter ging weiter und weiter runter, Stand unter zwölf. Ich habe sofort alle Verbraucher ausgemacht, bin an der nächsten Tankstelle raus«, erzählt Axel. Ein gebrochenes Hauptlastkabel brachte die Karre dem elektronischen Exitus nahe. Dem sie mit einem notdürftig reparierten Teil dann doch entging. Und ohne weitere Pannen nach Dakar kam. Was Uwe heute noch wundert: »Die Fahrerei auf dem Motorrad war keine Herausforderung, verglichen mit der, neben Axel im Auto zu sitzen. Jedes Schlagloch war seins, und zwischen Paris und Dakar gibt es viele Schlaglöcher.« Auf den Pisten in Afrika passt in diese Löcher in der Regel eine Melone, und der Pajero war zudem heillos überladen, hing kurz über Block. »Mein Fehler«, sagt Axel. »Ich habe nicht auf die Zuladung geachtet, und die 700
Kilogramm, die wir hatten, waren, na ja, extrem grenzwertig.«
Zumal Harald zwei Tage vor Abfahrt noch eine XT gekauft, sie auseinander-
genommen, in Kisten verpackt und die im Pajero verstaut hatte. In weiser Voraussicht, wie sich zeigen sollte. Denn am
fünften Tag in Afrika, auf der Etappe von Ocean View nach Boujdour, findet Uwe sich plötzlich in der Wüste unmotorisiert. Und weiß nicht so recht, wie er das finden soll. Dass sich die Maschine schlicht nicht mehr antreten lässt. Nachdem der Motor zuvor mit einem nicht eben brutalen Schlag, aber doch einem Schlag den Dienst eingestellt hatte.
Uwe hockt also neben dem Motorrad und wartet, dass jemand vorbeikommt.
Es kommt aber niemand vorbei, weil die Sonderprüfungen nun mal nicht über ordentlich frequentierte Straßen führen. »Als mir die Warterei zu dumm wurde, habe ich auf Rot gedrückt, den Notfallknopf.« Uwe wird verbunden mit der Zentrale in Paris, von wo ein Anrufbeantworter verkündet, dass das Büro gerade nicht besetzt sei. Weiter warten. Bis das Telefon klingelt. »Die haben mich angerufen, auf Deutsch mein Französisch ist nämlich super.« Wo er sich befinde, musste man ihn nicht fragen. Das wusste man wegen des Iritrack-Signals sowieso. Wie er sich befinde, wollte der holländische Arzt wissen. »Mir ging es ja gut, war ja nur das Motorrad, das nicht mehr lief, und das haben sie später auf
einen Pick-up geladen und ins Camp gebracht, immerhin 200 Kilometer weit.«
Im Camp erfolgte die Transplantation unter Flutlicht, und mit maßgeblicher
Hilfe von Marco und Lutz vom zweiten deutschen Team, von Kedo, ballerte der Tauschmotor nächtens um halb drei das
erste Mal. Woraufhin sie anschließend auch noch einen ballerten, kühles Bier nämlich zusammen mit den beiden Militärpolizisten, die ihnen beim Einbau des Motors dauernd über die Schultern geguckt hatten. »Das musste doch einfach sein«, befindet Harald. »Stell dir vor, du bist in der Wüste und es gibt kein kühles Bier.« »So viel«, ergänzt Uwe, »zum sportlichen Ehrgeiz.«
Wobei es sich durchaus nicht unsportlich ausnimmt, sich erst um drei in den Schlafsack zu verkrümeln, um morgens zwischen fünf und sechs wieder aufzustehen. »Jeden Morgen sind wir um die Zeit raus, und es ist uns relativ leicht gefallen. Wenn du meinst, ein Sonnenuntergang am Mittelmeer wäre schön, dann schau dir
mal einen Sonnenaufgang in Afrika an.«
Die Begeisterung für den frühen
Morgen konnte nicht bremsen, dass
gleich nach dem Frühstück eine gewisse Verrichtung anstand, deren anständige Verrichtung gemeinhin an ein gewisses
Örtchen gebunden ist. »Anfangs sind alle noch ganz verschämt 150 Meter weit in
die Pampa gegangen, um sich im besten Fall hinter einem Fels oder Busch hinzuhocken. Aber das gab sich spätestens,
als Auriol erwähnte, man solle sich so weit nicht entfernen, weil einem sonst der
Hintern wegfliege. Wegen Minen und so.« Auch Auriol selbst, fährt Harald fort, »ging mit gutem Beispiel voran. Das ist ein
Typ ganz ohne Allüren. Eine Ausnahmeer-
scheinung zwar, aber einer, der sich auch diesen Gepflogenheiten fügte«.
Zwar führten die Servicetrucks französisches Essen und ausreichend Bier in Dosen mit, sanitäre Anlagen jedoch nur für die Damen vom Service. Aber nicht nur, weil
so schön sauber, erschienen die wenigen
Damen den zahlreichen Herren ungemein attraktiv. »Mit 150 Jungs unterwegs sein und solo bleiben, das geht doch nicht«, gibt sich Uwe als Kenner der Materie.
Dennoch waren es in der Regel Jungs, denen Uwe und Harald auf den Hintern schauten. Was, selbstverständlich, mit rein sportlichen Gesichtspunkten zu tun hat.
»Eigentlich«, resümiert Harald, »haben wir vorher überhaupt nicht gewusst, wie man Motorrad fährt, hatten zumindest keinerlei Offroad-Erfahrung, keinen Schimmer, wie man im Sand oder über Dünen fährt.« Da half eben nur abgucken, sich hintendran klemmen und tun, was der Vordermann tut. »Wir können uns echt bedanken, was die anderen uns gezeigt haben«, sagt Uwe. Etwa den Körper nach hinten zu schieben und das Gas aufzureißen, wenn die Mühle im Sand zu schlingern beginnt. »Genau das, was du instinktiv ja nicht machen würdest.«
Trotz ihres fahrerischen Handicaps sind die drei aus Tübingen und Ulm lange in
der Spitzengruppe zu finden gewesen. Was
neben ihrer raschen Auffassungsgabe auch am Reglement gelegen haben mag. Denn die Rallye war als Gleichmäßigkeitsfahrt konzipiert, nicht als Vollgashetze wie die kommerzielle Dakar. Gleich zu Anfang machte sich das für das Team mit dem
Namen »Blue Spirit« bezahlt.
Beim Prolog in Olivet regnete es ohne Ende, »und wir standen da als Einzige mit normalen Enduroreifen. In der ersten Runde lagen noch Blätter auf den unbefestigten Wegen von diesem Panzergelände, doch in der zweiten Runde waren die
alle weg, die Reifen ständig zu, die Mühle schlingerte wie blöd. Ein paar Leute sind gefahren wie die Irren, ich musste dagegen zusehen, dass ich überhaupt heil rumkomme«. Kam Uwe auch, und damit auf
einen der ersten Plätze. Die anderen waren einfach zu schnell.
Trotz dieses Erfolgs wäre wohl der Enduroreifen für die Wüste nicht das Beste gewesen. Ebenso wenig wie der viel zu hohe Druck von 2,0 bis 2,5 bar, mit dem sie sich durch den Prolog gewurstelt
hatten. Die Verwunderung der Konkurrenz war groß, der Druck darob kleiner. Der Hinterreifen größer, breiter. Später dann, in
Afrika. »Irgend so ein Heidenau-Desert-Ding mit groben Stollen halt, den uns das Kedo-Team überlassen hatte.« Der wollte partout nicht an Auspuff und Schwinge vorbeipassen. Zunächst. Denn was nicht passt, lässt sich ja passend machen. »Mit einem Taschenmesser haben wir die
Stollen auf der rechten Flanke ganz einfach abgeschnitten.«
Es ist diese bewundernswerte Gabe der Improvisation, die das Team selbst in schlimmsten Situationen nicht verzweifeln ließ. Sondern baden. Warm baden. Und zwar in Marokko. Dort war es am ersten Abend schweinekalt und stürmisch. »Gleich beim Camp auf einer Hochebene stand so eine Baracke, und keiner wusste genau, was es damit auf sich hat.« Uwe schließlich schon. »Der spricht ja jeden an«, sagt sein Bruder, »so isser halt.« So
isser, und so erfuhr er, dass es in der
Baracke ein veritables Thermalbad gebe. Nach Öl gebohrt habe man vor Jahren, allerdings nur heißes Wasser gefunden. »Wir haben einige Biere unter die Jacken gepackt und uns in diese afrikanische Version von Wellness-Center verzogen. Das war irre, wir mit dem kühlen Bier im heißen Wasser und draußen Schneesturm.«
Es sollte indes schon noch Afrika werden. Afrika, wie man es sich vorstellt. Aber auch Afrika, wie es einen überraschen, mithin sogar schocken kann. »Am beeindruckendsten war«, sagt Axel, »als wir aus dem Hohen Atlas runterkamen, nachdem wir über diese karge Hochebene gefahren waren. Da siehst du unten grün, eine Schlucht, ein Wadi, da waren wir wirklich in Afrika angekommen, angekommen in der Wüste.« Auf der Ebene sei es so still gewesen, während einem in so einem grünen Fleck total der Lärm, die Lebendigkeit in die Ohren knallte. »Määääk, määäk, määääk, überall. Vögel, Ziegen, Kühe.«
Und Uwe erzählt weiter von den Reaktionen der Leute am Rand der Piste und davon, dass die von Jubeln und Winken über Bespucken und Steinewerfen bis
hin zum Versuch reichten, den Motorradfahrern Stöcke zwischen die Speichen zu
stecken. »Das waren jedoch ganz wenige, waren Ausnahmen.« Trotzdem habe einen das schon getroffen, meint Harald. »Wegen des Gefühls, du bist der reiche, der gestopfte Europäer, der es sich leistet, für nix und wieder nix mit Auto und Motorrad durch die Wüste zu fahren ein komisches Gefühl, das dich manchmal beschleicht.« Während der Vorbereitung haben die drei an alles Mögliche gedacht, was mit der Rallye als solcher zu tun haben könnte, nicht indes an die Begleiterscheinungen. Weil die außerhalb dessen lagen, was sie sich zunächst vorstellen konnten.
Zum Beispiel, von einem Polizisten gestoppt zu werden, der irgendwelche Pa-
piere verlangte, die er eigentlich gar nicht
sehen wollte. Er hat sie nur angehalten, um dem Dorflehrer einen Gefallen zu tun. »Der kam zu uns und fragte, ob wir nicht irgendetwas dabei hätten, was er für seine
Schule brauchen könnte.« Hatten sie nicht und lernten aus dieser Begegnung: »Beim nächsten Mal nehmen wir bestimmt massenhaft Kugelschreiber und so was mit.« Denn Axel, Harald und Uwe haben jetzt sehr wohl ein Gefühl dafür entwickelt, was man sich vorstellen muss, wenn man durch solche Gegenden fährt, Marokko, Mauretanien, Senegal. Auch weil die Rallye ihnen die Chance gelassen hat, diese Vorstellung zu entwickeln, weil sie nicht blinde Hetze forderte, sondern erlaubte, die Aufmerksamkeit nicht allein aufs Fahren zu konzentrieren. Nicht Augen zu und durch, sondern Augen auf und durch.
»Jeden Tag bekamen wir ein Doggie Bag, ein Lunchpaket für unterwegs, und weil wir sonst nichts zum Weggeben hatten, haben wir unsere Tagesrationen verteilt.« Besonders beliebt bei den Kindern waren Fischdosen. »Die haben sie sofort geöffnet und den Inhalt an Ort und Stelle in den Sand gekippt«, erinnert sich Uwe. »Mit der Büchse sind sie dann stolz abgezogen.« Sie basteln sich ihr Spielzeug daraus.
An einem der letzten Tage ist Harald
in den Dünen liegen geblieben, des Schalt-
hebels wegen, der beim zweiten Ersatzmotor immer runterfiel, weil die Welle schon ausgeleiert, der Hebel so schlecht darauf
befestigt war. »Wir mussten ihn mehrfach festschweißen, gehalten hat er trotzdem nicht.« Nicht eben optimal, gerade im Sand, wo man immer wieder hart zwischen den ersten Gängen schalten muss, um den Schwung nicht zu verlieren. Noch dazu blies der Einzylinder böse an der Kopfdichtung, die ein Opfer des schlechten Sprits geworden war. »Einen Ölkühler hatten wir nicht, und als die Temperatur nicht mehr unter 140 Grad kam, habe ich die Maschine einfach auf einem Dünenkamm abgestellt, um sie nicht völlig zu verheizen.« Harald wollte Uwe schließlich die Chance geben, die Schlussetappe am Strand des Lake Rose zu absolvieren, die letzten
47 von 4200 Kilometern in Afrika. Dass
Uwe schon nach vier Kilometern mit nas-
ser Zündung austrudelte, war schlichtweg Pech. Oder: »Ein Materialfehler«, wie Uwe meint. »Das Gerücht hält sich hartnäckig«, sagt sein Bruder, »auch wenn es nur einen gibt, der daran glaubt.«
Bei der Siegesfeier in einem Hotel waren zwar alle froh, es geschafft zu haben. Den drei vom Team »Blue Spirit« wäre ein weiterer Abend in der Wüste freilich lieber gewesen. »Da sind die Teams und da ist man als komplette Gruppe zusammen-
gewachsen. Das hat die Veranstaltung zu dem gemacht, was sie war, ein Riesenfest für alle und das Geilste, was wir in unserem Leben gemacht haben.«
Die Rallye soll auch 2007 wieder stattfinden,
dann eventuell nicht nur für Yamaha XT 500. Weitere Informationen finden sich auf der Website www.heroeslegend.com.