Eine große Schleife durch Osteuropa drehen, Polen und die drei neuen Sterne an Europas Reisehimmel, die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, auf dem Motorrad erkunden – das war unser Traum. Seit ihrem Eintritt in die EU 2004 laden die drei kleinen Länder so einfach wie nie zu einer Entdeckungsreise ein. Polen ist dabei für uns nicht nur Transitland, sondern vollwertiges Mitglied unseres »Schleifen-Traumes«: Auf Südost-Kurs im Landesinnern bis Tallinn, dann an der Ostsee-Küste retour nach Deutschland. Das werden mehr als 6000 Kilometer, also nichts wie los.
Hinter der polnischen Grenze reißt die Braunkohlehalde bei Bogàtynia ihren Rachen auf. Eine der größten in Europa und auch Versorgerin des nahe gelegenen Kraftwerks. Polen setzt verstärkt auf Braun- und Steinkohle als Energieträger, um sich eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber Russland zu sichern, wie ein freundlicher Schlesier in perfektem Deutsch erklärt.
Auf einem abwechslungsreichen Sträßchen geht es nahe der tschechischen Grenze durch den Süden Polens flott voran. Über uns ragt in lichten 1602 Metern die Schneekoppe gen Himmel. Alles wirkt aufgeräumt, die Dörfchen mögen zwar renovierungsbedürftig sein, aber die Menschen sind aufgeschlossen und freundlich.
Hinter Wadowice windet sich die Straße stetig steigend Richtung Zakopane. Von Weitem leuchten die letzten Schneereste auf den Granitgipfeln der Hohen Tatra. Das Wintersportrevier zieht im Sommer Tausende Wanderer bis hin zum mächtigen Gipfelkreuz des 1894 Meter hohen Gierwont. Wer die Bewohner des bergigen Tatra-Vorlandes in ihren Trachten beobachtet, wer den Baustil ihrer Häuser registriert, fühlt sich an den Schwarzwald erinnert. Selbst die Straße weckt Assoziationen dazu: Steil und kurvenreich schlängelt sie sich auf knapp 1000 Meter und gewährt einen letzten Ausblick auf die Gebirgskette.
Dahinter beginnen die Waldkarpaten. Einsame Straßen führen hinab in deren Bilderbuchlandschaft. Nur der kleine Zeltplatz nahe der Straße bietet wenig Malerisches. Zwei Waschbecken mit tropfenden Wasserhähnen im Freien, daneben eine Duschwanne mit Gartenschlauch und eiskaltem dunkelbraunen Wasser aus allen Poren. Na denn!

Während der nächsten Etappe wünschen wir uns diese Abkühlung wieder herbei, denn das Thermometer überklettert unerbittlich die 30-Grad-Marke. Nach fast 400 Kilometern im kaum mehr kühlenden Fahrtwind rollen wir müde in Kaziemierz Dolny an der Weichsel ein. Ein malerisches 4000-Seelen-Städtchen, von einer Burgruine und dem ehemaligen Wachturm dramatisch überragt, während darunter auf dem historischen Marktplatz Rynek geschäftig mit Blumen, Obst, Gemüse, Wurst, Käse und Brot gehandelt wird.
Zum Wallfahrtsort Grabarka gelangen wir auf Schotterpisten. Für die orthodoxe Kirche ist der heilige Berg mit seinen 20000 Kreuzen eine der wichtigsten Pilgerstätten Polens. Wir verzichten auf das heilige Quellwasser, müssen dafür im Nationalpark Wigierski 14 Stunden Dauerregen erdulden. Die litauische Grenze bei Ogrodniki erreichen wir im Blindflug. Seit dem Beitritt der baltischen Länder und Polens zum Schengener Abkommen sind Grenzübertritte einfach.
Bald empfängt uns die litauische Hauptstadt Vilnius mit kunstvoll restaurierten, barocken Häuserzeilen, gepflegten Grünanlagen und überraschend südländischem Flair. Die Menschen wirken offen, modern und selbstbewusst. Stilvolle Cafés locken in den Hinterhöfen und am Kathedralenplatz unter dem freistehenden, fast 60 Meter hohen Glockenturm. Wie Prag ist Vilnius eine Stadt der Türme.
Auf der Landstraße 102 rollen wir weiter Richtung Zarasai. Die ersten 50 Kilometer sind gut ausgebaut, doch ab Pabrade beginnt loser Schotter. Anlieger, tiefe Spurrillen, Staub und Schlammpassagen wechseln sich nun ab – echtes Enduro-Terrain. Wir geben alles, um unsere BMWs nicht in den Dreck zu werfen. Erst im Aukstaitija-Nationalpark wird das Fahren entspannter. Unzählige Seen, sanfte Hügelketten, plätschernde Bäche und dichte Wälder lassen die Anstrengungen vergessen.
Direkt hinter der Grenze zu Lettland fahren wir auf die A 13 Richtung Daugavpils. Heftiger Regen reduziert die Sicht gegen null und verwandelt den Asphalt in Schmierseife. In der Stadt angekommen, flüchten wir unter das Dach einer Tankstelle. Dort erzählt uns ein ansässiger Deutscher, dass im lettischen Grenzgebiet zu Weißrussland und Russland zwar noch viele Russen leben, ihre Kultur im Baltikum inzwischen aber sehr unbeliebt sei. Wodka werde zunehmend durch Bier ersetzt, die einstige Pflichtsprache Russisch nur noch unwillig gesprochen. Mangels Industrie und touristischer Sehenswürdigkeiten geriete diese Region ins Abseits.
Als der Regen nachlässt, fahren wir noch bis Aglona, finden allerdings keinen Platz zum Zelten. Spontan lädt uns eine ältere Dame ein, unser Zelt in ihrem Garten aufzustellen. Es ist wunderschön, denn ihr Grundstück grenzt direkt an den Cirišs-See. Beim Abendessen erzählt sie in gebrochenem Deutsch von ihrem Vater, der ihr die Sprache beigebracht habe. Sein Kämpfen auf der deutschen Seite bezahlte er nach dem Krieg bitter mit fünfzehn Jahren Lager in Sibirien. Die alte Dame redet sich in Rage, der Hass auf die einstigen Besatzer sitzt noch tief.
Am nächsten Morgen setzt sich die Sonne endgültig gegen die Regenwolken durch. Es fällt uns schwer, die idyllische und freundliche Unterkunft zu verlassen. Herzlich werden wir verabschiedet. Der lettischen Tradition folgend, nach der man Reisenden eine Kleinigkeit mit auf den Weg gibt, überreicht uns unsere Gastgeberin einen mächtigen Laib Brot, ein halbes Kilo Wurst und zwei Kerzen. Bewegt nehmen wir Abschied.
Wieder auf der A 13 folgen wir dieser bis Rezekne, wechseln dort auf die P 35. Wir genießen die Fahrt durch einsame Kiefern- und Birkenwälder, an Wiesen und Äckern vorbei. Auf den Dächern der Bauernhöfe recken junge Störche ihre Hälse aus den Nestern. Am Abzweig nach Gulbene beginnt erneut eine Schotterpiste. Stehend fliegen wir über die Auswaschungen und ziehen eine mächtige Staubfahne durch den Wald.

Die estnische Grenzkontrolle ist gründlich. Fahrzeugpapiere, Führerschein und Pässe werden überprüft, Fahrgestellnummern verglichen. Gleich hinter der Grenze wartet der höchste Berg des Baltikums, der 318 Meter hohe Suur Munamägi. Das klingt nicht nur bereits finnisch, sondern sieht auch so aus. Birken- und Fichtenwälder dominieren, die endlosen Wiesen sind von kleinen Seen durchzogen, und das bisherige Grau der Häuser weicht mehr und mehr den Farben Gelb und Rot.
In der zwischen dem großen Peipsi- und dem Vörtsjärv-See gelegen Universitätsstadt Tartu entdecken wir zum ersten Mal Kaffee-Kultur. Latte Macchiato und Espresso sind angesichts der vielen Studenten hier keine Fremdworte, und man nimmt sich ein bisschen mehr Zeit für sich selbst. In Tallinn herrscht dagegen großer Trubel. Wir schlendern zuerst durch die Unterstadt, in der einst das sogenannte Fußvolk Handel trieb. Die Oberstadt war Adligen und Geistlichen vorbehalten. Heute residieren Botschaften und Banken in den wunderschön restaurierten Gebäuden, von denen man einen prächtigen Ausblick auf Unterstadt und Hafen genießt.
Wir haben den nördlichsten Punkt der Reise erreicht. Von Tallinn gehen wir auf der von der EU mitfinanzierten baltischen Verkehrsschlagader, der »Via Baltica«, auf Südkurs und rollen nach Lettland zurück, folgen dem Salaca-Fluss nach Valmiera und in die einsamen Landschaften des Gauja-Nationalparks. Im Gegensatz zu dieser unberührten Natur steht die mondäne Hauptstadt Riga, wo Edelkarossen und elegante Damen in Highheels die Straßen bevölkern und teure Jachten die Hafenkais. Nirgends sind die Gegensätze zwischen armer Landbevölkerung und wohlhabenden Großstädtern auffallender.
Riga zählt wie Vilnius und Tallinn zum Weltkulturerbe. Wir verlassen das pulsierende Ensemble aus Backsteingotik und verspieltem Jugendstil auf der A10 in Richtung Jürmala, wo sich einer der beliebtesten Sandstrände Lettlands erstreckt. Hinter Tukums folgt eine 60 Kilometer lange Schotterpiste, über A 9 und A 11 geht es nach Litauen zurück. In Klaipeda campen wir wenige hundert Meter vom Meer entfernt. Am Strand dösen ein paar Sonnenhungrige, während im Hafen die Fähren warten – Klaipedas »Tor zur Welt«. Nichts erinnert mehr daran, dass die einst ostpreußische Stadt Memel zu Sowjetzeiten ein hermetisch abgeriegelter Marinestützpunkt war. Vom Leuchtturm von Vente schweift der Blick über die Kurische Nehrung: Der Dünenstreifen, 100 Kilometer lang und bis zu 1500 Meter breit, ist eine Wüste im Meer und liegt zwischen der Ostsee und dem aus Süßwasser gespeisten Kurischen Haff.
Wir umrunden die visumpflichtige russische Enklave Kaliningrad und erreichen 500 Kilometer weiter die Masurischen Seen. Ein Naturparadies für Wassersportler, Wanderer, Radler und Endurofahrer. Viele der Wege durch das Seengebiet sind noch unbefestigt und bieten uns und unseren BMWs eine wunderbare Gelegenheit zum stressfreien Enduro-Wandern.
In der Nähe von Ketrzyn dann der Kontrast: Ein Gebirge aus meterdickem, verwitterten Beton – die Wolfsschanze. Neben dem Obersalzberg in Garmisch-Partenkirchen und dem Hauptquartier in Berlin der dritte Stützpunkt Adolf Hitlers. Hier unternahm die Widerstandsgruppe rund um Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 das erfolglose Attentat auf den Diktator.
Sopot ist unsere letzte Station in Polen. Eine Stadt, die sich anschickt, erneut das mondäne Seebad von einst zu werden. Und das Zeug dazu mitbringt. Mit ihrem feinkörnigen, weißen Sandstrand, ihren Prachtstraßen und alten Villenvierteln. Wir sind fast am Ende unserer Reise. Vielleicht finden wir eine angespülte Träne der Götter«, einen Bernstein. Nirgends auf der Welt gibt es ihn so häufig wie hier am Ostseestrand. Wir blicken zurück: Gut, dass wir diese Reise gemacht haben. Herrliche Landschaften, einsame Schotterpisten, freundliche und hilfsbereite Menschen haben wir erlebt – und eine feine Spur von Abenteuer.
Infos

Anreise
Eine interessante Alternative zur Anreise über Polen sind die Fähren über die Ostsee, eventuell sogar gekoppelt mit dem Autozug (www.dbautozug.de) zum Fährhafen. Verbindungen bestehen zum Beispiel von Rostock nach Ventspils in Lettland (Info: www.scandlines.de, Telefon 01805/116688), von Lübeck nach Riga oder von Kiel und von Sassnitz nach Klaipeda in Litauen (Info: www.baltikum24.de, Telefon 040/3802060).
Papiere/Finanzen
Alle drei baltischen Staaten und Polen sind zum 21. Dezember 2007 dem Schengener Abkommen beigetreten, eine Grenzkontrolle zwischen diesen EU-Staaten findet nicht mehr statt. Personalausweis, grüne Versicherungskarte, Fahrzeugpapiere und Führerschein reichen für EU-Bürger aus. Wer mit einem geliehenen Fahrzeug unterwegs ist, benötigt eine Vollmacht des Eigentümers. Bei Verlust können Kopien nicht schaden. In den bereisten Ländern gibt es vier verschiedene Währungen. Wechselstuben (Kontor) finden sich an jedem Grenzübergang. Auch in Banken und etlichen größeren Postämtern kann man Devisen tauschen. Viele Supermärkte verfügen über Geldautomaten, Kreditkartenzahlung mit Visa- oder Mastercard ist ebenfalls möglich. Größere Geschäfte und (für Motorradfahrer wichtig) erstaunlich viele Tankstellen sind auf bargeldlose Zahlung eingerichtet.
Unterkunft und verpflegung
In den größeren Städten gibt es Hotels jeder Preiskategorie, in ländlichen Gebieten stehen Zimmer immer dort zur Verfügung, wo ein wenig Tourismus herrscht. Die Campingplätze sind oft noch weit vom westlichen Standard entfernt und haben in der Regel auch Hütten zu vermieten. Ein eigener Schlafsack leistet überall gute Dienste. In Polen ist wildes Zelten nicht erlaubt, allerdings gibt es nach Absprache mit dem Besitzer immer Möglichkeiten auf Privatgrund. Weiter bieten sich die sogenannten Biwak-Plätze (»Pole Biwakowe«) an. Das sind umzäunte Wiesen, die über rudimentäre Sanitär-Einrichtungen verfügen und vor allem bei einheimischen Jugendlichen beliebt sind, weil sie sehr wenig kosten. In den drei baltischen Staaten ist wildes Zelten hingegen gestattet, nur in den Nationalparks gibt es Einschränkungen, die man beachten sollte. Was die Verpflegung angeht, entspricht das Nahrungsmittel-Angebot an Auswahl und Qualität in den großen Städten dem vom Westen gewohnten Standard. Auf dem Land entdeckt man oft versteckte kleine Lebensmittelläden mit eingeschränkterem Sortiment. Dorfkneipen bieten deftige, aber schmackhafte Hausmannskost an.

Sicherheit
Die in Deutschland herrschenden Vorurteile sind nach unseren Erfahrungen unbegründet. Die Kriminalität ist nicht größer als im westlichen Europa. Auch in Südfrankreich, Spanien oder Italien und in Touristenmetropolen generell muss man wachsam sein. Auf bewachten Parkplätzen kann man sein Motorrad beruhigt abstellen. Wer im Freien kampiert, sollte auf Zecken achten. Eine Impfung gegen FSME (virale Frühsommer-Meningoenzephalitis) sollte spätestens drei Wochen vor Reiseantritt abgeschlossen sein. Auch Insektenschutzmittel können dazu beitragen, Zeckenbisse zu verhindern.
Motorradfahren
Polen und das Baltikum können mit jedem Motor-rad bereist werden. Wer abseits der Hauptrouten unterwegs sein will, trifft oft noch auf kilometerlange Schotterpisten und sollte trotz flächendeckender Versorgung mit (bleifreiem) Benzin rechtzeitig tanken. Verbindungsstraßen zwischen Dörfern können auch Erd- oder Waldwege sein. Die asphal-tierten Straßen sind im Baltikum generell in wesentlich besserem Zustand als in Polen, wo zum Teil heftige Schlaglöcher die Federelemente von Motorrädern bis an die Grenzen fordern können. Verkehrstechnische Besonderheit: In den baltischen Staaten gelten vor Ampeln andere Regeln als in Deutschland. Die Ampeln leuchten in vier Phasen: Grün, blinkendes Grün, Gelb und Rot. Bereits bei blinkendem Grün muss man anhalten, denn Kreuzungen dürfen bei Gelb auf keinen Fall mehr überquert werden. Motorradwerkstätten sind rar und zumeist nur in den Hauptstädten des Baltikums zu finden. In Polen ist das Werkstätten-Netz deut-lich dichter. Polizeikontrollen und Radarmessungen haben wir nur auf den Hauptrouten bemerkt. Eine Auslandskrankenversicherung und ein Schutzbrief sind empfehlenswert.
Verständigung
Die Kommunikation in englischer Sprache ist im Baltikum problemlos, in Polen schwierig. Dafür finden sich dort mehr Einheimische mit Deutsch-Kenntnissen. Die Bevölkerung in allen Ländern erschien uns freundlich, offen und hilfsbereit.
Literatur/Karten
Reiseführer von Reise Know How (Polens Süden, Polens Norden, 19,90 Euro) leisteten uns gute Dienste in Polen. Lust auf das Baltikum macht das gleichnamige ADAC-Reisemagazin (7,80 Euro, www.adac.de/reisemagazin). Hintergrund-Infor-mationen liefert der Baedeker-Band »Baltikum« inklusive Reisekarte (1:750000, 25,95 Euro). Karten (Michelin oder ADAC) gibt es für Polen und Balti-kum in verschiedenen Maßstäben. Auf der Garmin Map Source Version 9 findet man auch die kleinsten Wege in Polen. Für das Baltikum stehen nur die Hauptstädte hausnummerngenau zur Verfügung.
Adressen
Für die Reiseplanung bietet www.baltikuminfo.de wichtige Hinweise über Verkehrsregeln, Unterkünfte und Fährverbindungen. Ein Muss in Riga: das Motormuseum als erstes Oldtimermuseum der ehemaligen UdSSR. Infos: www.muzeji.lv und Telefon 00371/70971-70/71.
Reisen
Organisierte Reisen bietet das MOTORRAD action team: Acht Tage durch Masuren für 690 Euro (Termine 19.07.–27.07.08, 02.08–10.08.08 und 16.08.–24.08.08). Zwölf Tage Baltikum kosten 2620 Euro. Termin: 11.08.–23.08.08. Infos: www.actionteam.de, Telefon 0711/182-1977.