Reifenwärmer brutzeln die Sportpellen auf Betriebstemperatur. Die gröbsten Löcher in der Straßenoberfläche oben am Berg sind bereits geebnet, eine frische Asphaltdecke sorgt in jeder Kurve für berechenbaren Grip. Übelste Spitzkehren wurden ohnehin schon im Vorfeld entschärft. Und selbstverständlich musste der Pass für den Gegenverkehr kurzfristig komplett gesperrt werden. Es wird schließlich nur in eine Richtung gesprintet: bergauf.
Ein ähnliches Szenarium müsste man wohl schaffen, damit die Extremisten unter den Sportlern wie Yamaha YZF-R1 oder Kawasaki Ninja H2 beim Alpen-Masters 2015 in ihrem Element sind. Die Realität sieht bekanntermaßen ein wenig anders aus, weswegen lupenreines Sportgerät beim Alpen-Masters eigentlich kaum eine Chance auf Siegeslorbeer hat. Warum die Tester sie trotzdem mitnehmen? Zum einen, weil ein Alpen-Masters immer höchst interessante Erkenntnisse liefert, die man bei der üblichen Testerei im Flachland nicht zwangsläufig bekommt. Zum anderen, weil solche Power-Monster schlicht und einfach Spaß machen. Vielleicht nicht immer und überall, doch zumindest zeitweise, hier und da. Etwa auf der schnellen Passage hinauf zum Passo di Fedaia, auf deren langen Geraden der H2-Kompressor mal richtig Druck machen darf. Bei aller Ernsthaftigkeit in der Bewertung geht es ja auch um Freude an Power und Handling, an Beschleunigung und Kurvenwetzen.
Yamaha YZF-R1 nur Außenseiter
Beginnen wir also mit einem solchen Außenseiter, dem wirklich heißen Supersportler Yamaha YZF-R1. Bei der Punktevergabe muss sich der charakterstarke Big-Bang-Vierzylinder meist hinten anstellen. Platz vier ist eigentlich die folgerichtige Konsequenz daraus, dass schnelle Runden auf dem Racetrack oberste Priorität in der Entwicklung hatten.
Aus dem gleichen Grund ist für den sportlichen Spaß in den Bergen flexibles Personal die Grundvoraussetzung, man muss sich auf einem kompromisslosen Racer wie der Yamaha YZF-R1 schon arg zusammenfalten. Bergauf ist das noch erträglich, den steilen Pordoi bergab auf Dauer ziemlich anstrengend. Die weit nach vorn gebeugte Sitzhaltung belastet die Handgelenke beim Anbremsen von Spitzkehren enorm. Dass der Komfort nicht nur ergonomisch, sondern auch fahrwerksmäßig wegen sportlich-straffer Grundabstimmung beschränkt ist, dürfte auch klar sein. Für den Sozius kommt es knüppelhart: Auf diesem Minimal-Notsitz hält es wohl niemand länger aus.
Harte Lastwechsel nerven in den rutschigen Spitzkehren
Leistung wäre natürlich theoretisch im Überfluss da. Zumindest ganz oben, wo beinahe 200 PS anliegen. Doch dabei würde man mit der Yamaha YZF-R1 selbst im ersten Gang schon an die 150 km/h fahren, was in den Alpen noch asozialer als anderswo wäre. Vergessen wir also die 200 PS, schauen wir auf die Drehzahlmitte. Die speziellen Messwerte des Alpen-Masters sprechen eine klare Sprache: Die lange Übersetzung und die Durchzugsschwäche im unteren Drehzahlbereich ergeben den schlechtesten Durchzugswert am Berg in dieser Gruppe.
Im umgekehrten Fall, beim Bremsen bergab zu zweit, vermasseln der hoch sitzende Sozius und die effektiv, weil defensiv regelnde Überschlagserkennung der Yamaha YZF-R1 kurze Bremswege. Besonders in den rutschigen Spitzkehren zum Campolongo hinauf nerven zudem die harten Lastwechsel und die hier zu direkte Gasannahme.
Kawasaki Ninja H2 sammelt bei den Fahrleistungen Bestnoten
Ein Manko, das die Kompressor-Kawasaki ebenfalls betrifft. Auch die Kawasaki Ninja H2 erfordert in Spitzkehren ein sensibles Händchen und mitunter die Kupplung, um den harten Leistungseinsatz zu glätten. Schade, denn ansonsten legt der aufgeladene, fast vibrationsfrei laufende Vierzylinder selbst bei niedrigen Drehzahlen kraftvoll los, ohne jemals unberechenbar zu wirken. Mit dem enormen Schub hat die Traktionskontrolle besonders auf dem polierten Asphalt am flachen Anstieg zum Pordoi alle Hände voll zu tun, doch sie erledigt ihren Job zuverlässig. Im Gegensatz zur R1 sammelt die Kawa bei den Fahrleistungen Bestnoten. Was allerdings nicht allein am druckvollen Antrieb liegt, sondern ganz banal auch am fehlenden Sozius: Die H2 ist ein reiner Einsitzer, konnte daher im Gegensatz zu den Konkurrenten nur solo gemessen werden. Einen Vorteil bringt ihr das trotzdem nicht ein, denn bei der Bewertung des Soziuskomforts gibt es natürlich keinen einzigen Punkt. Und auch für die knappe Zuladung wird nur ein einziges Pünktchen vergeben.
Immerhin sitzt der Fahrer jedoch deutlich bequemer als auf der Yamaha YZF-R1, die Kawasaki Ninja H2 ist ergonomisch nicht so radikal. Keine Punkte gibt es für den einmaligen Erlebniswert des Kompressormotors. Das permanente Zwitschern des Überdruckventils, der unnachgiebige Schub, das ist schon ein besonderes Schauspiel. Daher waren die Tester froh, dass die H2 dabei war – auch wenn es hier keinen Blumentopf zu gewinnen gab.
BMW R 1200 RS die Favoritin der Gruppe
Denn schließlich gab es in dieser Gruppe noch eine haushohe Favoritin aus Bayern: die BMW R 1200 RS. Die die Vorteile ihres Konzepts in die Waagschale wirft, aber auch mit überzeugenden Eigenschaften glänzt. Ein Sporttourer durch und durch, der wenig Schwächen zeigt und in fast allen Kriterien unerbittlich Punkte einfährt. BMW-typisch topmodern und umfangreich mit Assistenzsystemen ausgestattet, dazu mit ordentlichem Windschutz und bequemer Ergonomie für zwei Personen.
Der Wasserboxer der BMW R 1200 RS verwöhnt mit seidenweicher Laufkultur und ausreichend Power in allen Lebenslagen, verdient sich so die beste Motorbewertung aller 20 Teilnehmer. Die guten Messwerte unterstreichen aber nur subjektiv überzeugende Eindrücke. Dass das Getriebe in den unteren Gängen etwas hart schaltet, wird durch den in beide Richtungen hervorragend wirkenden Schaltassistenten ausgeglichen.
R 1200 RS auch beim Fahrwerk überlegen
Ähnlich überlegen sieht es beim Fahrwerk aus. Selbst die fiesen Kanten und Verwerfungen den Valparola hinunter saugt die vor allem vorn fein ansprechende Federung der BMW R 1200 RS auf. Dass hinten Schlaglöcher hier und da noch ein wenig kantig durchdringen, ist Jammern auf allerhöchstem Niveau. Unterm Strich zählt das Gesamtkonzept, das eine enorme Bandbreite ermöglicht. Sportliches Fahren allein, die weite Anreise zu zweit mit Gepäck, gemütliches Cruisen in den Bergen – die RS erledigt jede Aufgabe mit Bravour. Souverän, sicher und komfortabel.
Ein klarer Sieg also, den der BMW R 1200 RS der vierte Kandidat dieser bunten Truppe nie ernsthaft streitig macht. Nach kurzer Fahrzeit kamen allerdings Zweifel auf, ob die MV Agusta Turismo Veloce 800 in dieser Kategorie überhaupt richtig aufgehoben ist. Ein Tourer, als den MV sie gern bezeichnet, ist sie eigentlich nicht. Eine sportliche Maschine gewiss, weswegen sie hier keineswegs fehl am Platz ist. Andererseits steht sie mit ihrer hohen, aufrechten Sitzposition eigentlich den Crossover-Konzepten wie Yamaha Tracer recht nah.
MV Agusta Turismo Veloce 800 knackig und direkt
Immerhin hat MV einiges getan, um die „TV“ massenkompatibel und alltagstauglich zu machen. Die Sitzposition ist weit weniger radikal als auf Stradale/Rivale. Immer noch fühlen sich eher die weniger großen Fahrer hinter dem etwas zu hohen Lenker wohl. Selbst ein Beifahrer sitzt relativ entspannt. Auch das Fahrwerk ist nicht mehr so knackhart, wie das früher mal bei MV üblich war. Die Federung erscheint für den Soziusbetrieb sogar schon ein bisschen weich, da hängt die MV Agusta Turismo Veloce 800 ziemlich arg in den Seilen.
Doch Entwarnung für Fans: Völlig weich gespült ist auch diese MV Agusta Turismo Veloce 800 nicht, knackig und direkt wirkt sie immer noch. Der kernige Dreizylinder begeistert mit Laufkultur, einem unendlichen Drehzahlband und Schub in allen Lebenslagen. Dass die Italiener die Abstimmung ihres Triples mittlerweile gut im Griff haben, hat sich ja schon rumgesprochen. So sammelt sie ordentlich Punkte, sogar in MV-untypischen Disziplinen wie Reichweite, kommt der viel komfortableren BMW jedoch nie gefährlich nah. Trotzdem Respekt.
Am Ende müssen sich die beiden Sportler Yamaha YZF-R1 und Kawasaki Ninja H2 schon konzeptionell bedingt geschlagen geben, zumal beide auf ihre Art ziemlich radikale Vertreter ihrer Gattung sind. Die BMW R 1200 RS siegt als klassischer Sporttourer souverän und leistet sich kaum Schwächen. Und die MV Agusta Turismo Veloce 800 konnte die Tester mit guten Manieren im Alltag überraschen, bleibt aber doch eine typische MV mit Ecken und Kanten, die letztlich Punkte kosten.
Technische Daten
Messwerte

Ergebnis und Fazit

Platz 1: BMW R 1200 RS

Plus
- gleichmäßiger Drehmomentverlauf
- sehr geschmeidiger Antrieb
- komfortables Fahrwerk
- umfangreiche Ausstattung
- einfache Bedienung
- geringer Verbrauch
Minus
- für kleine Fahrer gestreckte Sitzhaltung
- mäßiger Windschutz
Platz 2: MV Agusta Turismo Veloce 800

Plus
- enorm breites Drehzahlband
- sportlicher Dreizylinder
- geringes Gewicht und gutes
- Handling
- große Reichweite
Minus
- verwirrendes Display
- wenig geschmeidige Lastwechsel
- Federn etwas weich
- ABS mit Stoppie-Neigung
Platz 3: Kawasaki Ninja H2

Plus
- Leistung und Drehmoment
- im Überfluss
- herausragende Elastizität
- seidenweicher Motorlauf
- stabiles Fahrwerk
Minus
- Einsitzer
- mäßiger Komfort
- harte Lastwechsel
- hoher Verbrauch
Platz 4: Yamaha YZF-R1

Plus
- hohe Motorleistung
- hochwertige Federungselemente
- unbegrenzte Schräglagenfreiheit
Minus
- anstrengende Sitzhaltung
- lange Übersetzung
- wenig Drehmoment bei niedrigen Drehzahlen
- unkomfortable Federung
- hoher Verbrauch
Fazit
Die beiden Sportler haben in diesem Vergleich der Konzepte kaum eine Chance. Doch hatten die Tester mit dem puren Racer Yamaha YZF-R1 und der Kompressor-Kawasaki Ninja H2 jede Menge Spaß. Viel breiter hat MV die MV Agusta Turismo Veloce 800 aufgestellt, der fehlt nur ein wenig Feinschliff. Doch unterm Strich sind alle drei Gegner chancenlos gegen die BMW R 1200 RS, die sich fast keine Schwächen leistet und mit ihren Allround-Qualitäten ein heißer Titelaspirant ist.