Ich musste noch einmal zurück. Nach Patagonien. Es waren die Bilder im Kopf von damals, die mir keine Ruhe mehr gelassen haben. Bilder von endloser Weite, von überirdisch schönen Gebirgen, von Regenwäldern, Vulkanen und türkis schimmernden Seen und Lagunen, an deren Ufern ich vor sehr vielen Jahren schon einmal mein Zelt aufgebaut hatte: Als Student war ich im Dezember 1989 aufgebrochen, um 6 Monate lang auf einer BMW R 80 G/S durch diesen stürmischen Süden von Chile und Argentinien zu reisen, der auf den Namen Patagonien hört. Es war ein großes Abenteuer, welches alle Erwartungen gesprengt hatte. Glück war für mich auf einmal mehr als nur ein Wort, es war fassbar geworden. Und ist bis heute untrennbar mit dieser Reise verbunden.
Kilometer null, Viña del Mar, Chile
Viña del Mar, Chile, 4. Januar 2023, Kilometer null: Meine BMW parkt inzwischen vollständig beladen im Innenhof der Pension, in der ich mich für die ersten Tage eingerichtet hatte. Ich muss nur noch aufsteigen, den Motor starten, losfahren. Auf diesen Augenblick habe ich lange gewartet, habe dafür ein Jahr lang geplant und organisiert.
Ich habe heute kein festes Ziel, kein vorab reserviertes Hotel, sondern nur eine Richtung. 100 Kilometer oder vielleicht schon 500? Alles wird davon abhängen, wie schnell wir uns aneinander gewöhnen, diese voll beladene BMW und ich. Genaugenommen liegt meine letzte längere Motorradreise 18 Jahre zurück, ich werde mich also an vieles erst wieder gewöhnen müssen. Aber es tut gut, endlich wieder unterwegs zu sein. Die nächsten drei Monate – ein zweimonatiges Mini-Sabbatical plus vier Wochen Urlaub – gehören nur mir und meinem Traum: zurück nach Patagonien!

Das alles musste mit, passte aber locker in die beiden Koffer und in die Gepäckrollen.
Nachtlager in Hörweite der Laja-Wasserfälle
Ich komme schnell voran, dieser mittlere Teil Chiles ist allerdings auch nicht sonderlich attraktiv. Was im Übrigen auch für die "Ruta 5" gilt, die Lebensader des Landes, die zugleich auch ein Teilstück der Panamericana ist, dabei aber gänzlich unromantisch einer zweispurigen Autobahn gleicht. In Hörweite der Laja-Wasserfälle baue ich am Abend zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder ein Zelt auf. Doch alle Bewegungen sitzen, als wäre ich nie anders gereist. Und auch das Gefühl im Kopf ist noch immer das gleiche, trotz der Enge im Zelt, der Hitze und des Staubs: Dieser Moment, er schmeckt wahrhaftig nach Freiheit! Ja, genau so hat es sich früher angefühlt!
Weiter in den Süden. Links der Straße ragt inzwischen ein Vulkan nach dem anderen aus der grünen Ebene, darunter der Lonquimay, der Llaima, schließlich der rauchende Villarrica. La Araucanía heißt dieser Teil des Landes, der bereits zu Patagonien zählt und an eine Mischung aus Kanada und der Schweiz erinnert, bis auf die Vulkane natürlich. Ich halte in östliche Richtung auf die Anden zu, wechsle hinüber nach Argentinien, hangele mich auf der "Ruta 40", der legendären "Cuarenta", weiter in den Süden. Es wird wilder und einsamer, ich zelte viel, bade in Flüssen und Seen, spüre, dass ich gelassener werde, dass mein Kopf allmählich frei wird für dieses Abenteuer. Inzwischen haben auch die GS und ich endgültig Freundschaft geschlossen, alles sitzt, passt und funktioniert. Wir sind bereit für diesen Trip bis ans Ende der Welt.
2.830 Kilometer, Chaitén, Chile
Chaitén, Chile, 17. Januar, 2.830 Kilometer: Es geht entlang der Carretera Austral, Chiles große Abenteuerstraße, die immer tiefer in diesen ansonsten unzugänglichen Süden des schmalen Landes führt, um nach wilden 1.247 Kilometern endgültig vor der Unzugänglichkeit einer immer großartigeren Fjord-, Gletscher- und Gebirgslandschaft zu kapitulieren. Alaska, Skandinavien oder doch Schottland? Ich habe längst die geografische Orientierung verloren, freue mich dafür umso mehr, dass diese Straße vorerst gut ausgebaut ist. Als ich hier im Januar 1990 entlangfuhr, war diese Trasse eine einfache Wellblechpiste. Bestenfalls.
Südlich von Coyhaique ist sich diese Straße für ihre letzten 500 Kilometer dann allerdings ihrem einstigen wilden Ruf treu geblieben: Sand und Schotter, während die Verwegenheit der Natur um uns herum kaum noch Grenzen kennt. In Villa O’Higgins, einer charmanten Mischung aus Militärposten und Pioniersiedlung in Sichtweite des patagonischen Inlandeises, ist dann endgültig Schluss. Wer wie ich weiter in den Süden will, muss erst wieder 360 Kilometer zurückfahren, um auf Höhe des Lago General Carrera hinüber nach Argentinien zu wechseln.
4.370 Kilometer, Perito Moreno, Argentinien
Perito Moreno, Argentinien, 30. Januar, 4.370 Kilometer: Südlich des kleinen Orts verschwindet die Ruta 40, die "Cuarenta", in der Steppe, die die östlichen 2 Drittel Patagoniens ausmacht. Gelb-graues Land, so weit das Auge reicht. Über viele Hundert Kilometer verläuft die "Cuarenta" schnurgerade, ich fahre wie durch ein großes Nichts. Diese Weite entpuppt sich als Ereignis, verschiebt jegliche bekannte Dimension, wirkt dabei ungemein meditativ. Zudem reißt der Wind ständig am Helm, an den Armen, am Motorrad, und manchmal sind die Böen so heftig, dass die Maschine für einen Moment sogar vom Kurs abzukommen droht. Nach genau diesem Patagonien habe ich mich jahrelang gesehnt.

Die Ruta 40 ist Argentiniens große Fernstraße, die bis ans Ende Patagoniens führt.
5.203 Kilometer, El Chaltén, Argentinien
El Chaltén, Argentinien, 2. Februar, 5.203 Kilometer: Ich halte mich am Nordufer des Lago Viedma in Richtung Westen, bin aufgeregt, freue mich auf ein ganz besonderes Wiedersehen. Und dann taucht er auf! Zuerst nur ein Zacken, der jedoch schnell zu einem gigantischen Monolithen heranwächst, umgeben von Schneefeldern und inmitten einer Gralsburg aus weiteren zornigen Felsnadeln, sie dabei jedoch alle überragt. Es ist der Fitz Roy, der König der Berge Patagoniens. 3.406 Meter purer Granit, wobei die oberen zwei Kilometer glatt und senkrecht wie eine Mauer sind. Ich halte, blicke lange auf diesen Berg, vor dem ich vor so vielen Jahren schon einmal stand, kann mein Glück kaum fassen.
Ein paar Tage später zwingt mich schlechtes Wetter zu einer größeren Kursänderung: Am gewaltigen Perito-Moreno-Gletscher war die Welt noch in Ordnung, während im weiter südlich gelegene Torres-del-Paine-Massiv seit Tagen ein Unwetter wütet. Ich beschließe, erst ans Ende der Welt auf Tierra del Fuego, Feuerland, zu fahren und es später dann noch einmal mit den Paine-Bergen zu versuchen, selbst wenn diese Routenänderung viele zusätzliche Kilometer verursacht.
6.650 Kilometer, Ushuaia, Argentinien
Ushuaia, Argentinien, 10. Februar, 6.650 Kilometer: Plötzlich, hinter einer lang gezogenen Kurve, der Eingang zur südlichsten Stadt der Welt: ein Portal aus zwei Türmen, auf denen mit großen Buchstaben Ushuaia geschrieben steht. Ein paar Kilometer weiter endet am Ufer der Bahia Lapataia endgültig die Straße und wenige Ecken später bei Kap Hoorn dann schließlich auch der Kontinent. Im März 1990, also vor fast genau 33 Jahren, stand ich schon einmal an dieser Stelle. Das Gefühl, hier zum zweiten Mal auf einem Motorrad angekommen zu sein? Großartig!
Einen Tag später gelange ich auf einer schmalen Piste, die auf meiner Karte nur als dünn gestrichelte Linie verzeichnet ist, sogar noch weiter in den Süden. Etwa 80 Kilometer führt dieser Weg in südöstliche Richtung am Beagle-Kanal entlang, wobei es so stürmisch ist, dass ich die BMW bisweilen kaum noch in der Spur halten kann. Schluss ist erst an einem Gatter an einer einsamen Polizeistation, dahinter nur noch die aufgewühlte See. Andere Reisende? Nicht an diesem Ort, den ich ab nun mit einem meiner intensivsten Fahrtage überhaupt in Erinnerung behalten werde.
7.900 Kilometer, Torres del Paine, Chile
Torres del Paine, Chile, 19. Februar, 7.900 Kilometer: Der Anblick der wild gezackten Paine-Berge trifft mich mit voller Wucht. Ich kann mir kein schöneres Gebirge vorstellen, kann mich nach 4 Tagen von meinem Standort am türkis-schimmernden Pehoé-See kaum losreißen. Ich spüre, dass ich endgültig in meinem Traumland angekommen bin, versuche, den Aufbruch hinauszuzögern: Wenn ich jetzt die GS starte, beginnt die Rückfahrt.

Sicherlich einer der spektakulärsten Orte Patagoniens: das Torres-del-Paine-Gebirge.
13.800 Kilometer, Fiambalá, Nordargentinien
Fiambalá, Nordargentinien, 15. März, 13.800 Kilometer: Die letzten 3 Wochen – ein einziger Rausch! Die fast 2.600 Kilometer lange Fahrt entlang der argentinischen Ostküste, die Tage in Buenos Aires, der Weg zurück bis zum Fuß der Anden bei Mendoza – an Eindrücken alles nicht mehr zu überbieten. Oder vielleicht doch: Ich stehe an der Ostrampe des San-Francisco-Passes, der von hier bis zum nächsten Ort auf chilenischer Seite über 500 Kilometer lang ist und bis auf eine Höhe von 4.725 Metern führt – vertraute alpine Dimensionen verlieren hier ihre Bedeutung. Mit 10 zusätzlichen Litern Benzin und 12 Litern Trinkwasser verschwinde ich in dieser Bergwelt, die von mehreren über 6.000 Meter hohen Vulkanen dominiert wird. Vor lauter Begeisterung spüre ich auf dem Pass nicht einmal, wie atemlos ich bin. Die BMW beschwert sich auch hier nicht über die Strapazen, sie hat bisher nicht einmal einen Tropfen Öl verlangt.
Laguna Verde in 4.300 Metern Höhe
Ein paar Kilometer weiter die Laguna Verde, ein türkis schimmerndes Juwel in 4.300 Metern Höhe. Ich halte am Ufer, baue mein Zelt auf, genieße die absolute Ruhe, die an diesem magischen Ort herrscht, aber auch das Gefühl totaler Einsamkeit. Als ich am nächsten Morgen aus dem Schlafsack krieche und bei null Grad inmitten dieses großartigen Panoramas die ersten wärmenden Sonnenstrahlen spüre, bin ich unendlich zufrieden.

Blick zurück auf die einmalig schöne Laguna Verde am 4.725 Meter hohen Paso de San Francisco.
Einreiseverbot für 10 Jahre, Viña del Mar
Das dicke Ende, es kommt am frühen Nachmittag: Der chilenische Grenzposten hat für die kommenden 3 Tage geschlossen. Weil weder das Benzin noch mein Trinkwasser für die Fahrt zurück nach Argentinien reichen, reise ich dennoch nach Chile ein und melde mich im 100 Kilometer entfernten Copiapó sofort bei den Behörden. Die Beamten verstehen jedoch keinen Spaß: Ich sei offiziell unerwünscht und müsse Chile bis Ende März verlassen haben. Zudem erhalte ich ein Einreiseverbot für die nächsten zehn Jahre. Einziger Trost: Mein Trip ist ohnehin fast zu Ende.
15.805 Kilometer, Viña del Mar, Chile
Viña del Mar, 27. März, 15.805 Kilometer: Nach 83 Tagen ist tatsächlich alles vorbei. Aber es tat gut, den alten Bildern im Kopf zu folgen, noch einmal aufzubrechen. Sehr gut sogar.
Bildband der Motorradreise durch Patagonien

Mit dem hochwertigen Bildband hat Michael Schröder eine Liebeserklärung an Patagonien, die Südspitze des südamerikanischen Kontinents, verfasst.
Mit seinen Geschichten und Bildern über eine dreimonatige Motorradreise durch Patagonien hat Michael Schröder jetzt eine Liebeserklärung an die Südspitze des südamerikanischen Kontinents verfasst. Der hochwertige Bildband ist mit einem ausführlichen Infoteil zugleich auch als Gebrauchsanweisung zu verstehen: Er soll zum Nachfahren animieren, zu einer Reise an das schönste Ende der Welt. "Sehnsucht nach Patagonien", Motorbuch Verlag, 240 Seiten, 450 Abb., ISBN 978-3-613-0-4594-1, 49,90 Euro. Erhältlich ab 27.10. 2023.