Die Dolomiten sind für zahlreiche Motorradfahrer Sehnsuchtsort und beliebter Spielplatz. Sie entstanden in Jahrmillionen – Plattentektonik hob den versteinerten, kalkigen Grund eines tropischen Meeres Tausende von Metern in die Höhe, gnadenlose Erosionskräfte schufen gigantische, weiß bis grau-gelb gefärbte und bizarre Felsformationen.
Das Sellajoch in 2.240 Metern Höhe
Als einer der markantesten Steinkolosse erhebt sich am Talschluss von Gröden der plateauförmige Sellastock. An seiner Westflanke verläuft die Straße zum 2.240 Meter hohen Sellajoch, dem Übergang ins Fassatal. Der Fahrweg auf den "berühmtesten Pass der Dolomiten" wurde 1872 fertiggestellt. Wolkenstein ist der nördliche Ausgangspunkt der SS 242. Am Ortsausgang legt sie sich in zwei weit gebaute Kehren und verläuft im Anschluss durch gut einsehbare Kurven und mit geringer Steigung durch einen Nadelwald, passiert senkrechte Felswände, Aufstiegsauflagen und Hotelkomplexe. Hinter Plan de Gralba schrauben sich zwei weitere Serpentinen den Berghang hoch, gleichzeitig wird die Fahrbahn schmaler. Nach der Abzweigung zum links wegführenden Grödner Joch wird der Asphalt unruhiger. Er leidet wohl unter dem Schwerverkehr der dortigen Schottergrube.
Spektakuläre Landschaft entlang der Dolomiten
Fahrerisch stellen sich bereits hier keine nennenswerten Herausforderungen mehr. Die Strecke ließe sich sehr zügig fahren, sofern plötzlich wechselnde Fahrbahnbreiten und am Fahrwerk rüttelnde Spurrillen kein Problem darstellen. Die Steigung überschreitet keine neun Prozent, die engsten Serpentinen liegen schon hinter einem, und durch die hohe Lage von Wolkenstein (1.560 Meter) sind wenige Höhenmeter zu überwinden. Einzig die erst vor Kurzem angelegten, grell gekennzeichneten und sicherlich gut gemeinten Fahrradspuren könnten auf dem Weg zum Pass für aufregende Momente sorgen. Denn sie enden abrupt an Engstellen und zwingen dadurch Fahrradfahrer doch wieder auf die dann sehr schmale Straße.
Nur aufs reine Fahren reduziert, wäre die Nordrampe des Sellajochs wohl langweilig – der Reiz liegt im Wahnsinn der vorbeiziehenden Landschaft. Diese ist geprägt von sanften Hügeln, die urplötzlich an senkrechten Felswänden enden, zeigt üppig grüne Almwiesen, in denen neben liebevoll dekorierten Holzhütten immense Findlinge liegen, und präsentiert unweit der Passhöhe eine spektakuläre steinige Welt, die vor Urzeiten durch einen Felssturz entstanden ist.
Verkehrschaos durch endlose Besucherströme
Wahnsinnig, allerdings im negativen Sinn, sind auch die Auswirkungen des Tourismus. Hier kann das Thema Verkehrschaos in allen Facetten erlebt werden – vor allem im Hochsommer und an Wochenenden, wenn es alle und jeden in die bleichen Berge zu ziehen scheint. Es ist ein surrealer Anblick, wenn sich auf der Straße die Fahrzeuge und auf den Wanderwegen die Menschen stauen. Die Parkscheibenpflicht selbst auf kleinsten Schotterplätzen wirkt wie ein verzweifelter Versuch, die endlosen Besucherströme in geordnete Bahnen zu lenken.
Die Kurven des Sellajochs schicken die Blicke im Wechsel auf den Langkofel, den Sellastock und den gigantischen Piz Boè. Immer wieder tauchen in den Spalten zwischen den Felsnadeln weitere Gipfel auf, selbst an den exponiertesten Graten klammern sich Bäume an den Fels.
Faszinierendes Farbenspiel der Dolomitentürme
Gekrönt wird dieses Erlebnis durch das Farbenspiel der Dolomitentürme. Das weiche Licht des Morgens vertreibt die Blässe aus dem Gestein und taucht es in ein warmes Gelb, das harte Mittagslicht lässt die Risse und Brüche im Gestein hervortreten, die Abendsonne legt ihr feuriges Glühen über die Steinkolosse.
Die sich minütlich an Eindrücken übertreffende Landschaft verdient es, in Ruhe betrachtet und wertgeschätzt zu werden. Die Beschränkung auf maximal 60 Stundenkilometer auf der Sellajoch-Straße ist ein Segen. Die Passhöhe fällt etwas aus dem Rahmen, zeigt sich nur mäßig einladend. Die wenigen Parkplätze sind unbefestigt und enden direkt am Abgrund. Außer einem Hotel, das schon bessere Tage gesehen hat, und einem Souvenirladen, der aus der Zeit gefallen scheint, bietet sie auf den ersten Blick nichts Besonderes. Doch die Sitzplätze auf der Terrasse des Kiosks sind einen Stopp wert: Sie bieten einen atemberaubenden Blick auf die gleißende Marmolata als höchsten Berg (3.343 Meter) der Dolomiten.
Über das Grödner Joch zum Pordoijoch
Auf der Südrampe ändert sich der Charakter der Straße völlig. Der Berg arbeitet permanent an der Fahrbahn, lässt sie abrutschen und kippen, reißt den Asphalt auf und macht jede Reparatur nach wenigen Monaten wieder zunichte. Sie fällt steiler in die Tiefe, die Serpentinen, obwohl auch hier in Reisebus-Breite, sind enger und zahlreicher, die geraden Abschnitte länger, die Landschaft ringsum wilder. Und sie lebt von der Imposanz der scheinbar endlosen Wände des Sellastocks und des alles überragenden, über 3.100 Meter hohen Piz Boè. An seinem Fuß schieben riesige Geröllhalden den Wald zu Tal. An den Rändern der schwarz gefärbten Felswände warten riesige Felsbrocken auf ihren Sturz in die Tiefe.
Von der Abfahrt zum Grödner Joch bis hierher, zur Anbindung an die Große Dolomitenstraße, die auf das Pordoijoch führt, sind nur elf Kilometer zurückzulegen. Diese kurze Strecke ist jedoch reich an überwältigenden landschaftlichen Eindrücken.