Noch Schweiz oder schon Italien – das Tessin betört mit einem mediterranen Mix aus Bergen und Pässen, Palmen und Seen an der Südseite der Alpen.
Noch Schweiz oder schon Italien – das Tessin betört mit einem mediterranen Mix aus Bergen und Pässen, Palmen und Seen an der Südseite der Alpen.
Schon die Anreise übers Kurvenkarussell von Klausen- und Furkapass ist ein Gedicht – an dessen „Ende“ wir sogar ein gewissermaßen dazu passendes Quartier finden, das historische Hotel „Croix d’Or et Poste“ in Münster, wo bereits so prominente Gäste wie Matterhorn-Erstbesteiger Edgar Whymper und Dichterfürst Goethe nächtigten. „Azzurro, so ist der Himmel für Verliebte, denn azzuro heißt blau“, schlagerte 1968 Vico Torriani. 50 Jahre später kannst du dich auch spontan verlieben, in den 2.478 Meter messenden Nufenenpass. Unter strahlender Samstagmorgensonne am azurblauen Firmament türmen sich Anfang Juni noch bis zu elf Meter hohe Schneewände beiderseits der serpentinengespickten Passstraße; sie ist Spielplatz für Motorradfahrer jedweder Couleur und zugleich Einflugschneise vom Wallis ins Tessin, südlichster Kanton der Schweiz, der sich zwischen Lago Maggiore und Comer See zipfelig nach Italien „hineinschiebt“.
Zwei weitere Alpenpässe hat das Tessin in petto, den göttlichen Gotthard und den Lukmanier alias Lucomagno. Ersterer wird für die Heimreise aufgespart, Letzterer kommt sogleich unter die Räder unserer Ducatis. Die dabei fast wie zu alten DDR-Zeiten über die stellenweise noch aus Betonplatten bestehende Fahrbahn rattern. Wende an der 1.915 Meter hohen Passhöhe – was doch 500 Höhenmeter ausmachen, denn anders als am Nufenen gibt’s hier kaum noch schmückenden Schnee – und zurück durchs Valle Santa Maria und Valle di Blenio bis zum Abzweig ins Valle Malvaglia. Das weltabgeschiedene Tal könnte ebenso am Amazonas liegen, so dschungelig grün ist es. Mittendrin wie gestrandete Buckelwale an dem schmalen Sträßchen zwei verlassene Snowmobile im Sommerschlaf. Totaler Kontrast zum menschenleeren Malvaglia dann Locarno, wo uns die Gnade des reisejournalistischen Auftrags drei Nächte im noblen Hotel „Belvedere“ beschert.
Frühstück mit Geissens und Co. auf der Terrasse, bevor statt Wellnessbereich und Pool, Pingpong und Outdoor-Schach heute das Valle Maggia nebst seiner Nebentäler lockt. Die Highlights: Im Val Lavizzara, dem oberen Teil des Valle Maggia, entdecken wir quasi eine Wasserfallunterfahrung, die wohl auch Winnetou – oder war es Chingachgook, der sich hinter einem Vorhang aus vom Fels herabstürzenden Wasser vor fiesen Verfolgern versteckt hat? – gut gefallen hätte. Das Val Bavona punktet zum einen durch lauschige Badeplätzchen an kristallklarem, aber nicht gerade warmem Wildwasser. Zum anderen durch liebevoll restaurierte Rustici, traditionelle Stein- und Holzhäuser, viele davon unter gefährlich thronenden, riesigen Felsbrocken erbaut; doch keine Bange, heute ist Sonntag, und da haben sicher auch gewichtige Felsen Ruhetag. Nicht jedoch die Fliehkräfte im Valle Rovana.„Zehn verwegene Haarnadelkurven im unteren Teil einer unzugänglichen Schlucht“, verspricht der Reiseführer, und tatsächlich entpuppen sich die engen Spitzkehren als ideal, um Serpentinen zu trainieren respektive zu goutieren. Anschließend wird es flüssiger, und der Testastretta-Motor der 1200er-Multistrada hämmert genauso lustvoll wie sein rüstiger „Vorfahre“, der durchaus lebendige, luftgekühlte Zweiventiler in der 1000er-Multistrada, weiter bergan bis Bosco Gurin. Zum Abschluss scheuchen wir die temperamentvollen Cavalli dann noch mal im gemäßigten Galopp durch das oft als Rennbahn missverstandene Centovalli bis zur italienischen Grenze, ehe es zurück ins schmucke „Belvedere“ hoch über Locarno geht.
Montagmorgen. Staute sich gestern an den Ufern des Lago Maggiore der Ausflugsverkehr vermutlich ähnlich stark wie bei einer Runde um den Bodensee, sodass die „Flucht“ in die Täler nur opportun war, so sieht das heute entspannter aus. Besonders von oben, beispielsweise bei Brissago: Palmen und Villen am Hang, dazwischen ein Panoramablick auf den glatten Spiegel des Sees, ab und an durchkräuselt von den Heckwellen der Fähr- und Ausflugsboote. Die Suche nach dem noch perfekteren Postkartenmotiv führt zu einer Runde über den Alpe di Neggia, ein 1.395 Meter hoher Pass unweit des Nordostufers vom Lago Maggiore. Aber statt See von oben gibt’s auf dem Waldsträßchen eher Bäume von allen Seiten. Wer die Motivjagd weiter fortsetzen möchte: Der Monte Bré besticht besonders bei Sonnenuntergang mit einem romantischen Blick auf den Luganer See. Nüchtern betrachtet scheinen das geschäftige Lugano und das Mendrisiotto, südlichster Teil des Tessins, zumindest für zeitknappe Motorradfahrer jedoch suboptimal, scusi, und so steuern wir nun lieber wieder gen Norden, ins wilde, für seine felsigen Badeplätze und sein smaragdgrünes Quellwasser bei Lavertezzo berühmtes Valle Verzasca. Wo nach 25 Kilometern Ende im malerischen Gelände ist, am autofreien Dorfplatz von Sonogno. Gelegenheit für ein Fazit in der Gaststube des „Ristorante Alpino“.
Das Tessin ist überschaubar und kompakt und buchstäblich nicht uferlos. Wer drei bis vier Tage bleibt, hat danach das Gefühl, (fast) alles gesehen zu haben. Alpenpässe im Norden, im Süden diverse naturnahe Täler mit Felsen und Bergbächen, Wasserfällen und viel Wald. Die meisten Täler sind Sackgassen mit entsprechend wenig Verkehr auf den Stichstraßen. Die, wie in der piekfeinen Schweiz kaum anders zu erwarten, meist in gutem Zustand sind; nur auf ganz kleinen Sträßchen geht es manchmal etwas holpriger zu. An den Ufern von Lago Maggiore und Luganer See ist Platz knapp und kostbar, Stop-and-go während der Rushhour kein Fremdwort, sodass Orte wie Locarno und Ascona, Lugano oder auch Bellinzona für Motorradfahrer eher sekundären Reiz haben – abgesehen natürlich vom Flanierfaktor und Après-Moto auf pittoresken Plätzen in den historischen Zentren. Eine letzte Nacht im „Belvedere“, dann trennen sich unsere Wege. Während die eine Multistrada ihrem kühnen Schnabel folgend gen Gotthard eilt, zieht es die andere, die ältere mit ihrer rundlichen, geteilten Kanzel, durchs Centovalli ins Piemont, quasi zu einem echten „italienischen Nachschlag“ im Anschluss an die Tage im Tessin.
Wer mit der Schweiz vielleicht ein wenig „fremdelt“, Italien aber ganz toll findet – der besuche mal vorurteilsfrei das Tessin. Die nicht nur wettermäßig italienischste Region der Eidgenossen ist eine abwechslungsreiche Symbiose aus hochalpinen Landschaften und mediterraner Lebenskunst.
Anreise: Von beispielsweise Dortmund sind es via Frankfurt am Main, Basel, Luzern und den Furkapass rund 740 Kilometer bis zur Kantonsgrenze Tessin am Nufenenpass. Wer sich die Vignette für die Autobahn durch die Schweiz sparen möchte, findet auch kostengünstigere, zugleich dann aber zeitintensivere Alternativstrecken.
Reisezeit: Im Tessin ist es naturgemäß oft (schon oder noch) wärmer als auf der Nordseite der Alpen. Wodurch eine Fahrt ins „Schweizer Sonnenstübchen“ von April bis November möglich wird; allerdings muss im Frühjahr und Herbst mit Wintersperre der Pässe gerechnet werden.
Motorradfahren: Genießt die Schweiz bei Motorradfahrern auch nicht gerade den besten Ruf, Stichwort Radarfallen und drakonische Strafen, so können wir diesen nach dem Tessin-Trip nicht bestätigen. Glücklicherweise? Jedenfalls überholten uns einheimische Kollegen, und die sollten es schließlich wissen, oft mit deutlich mehr als den erlaubten 80 km/h; und reichlich Blitzer gab’s erst wieder zu Hause rund um Hagen. Jedoch, auch das sei erwähnt, berichtete ein Bekannter unlängst von schikanösen Kontrollen am Pragelpass im Kanton Schwyz sowie von einer ominösen 2 x 2-Sekunden-Regel fürs Überholen, dank der er die Polizei Graubünden die sogenannte Bussenkasse wie im Etat eingeplant auffüllt.
Unterkunft: Wer es nicht in einem Rutsch bis ins Tessin schafft oder schaffen möchte, kann westlich des Nufenenpasses, noch im Wallis, stilvoll nächtigen in dem historischen Hotel „Croix d’Or et Poste“, Furkastrasse 79, CH-3985 Münster (VS), Telefon 00 41/2 79 74 15 15, www.hotel-postmuenster.ch. Als zentrales Quartier für gepäckfreie Tagesetappen, oder auch als zertifizierter E-Bike-Standort, empfiehlt sich in exponierter Hanglage und mit Blick auf den Lago Maggiore das Vier-Sterne-Hotel „Belvedere“, Via ai Monti della Trinità 44, CH-6600 Locarno, Telefon 00 41/9 17 51 03 63, www.belvedere-locarno.com
Aktivitäten: Badespaß versprechen Lago Maggiore und Luganer See, die Wassertemperaturen liegen dort von Juni bis Oktober deutlich über 20 Grad. Frischer, aber auch abenteuerlicher ist es zum Beispiel im Valle Maggia und Valle Verzasca in den felsigen Badelandschaften der vielen, von Wildwasser gespeisten Flüsse (Achtung Strömung). Für Segler und Surfer bieten die beiden großen Seen gute Bedingungen; einen besonderen Kick kriegen Taucher am Ostufer des Lago Maggiore, wo bei San Nazzaro versunkene Wracks auf sie warten. Stand-Up-Paddling (SUP) ist beispielsweise im Delta von Ascona und bei Agno auf dem Luganer See möglich. Top-Spots für Bungee-Springer sind die Eisenbahnbrücke bei Intragna im Centovalli und die Staumauer des Lago die Vogorno im Valle Verzasca. Während sich diese beiden Täler mit ihren ungestümen Gewässern ebenso für adrenalingetränkte Rafting-Touren eignen, taugt der Ticino bei Bellinzona für kontemplativere Kanufahrten. Von familienfreundlich gemütlich bis zu sportlich anspruchsvoll geht es per Mountainbike oder Rennrad auf markierten Routen durch die mediterranen und alpinen Landschaften des Tessins. Nicht zuletzt ist die Bergwelt natürlich ein Paradies für Wanderer, 2.000 Kilometer ausgeschilderter Wege führen zu meist recht leichten Touren und großartigen Panoramen. Großes Kino alljährlich Anfang August auch bei den Filmfestspielen in Locarno. Und zum Mekka für Jazz-Fans wird Ende Juni Ascona, wenn es dort beim Festival in den Altstadtgassen rundgeht. Gleichermaßen was für Auge wie Ohr sind die Rombo Days, traditionelles Harley-Treffen Ende August auf der Piazza Grande von Locarno.
Überraschendes: In Sass da Grüm am Monte Gambarogno gibt es einen Yoga-Wanderweg. Die kleinste Gemeinde der Schweiz ist mit rund einem Dutzend Einwohnern Corippo im Verzascatal. Fast 3.000 Winzer, etwa 100 vollberuflich, bauen auf 1.092 Hektar Rebfläche im Tessin Wein an, zumeist Merlot. Das nördlichste Reisanbaugebiet der Welt liegt im Maggiadelta, wo zudem Reisbier gebraut wird. Eine deutsche Sprachinsel in diesem ansonsten italienischsprachigen Kanton ist das Walserdorf Bosco Gurin. Beim „Palio degli asini“ in Mendrisio rennen einmal im Jahr Esel um die Wette. Hermann Hesse verbrachte viel Zeit im Tessin, schrieb hier unter anderem „Siddharta“.
Literatur und Karten: Detaillierte Infos inklusive Wissenswertem zu Wandern und Ausflügen, Land und Leuten, Natur und Kultur liefert der Reiseführer „Tessin“ aus dem Michael Müller Verlag für 16,90 Euro. Die Straßenkarte mit dem größten Maßstab ist „Meine Ferienkarte Tessin“ von Hallwag, 1:120 000, für happige 17,90 Euro. Trotz kleineren Maßstabs besser lesbar ist „Moto Map Schweiz“, ebenfalls von Hallwag, 1:275 000, mit einzeln herausnehmbaren, wasserfesten Roadbooks, für 22,95 Euro.
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