Wohin könnte sie führen, die erste richtige Tour des Jahres? Freunde schlagen Korsika vor: „Korsika? War ich noch nie.“ „Was? Du warst noch nie auf Korsika? Hast sieben Kontinente besucht, 80 Länder gesehen, bist 600 000 Kilometer gefahren und hast Korsika ausgelassen?“ Peinlich, aber so ist es. Also nichts wie rauf auf die französische Mittelmeerinsel. Und zwar auf einem spannenden Weg: Von Sardinien kommend nähert sich die kleine Fähre der spektakulären weißen Steilküste von Bonifacio. Trotzig sitzen manche Häuser auf der überhängenden Kante der bröseligen Kalkfelsen. Es ist nicht die Frage ob, sondern wann wieder ein großes Stück der fragilen Felsen ins Meer stürzt, vielleicht sogar ein Haus mitnimmt. Übermorgen oder erst in 1000 Jahren, keiner kann das sagen. Leben am Abgrund. Über viele Stufen steige ich hoch in die von mächtigen Festungsmauern gesicherte Altstadt. Hier oben ist von der stetig präsenten Gefahr des Abbruchs nichts zu spüren. Ein Gewirr schmaler Gassen, viele kaum autobreit, zwängt sich zwischen alten Häusern, manche restauriert, andere heruntergekommen, eine faszinierende Atmosphäre.
Genug der Stadt, raus aufs Land. Frühmorgens ist die Ténéré gesattelt, sie nimmt Kurs auf die Ostküste. Ganz schön langweilig hier, die Strände oft in Privatbesitz, die Straße schnurgerade, die Hügel belanglos, von Villen und Ferienhäusern zersiedelt, die Küste auch nicht der Brüller. Nach 70 Kilometern habe ich genug, biege in Solenzara ab in die Berge. Und sofort wird die korsische Welt eine andere. Die schmale D 268 folgt dem engen Tal bis hinauf zum Col de Larone. Und hier gehts erst richtig los. Vor mir bohren sich die bizarren, fast 2000 Meter hohen Felstürme Aigle de Bavellas in den tiefblauen Himmel, Berge, die an die Dolomiten erinnern. Die Gerade findet ab sofort nicht mehr statt, in feinsten Kurven klettert die D 268 hoch zum Col de Bavella. Monumentale Kiefern vor senkrechten Felswänden, eine grandiose Szenerie und Lichtjahre von der Langeweile der Ostküste entfernt. Ganz schön schön hier oben.
Runter nach Zonza, drei Ehrenrunden - von einer Gruppe Schüler lautstark kommentiert - um den winzigen Kreisverkehr gedreht, bis ich endlich das Schild nach Aullène sehe. Und weiter, so hatte ich mir Korsika vorgestellt: Berge, so weit das Auge reicht, ab und an ein kleines Dorf mit groben braunen Bruchsteinhäusern, verwinkelte, fast verkehrsfreie Landstraßen. Dumm nur, dass der Regen der letzten Woche so viel Sand und Dreck über die Straße gespült hat, dazu die ständig wechselnden Asphaltarten, gepaart mit oftmals völlig uneinsehbaren Kurven. Ich eiere rum wie ein Anfänger, lasse mich von Sand, Splitt, Steinen, auf der Fahrbahn parkenden Kühen und kreuzenden Halbwildschweinen irritieren.
Das Mittelmeer ist ruhig wie die Binnenalster

Aber es wird besser, je näher ich der Westküste komme. Offenbar hat es dort nicht geregnet, die Straßen sind sauber, etwas breiter, die Kurven kaum noch hinterhältig und die vereinzelten braunen Schweine sind weniger suizidgefährdet oder haben einfach im Verkehrsunterricht besser aufgepasst. Direkt am Meer bei Popriano finde ich einen netten kleinen Zeltplatz. Der Chef erzählt von einem Sturmtief vor Südfrankreich, ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Aber ich solle mir keine Sorgen machen, das Tief komme nicht bis Korsika, es könne höchstens arg windig werden. Noch gibt sich das Mittelmeer ruhig wie die Binnenalster, aber ein Sturm dort draußen müsste doch tolle Wellen gegen die Westküste schicken. Also plane ich um, verschiebe die Kreuzfahrt durchs Landesinnere und bleibe lieber an der Küste, freue mich schon auf krachende Brecher an steilen Felsen.
Anderntags bewegt sich nichts, kein Meer, keine Luft, keine Wolke. Geduld, es wird schon noch. Ich bleibe in Tuchfühlung mit der Küste, folge der feinen D 155 nordwärts. Was für ein wundervoller Morgen. Samtig weiche und warme Luft, der Geruch von blühender Macchia, weite Aussicht über gestaffelte Bergketten am Golf von Valinco, ab und an einen Café au Lait und sonst einfach nur fahren und genießen. In dieser Leichtigkeit des Morgens gebe ich mir den Küstentraum D 81. Links das Meer, am Horizont die höchsten Berge der Insel, anschließend diese unglaublichen Pässe Punta Vida, Col San Martino und Col di Lava.

Und dann haut mich bei Piana ein völlig neuer Film aus den Latschen. Ohne Vorankündigung, ohne Werbepause. Zack, da ist er, der Golf von Porto, die Sahneschnitte Korsikas, eine der schönsten Küstenlandschaften überhaupt. Senkrechte Felswände, bizarre gelbrote Granittürme, oft merkwürdig geformte Meisterwerke der Erosion, weit unten das Meer. Das ist die Calanche. Natürlich hatte ich von ihr gehört, hatte Bilder gesehen, aber die Realität im warmen weichen Abendlicht sieht 1000-mal besser aus.
Augenblicklich bin ich begeistert, rolle in Zeitlupe hinunter nach Porto, wo ich mir ein Plätzchen für die nächsten Tage suche. Über Nacht zieht der Wind ordentlich an, modelliert vier Meter hohe Wellen, treibt sie in die Bucht, wo sie mit Gewalt auf den Strand brechen oder an den roten Felsen zu haushohen Gischtwolken zerplatzen. Heute ist das Meer die Attraktion. Nach Norden legt die D 81 noch eine Schippe drauf, hangelt sich tollkühn an der senkrechten Wand lang, nur ein kniehohes Mäuerchen soll vor dem freien Fall bis ins Meer schützen. Die Aussichten bis zum Col de Palmarella wechseln im Sekundentakt, auf Traumbuchten, wie die von Bussaglia, auf schroffe rote Berge, die steil aus dem Meer wachsen, und auf den unendlichen Kurvencocktail dieser Straße.
Guter Teer und hammerharte Rückblicke bis zum Meer

Für Motorradfahrer ein Traum, für andere ein Albtraum. Reisebusse. Warum dürfen die auf dieser Straße überhaupt fahren? Auf dem Rückweg nach Porto hat sich Eberhardts Fünf-Sterne-Fernreisebus in einer engen Kurve verkeilt, sieht sich mit einer entgegenkommenden Armada von zehn Wohnmobilen konfrontiert. Rien ne va plus. Der Bus kann nicht zurücksetzen, die Rentner in ihren Womos erst recht nicht. Das kann Wochen dauern. Irgendwie bekomme ich die Yamaha mit ein paar Schürfwunden am Alukoffer zwischen Felswand und Bus hindurch. Würde mich interessieren, ob die Kontrahenten hier überwintern müssen.
Genauso schnell, wie sich das Meer beunruhigt hat, dümpelt es am nächsten Morgen wieder träge in der Bucht. Zeit für die Berge. Durch die tief eingekerbte Spelunca-Schlucht mit einer alten Genuesen-Brücke kurve ich auf der D 84 aufwärts. Feine Straße, beste Radien, endlich mal guter Teer, hammerharte Rückblicke über Berge und Täler bis zum Meer. Wenn bloß der Korse seine Freiheit nicht so lieben würde. Die nimmt er sich auch beim Autofahren, lässt sich vom Mittelstreifen einer Kurve nicht seine Linie diktieren und sägt schmerzfrei auf der Ideallinie bergab.

Hätte ich doch statt der jämmerlichen Japan-Hupe ein Schiffshorn an der XT. Zum Glück sind die Straßen im Mai noch nicht so überfüllt, die Adrenalinausschüttungen bleiben im Rahmen. Evisa - Col de Vergio - Albertacce - Corte. Anfangs Kiefernwald, dann Wiesen, ein Stausee, die Regina-Schlucht und dann Ausblicke in die verschneiten Berge bis hin zum höchsten, dem 2706 Meter hohen Monte Cinto. Zwei Tage kurve ich durch die Berge im Zentrum Korsikas, über rumpelige Pässe, die dem Fahrwerk der Ténéré nichts anhaben können, durch verschlafene Dörfer, dichte Wälder und freue mich über das entspannte Fahren in der Vorsaison.
Bevor der angedrohte große Regen von Süden über die Berge herfällt, flüchte ich nordwärts in die fruchtbare Balagne, wo die Insel schon wieder ein ganz anderes Gesicht zeigt. Und was für ein schönes. Das Meer zwischen Calvi und LÎle-Rousse lässt nur einen schmalen Streifen für Orte, Äcker und die Straße, dann steigen die üppig grünen Berge entschieden immer höher bis zum Monte Padro, fast 2400 Meter hoch.

Die schmale D 71 hangelt sich in aussichtsreicher Lage von Ort zu Ort, einer malerischer als der nächste, mit dem Höhepunkt Speloncato. Spektakulär auf einem Bergrücken platziert, uralte Mauern, gesegnet mit einer traumhaften Sicht über die gestaffelten Bergketten bis zur Halbinsel Cap-Corse, paradiesische Ruhe auf dem zentralen Platz. Cap Corse, das hebe ich mir für morgen auf. Oder übermorgen. Lieber bleibe ich noch in Speloncato, beobachte das übersichtliche Treiben, bestelle eine zweite Suppa Corsa und frage mich immer wieder, warum ich nicht schon früher nach Korsika gekommen bin. Viel früher.
Infos

Gerne wird Korsika als die schönste Insel des Mittelmeers bezeichnet. Sie hat ihren ganz speziellen Charakter: wild, zerklüftet, sanft, abweisend, malerisch, geschichtsträchtig und spannend. Vor allem im Mai und Juni ist Korsika ein perfektes Bikerziel, im Sommer wird es von Touristen überflutet.
Anreise: Alle Wege führen über das Mittelmeer. Die Fährgesellschaften Corsica Ferries, Moby, SNCM und CNM schippern beispielsweise von Marseille, Nizza, Savona und Livorno nach Bastia, Ajaccio oder Calvi. Ebenfalls möglich ist die Anreise von Sardinien nach Bonifacio. Wer die Anreise zu einem der Häfen nicht auf den eigenen Rädern machen möchte, kann von vier deutschen Bahnhöfen mit dem Autozug bequem über Nacht bis Alessandria fahren und kaum zwei Stunden später in Savona auf die Korsika-Fähre rollen. Pro Person und Motorrad kostet die einfache Fahrt von Düsseldorf ab 145 Euro. Infos unter DBAutozug, Telefon 0 18 05/24 12 24 oder unter www.dbautozug.de
Reisezeit: Die schönste Zeit für Korsika ist im Mai und Juni, wenn der Frühling das Land erblühen lässt. Im Juli und August ist die Insel überfüllt, und es kann über 30 Grad heiß werden. September und Oktober sind wieder ruhige Monate mit zumeist beständig gutem Wetter. Ende September schließen viele Campingplätze.
Unterkunft: Selbst abseits der größeren Orte und der Küste ist es in der Vorsaison leicht, eine Unterkunft zu finden. Viele Pensionen und Campingplätze öffnen erst ab April oder Mai. Schwierig kann es allerdings in den Sommerferien werden, wo vor allem die Küsten überlaufen sind. Campingplätze kosten acht bis 15 Euro pro Person, Pensionen und Hotels gibt es in allen Preislagen mit Aufschlägen im Sommer.
Literatur: Sehr empfehlenswert ist der Korsika-Reiseführer aus dem Michael Müller Verlag für 19,90 Euro. Auf dem gleichen hohen Niveau liegt das Reisehandbuch aus dem Verlag Reise-Knowhow für 22,50 Euro. Weitere gute Reiseführer für unabhängig Reisende kommen aus den Verlagen Velbinger (24,50 Euro) und Lonely Planet (17,95 Euro). Zum Einstimmen zu Hause eignet sich der DuMont-Bildatlas für 8,50 Euro. Die beste Landkarte kommt - wie in Frankreich üblich - von Michelin: Blatt 345 im Maßstab 1:150 000 für 7,50 Euro ist ein Muss für neugierige Korsika-Fans.
Infos: Es gibt Hunderte Internetseiten über Korsika. Eine Auswahl:
www.ferien-in-korsika.com
www.korsika.fr
www.visit-corsica.com/de
www.korsika-forum.de/
www.rendezvousenfrance.com