Weiße Wattebauschwölkchen am blauen Himmel, darunter knallgelber Raps, so weit das Auge reicht. Ein idyllisches Bild, oder? Tja, das kann man auch anders sehen. Denn mitten in dieser werbefilmtauglichen Kulisse südlich von Grevenbroich liegen wie Spinnen im (Strom-) Netz die sieben Blöcke A–E sowie F–G des Kraftwerks Neurath der RWE Power AG. Mit einer elektrischen Bruttoleistung von insgesamt rund 4.400 Megawatt ist es das größte Kraftwerk in Deutschland und das zweitgrößte Braunkohlekraftwerk Europas. Die drei letzten deutschen Atomkraftwerke am Netz bringen es – Stand 2022 – dagegen zusammen auf "nur" knapp 4.300 Megawatt.
Cruisen durchs Rheinische Braunkohleviertel
Wie die Pusteln von Windpocken pflastern zurechtgeschnipselte rote Post-its die Straßenkarte, markieren all die Orte, die Rainer und ich zunächst rund um die Tagebaugebiete Garzweiler II und Hambach ansteuern wollen. Theorie und Praxis. Eine feste Route à la "Romantische Straße" gibt es nicht, manche Straßen und Dörfer auch nicht mehr. Wie ein Krebsgeschwür hat sich der Tagebau durch die besiedelte Landschaft gefressen, sich gierig Stück für Stück gekrallt.
Konsens inzwischen immerhin, dass der CO2-Ausstoß von Braunkohle, schädlichster aller fossilen Energieträger, ein extremer Klimakiller ist – was hier aber nicht tiefschürfend weiter thematisiert werden soll, schließlich ist MOTORRAD nicht, sagen wir mal, das Greenpeace-Magazin. Trotzdem gilt beim Cruisen durchs Rheinische Braunkohlerevier das Motto aus dem alten deutschen Volkslied: "Die Gedanken sind frei …", vielleicht auch in der Version von Konstantin Wecker, "… solang sie nicht stören." Apropos: Der Braunkohle längst gewichen sind abgebaggerte Ortschaften wie Elfgen, Etzweiler und Otzenrath, die Bewohner entschädigt und umgezogen (worden) in schmucke Siedlungen, oft mit einem aufmunternden "Neu" vor dem alten Ortsnamen.
Braunkohlekraftwerk in Frimmersdorf
Und was wird wohl aus stillgelegten Braunkohlekraftwerken wie Frimmersdorf, das wir mit den Motorrädern neugierig umkreisen? Wie ein gestrandeter Ozeandampfer ragt der Koloss aus der Botanik. Als Kind des Niederrheins denkt man da sofort an eine Umfunktionierung wie beim schnellen Brüter in Kalkar-Hönnepel, dem nie ans Netz gegangenen Leichtwasserreaktor, aus dem dann ja der Familien- und Freizeitpark (Kernwasser-)Wunderland wurde. Nun, zumindest gibt es schon mal bei Frimmersdorf die Motocross-Strecke des MSC Grevenbroich.
Und jetzt auf unseren indischen und italienischen Kraftwerk(ch)en zum Rendevous mit der Mutter aller klimapolitischen Konflikte hierzulande, zum Garzweiler Tagebau. "Gänsehaut garantiert", wirbt RWE am Aussichtspunkt Jackerath für seinen Skywalk, der als 14 Meter lange Plattform weit in den schmutzigbraunen Abraum hineinschwebt und dir den Atem raubt. So oder so. Am anderen Ende der riesigen Mulde, in der selbst monströse Schaufelradbagger wirken wie kleine Krabbelkäfer, zumindest aus der Ferne, liegt südlich von Neu-Otzenrath und der A 46 ein weiterer Aussichtspunkt. Zu erahnen auch, wie eine ganze Phalanx von Windrädern die Landschaft verschandelt, nicht wahr?
Terra Nova 1 Aussichtsplattform bei Elsdorf
Dritte Möglichkeit zum Blick in den Abgrund bietet für uns heute Terra Nova 1 bei Elsdorf. 23 Millionen Tonnen Kohleförderung pro Jahr, knapp 46 Quadratkilometer Betriebsfläche – die nackten Zahlen des Hambacher Tagebaus. Vorsorglich, die Sommer werden bekanntlich immer heißer, hat man an der Abbruchkante fürs neugierige Publikum ein paar Sonnenschirme nebst Liegestühlen fest installiert. Dazu angegliedert die "Eventgastronomie Forum :terra nova".
Bei einem 0,3er-Sprudel spontanes Kopfrechnen, na ja, Spekulieren: Wie viele Gläser wären wohl nötig, und Jahr(zehnt)e, um nach Ende des Hambacher Tagebaus das bis zu 400 Meter tiefe Loch in der Landschaft wie geplant mit Grundwasser und Wasser aus dem Rhein zu fluten, sodass ein 40 Quadratkilometer großer See entsteht? Rekultivierung ist die Devise, als bereits gelungenes Beispiel gilt das bewaldete Erholungsgebiet Sophienhöhe, eine Aufschüttung mit großer Artenvielfalt.
Hambacher Tagebau und Lost Places
Aber mal ehrlich: Natur pur ist gerade bei dieser Motorradtour nicht unser primäres Ziel. Eher schon sind es Lost Places, buchstäblich gottverlassene Orte mit leicht morbidem Charme wie die ehemalige Pfarrkirche in Manheim. Nach einer Abschiedsmesse 2019 entweiht und nun verrammelt und verbarrikadiert, steht sie quasi als letzter Mohikaner im entsiedelten Umfeld. Doch vielleicht geschieht ein Wunder, kann das finale Aus noch vermieden werden – bei "optimierter Betriebsführung" im Hambacher Tagebau, so die Kölner Bezirksregierung.
Endgültig vorübergegangen ist der Kelch respektive die Abrissbirne bereits am benachbarten Alt-Morschenich, geadelt inzwischen zum "Ort der Zukunft", der von innovativen Projekten in der Landwirtschaft träumt und Freizeitoase an einem See werden möchte, mit Blick auch auf die bescheidenen Reste – wir erinnern uns an das Drama anno 2018 rund um "Hambi" – den Hambacher Forst.
Aktivistencamp und Mahnwache in Lüzerath
Stippvisite der Outdoor-Kartbahn vom Kartclub Kerpen-Manheim, nicht zu verwechseln mit Schumis Kart- und Event-Center in Kerpen-Sindorf, und dann hinein ins "Auge des Orkans", nach Lützerath. Es ist ein frühlingshafter Tag Mitte April 2022, doch wenn dieser Beitrag erscheint, ist der Weiler mit seinen verbliebenen bunt besprühten und besetzten Gebäuden sowie den kühn errichteten Baumhäusern am Rande der Abbruchkante des Garzweiler Tagebaus vermutlich längst geräumt, weggebaggert und Geschichte.

Baumhaus am Rande der Abbruchkante des Garzweiler Tagebaus.
Für die einen Symbol des Widerstandes gegen fossile Energieträger, für die anderen Symbol des vorgezogenen Ausstiegs (in NRW 2030 statt 2038) aus ebendiesen; fünf Dörfer dürfen zudem bleiben, nur Lützerath muss weichen. Aber noch läuft die bis Januar 2023 terminierte Galgenfrist, hängt das große, die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens fordernde Transparent "1,5 °C heißt: Lützerath bleibt!"
Zeit also für ein paar Fotos neben dem denkmalgeschützten Hof von Eckardt Heukamp, letzter Bauer des Dorfes, der erst kürzlich aufgegeben und an RWE verkauft hat; danach ein lockeres "Benzingespräch" mit Regenbogenhosen-Träger, Klimaaktivist und Mahnwachengestalter Hajo. Gretchenfrage: Wird die Braunkohle unter Lützerath wirklich noch zur Energieversorgung gebraucht, ja oder nein? The answer ist blowin’ in the wind – respektive in den sich gegenseitig widersprechenden Gutachten. Glückauf, eine Spende für die Kaffeekasse, und als der in Sichtweite des Aktivistencamps postierte RWE-Werkschutz Schichtwechsel hat, wechseln auch wir die Location, starten wieder unsere sparsamen Zweizylinder – unter vier Liter auf 100 Kilometer, okay? – und nehmen Kurs auf Holland und Belgien.
Geisterdorf in Doel, Belgien
Um es kurz zu machen: Amici Beach am Effelder Waldsee, Hausboote und Schifffahrtsmuseum in Maasbracht, die größten und leckersten Pfannkuchen von Limburg, Nachbarschaftswache per WhatsApp in Hechtel-Eksel, kubistische Einfamilienhäuser und Villen in wohl ganz Belgien, Containerberge und Brückenwirrwarr im gigantischen, gut 130 Quadratkilometer messenden Hafenareal von Antwerpen – und nach rund 240 Kilometern sind wir da, in Doel. Es könnte ein Gegenentwurf zu Lützerath sein, dieses belgische Polderdorf, gelegen zwar nicht an der Abbruchkante einer Braunkohlegrube, aber am Ufer der Schelde, nahe dem Deurganck-Dock, Teil des sich ins Land hineinfressenden Antwerpener Hafens. Dort sollte ein weiteres Terminal entstehen, sodass viele Hausbesitzer enteignet wurden, die meisten Leute wegzogen.
Doch dann hat man einen anderen Standort gefunden, und Doel kann bleiben, ist jetzt allerdings das Zuhause von nur noch wenigen Ureinwohnern. Zusammen mit diesen und Interessengruppen wie "Doel 2020" will die Regierung die Zukunft des Dorfes planen. Und auch schon die Gegenwart sieht hier keineswegs schwarz aus, trotz des benachbarten Kernkraftwerks, krasser Gegensatz zur nur einen Flügelschlag entfernten Windmühle aus dem Jahr 1614. Nein, Doel ist bunt und farbenfroh, an vielen Fassaden prangen riesige, teils dystopische Graffitis – ganz aktuell "Fuck Putin" – und machen so das Dorf zum attraktiven Ausflugsziel. Wo eigentlich nur eine zünftige Frittenschmiede fehlt. Stattdessen zum Schluss ein Spruch von Rainers Opa: Wie schnell ist nix getan!