Mittelklasse-Sportler müssen mehr können als nur Sport, denn sie sind gleichzeitig auch noch Alltagstiere und Tourer. Aprilia RS 660 und Honda CBR 650 R zeigen, wie unterschiedlich die Rolle der Mittelklasse-Sportler interpretiert werden kann.
Mittelklasse-Sportler müssen mehr können als nur Sport, denn sie sind gleichzeitig auch noch Alltagstiere und Tourer. Aprilia RS 660 und Honda CBR 650 R zeigen, wie unterschiedlich die Rolle der Mittelklasse-Sportler interpretiert werden kann.
Ein Passant bleibt kurz stehen, schaut. In seinen Augen offensichtliches Interesse an den beiden böse dreinblickenden Geräten, die dort neben der Zapfsäule stehen. Beim zweiten Blick wirkt er ernüchtert, scheint zu denken: "Ach nee, sind nur die Kleinen." Hat wohl keine Ahnung, was diese Midsize-Sportler auf dem Kasten haben.
Überholprestige dank Superbike-Optik
Aber stimmt schon, es ist die Superbike-Optik, die den beiden eine Menge Überholprestige sichert und viele Autofahrer den rechten Blinker setzen lässt. Hondas CBR 650 R wurde ihrer großen Schwester aus dem Gesicht geschnitten. Nicht der jüngsten, sondern der älteren – der Fireblade SC 77. Aprilias neues Wetzeisen RS 660 lässt dagegen erahnen, wie die RSV 4 der Zukunft dreinblicken wird: mit LED-Lichtstreifen, böse und futuristisch. Den Round-about-650-Kubik-Sportlern wird also Platz gemacht. Zu Recht, denn hier auf engen und weiten Landstraßen sind sie mit knapp (Honda) beziehungsweise genau (Aprilia) 100 PS mehr als ausreichend motorisiert, um alles und jeden stehenzulassen. Aber es geht ihnen nicht wie den Superbikes nur um reine Fahrleistungen. Denn Midsize-Sportler müssen mehr können als die Hausstrecke oder den Trackday, werden auch gerne im Alltag bewegt oder im Jahresurlaub auf die große Tour entführt. Bevor hier jemand verärgert ist: Ja, auch Supersportler werden von Enthusiasten täglich im Alltagsmodus bewegt. Nicht viele, aber doch genug. Sportbikes für jeden Tag sind diese kleine CBR und die RS. Beide nehmen die Rolle gleichermaßen an – und interpretieren sie doch ganz unterschiedlich.
Da wäre zum einen der auf Fahrdynamik fokussierte Ansatz, verkörpert von der Aprilia. Im MOTORRAD-Top-Test hat die RS 660 kürzlich alle Karten auf den Tisch gelegt und sich zur Sportlichkeit bekannt – was sie einem auch bei jedem Motorstart aufs Neue ins Gedächtnis ruft. Nach dem Tankstopp rollt sie unter lauter V2-Imitation des Reihentwins wieder auf die Straße, während die CBR 650 R fast unauffällig hinterhersäuselt. Welche Variante hier die bessere ist, muss jeder für sich beantworten. Italien und Japan erfüllen beim Klang jedenfalls alle Klischees. Bei der Laufkultur glücklicherweise nicht nur Japan. Auch die neue Italienerin hat nämlich Manieren, gleitet bis in den vierten Gang untertourig entspannt dahin. Ihr mit 96 PS gemessener Twin hackt erst unter 3.000/min härter auf die Kette. Obenraus reißt er dann ganz italienisch zornig an. Bevor es bei knapp über 7.000/min so weit ist, gönnt er sich allerdings noch ein Verschnaufpäuschen. Dem Zweizylinder obenraus Power anzuerziehen fordert wohl diese kleine Einbuße. Heißt für den schnellen Strich: viel Schalten und die Drehzahl oben halten. Der serienmäßige Schaltautomat mit Blipperfunktion unterstützt dabei bestens. Er wechselt die Gänge auf Befehl geschmeidig.
Auch bei Honda gäbe es dieses Feature für rund 205 Euro Aufpreis. Durch die leichtgängige Kupplung und das präzise Getriebe mit kurzen Schaltwegen – kürzer als bei der Aprilia – vermisst man ihn am Testbike aber höchstens aus Gewohnheit. Die vielen Schaltvorgänge sind auch so ein Genuss. Wer keine Lust aufs Runterschalten hat, kann zudem im Sechsten bei 40 km/h dahinrollen, ohne dass der Vierzylinder bockig wird. Dann dauert das Beschleunigen nach dem Ortsschild natürlich eine Weile, aber der Motor entfaltet seine Leistung angenehm linear, steigert sich kontinuierlich auf 89 PS.
Und die genügen auf öffentlichen Straßen auch beim Umschalten vom Bummel- in den Sportmodus allemal. Ein Prozess, der auf der Honda übrigens ausschließlich im Kopf des Fahrers stattfindet. Verschiedene Fahrmodi gibt’s nicht, die Elektronik beschränkt sich auf ein ordentlich regelndes ABS und eine (abschaltbare) Traktionskontrolle, die unauffällig über das Hinterrad wacht. Das kleine LCD-Cockpit zeigt Drehzahl, Geschwindigkeit und den aktuell eingelegten Gang annehmbar lesbar an, zwischen weiteren Infos etwa zum Verbrauch oder dem Kilometerstand kann nur direkt am Display umgeschaltet werden. Die CBR 650 R schmückt sich nicht mit Hightech-Features, sie beschränkt sich aufs Wesentliche.
Handlichkeit trifft auf absolute Neutralität
Was als wesentlich durchgeht, definiert Aprilia etwas anders. Serienmäßig hat die RS 660 deutlich mehr Elektronik zu bieten als den erwähnten Schaltassistenten. Fünf Fahrmodi stehen zur Verfügung, zwei davon lassen sich über die Tasten am linken Lenkerstummel im TFT-Cockpit frei konfigurieren. Neben ABS- und Traktionskontrolle sind auch die Wheelie-Kontrolle und das Motorbremsmoment einstellbar. Die RS beschränkt sich – bis auf die in dieser Hinsicht wenig hilfreiche, aber zeitgemäße Smartphone-Connectivity – sozusagen auf alles für die Performance Wesentliche und ballert an vorderer Position den ersten Pass hinauf, dass einem schwindelig wird. Nicht schwindelig vor Leistung, sondern tatsächlich vom Kreiseln um Radien jeder Art. Die vollgetankt 183 Kilogramm leichte Aprilia RS 660 lässt sich spielerisch durch Wechselkurven zirkeln. Schnelle Richtungsänderungen taugen ihr, hier trifft Handlichkeit auf absolute Neutralität in Schräglage, auch unterstützt vom klebrigen Pirelli Diablo Rosso Corsa 2. Dazu viel Gefühl fürs Vorderrad, wiederum begünstigt durch die aktive Sitzposition mit nur leicht erhöhten Lenkerstummeln und im Vergleich zur Honda hohem Sitz. Noch alltagstauglich, definitiv sportlich – wie auch die Fahrwerksabstimmung. Das straffe Setup von Gabel und Federbein geht auch auf längeren Etappen durchaus in Ordnung, nach einer Weile können harte Schläge, die vom Federbein mäßig gefiltert durchgegeben werden, aber stören. Vorne wie hinten die Zugstufendämpfung etwas zu öffnen wirkt komfortstiftend und tut der Performance keinen Abbruch. Auf holprigen Pisten sollten trotzdem gewisse Nehmerqualitäten beim Fahrer vorhanden sein.
Der Honda-Pilot kann darüber nur schmunzeln, er liegt zwar schon etwas zurück, ist aber deutlich komfortabler unterwegs. Die Federelemente der CBR 650 R sprechen sensibler an und dämpfen insgesamt deutlich softer. Die CBR schwingt bestens ausbalanciert über so ziemlich jeden Fahrbahnbelag. Heißt im Gegenzug: Nachteile beim sportlichen Anrauchen. Das Honda-Fahrwerk kommt dabei weit vor dem der Aprilia an seine Grenze. Acht Zentimeter längerer Radstand, flacherer Lenkkopfwinkel und 26 (!) Kilogramm Mehrgewicht machen sich deutlich bemerkbar. Nicht, dass die CBR unhandlich wäre, aber im Vergleich lenkt sie doch behäbiger ein, fühlt sich größer, länger und schwerfälliger an, braucht auch etwas Druck am inneren Lenkerstummel, um in Schräglage zu bleiben. Der Bridgestone-Serienreifen gibt bei niedrigen Temperaturen in tieferen Schräglagen ein nicht ganz so sattes Anlehngefühl und die Rasten berühren früher den Boden. Sie läuft auch flott ums Eck, die kleine Blade. Aber eben nicht so easy wie die RS 660. Die inaktivere Sitzposition unterstreicht den längst klaren Fokus der Honda-Ingenieure: Komfort.
Hinter der supersportlichen Verkleidung haben die Japaner eine geradezu touristische Ergonomie versteckt. Tief im Motorrad sitzend, die Lenkerenden recht weit nach oben und zum Fahrer orientiert. Das ergibt eine angenehm aufrechte Haltung, aber eben auch Distanz zum Vorderrad und dadurch weniger Gefühl für Selbiges. Bevor wir hier der CBR die Sportlichkeit absprechen: Überraschend direkt beißen die radial angeschlagenen Nissin-Bremszangen in die Scheiben. Sie stehen denen der Aprilia in kaum etwas nach und stoppen die Fuhre auf den Punkt. Die Brembo-Anlage an der RS lässt sich aber über mehr Hebelweg noch besser dosieren.
Nahezu Gleichstand beim Verbrauch
Weil die Aprilia in allen Performancebelangen mindestens diesen Tick vorne liegt, kann die Honda ihr Hinterrad den Pass hinauf nicht halten. Keine Schande, schließlich legt Aprilia die Messlatte in der Klasse extrem hoch. Und was beim flotten Ritt ein Minus ist, wird zum Plus auf langen Etappen, einer wichtigen Disziplin dieser Everyday-Sportler. Während der gute Windschutz hinter der RS-Verkleidung auf der Autobahnetappe in Richtung Bergpass noch bestens gefiel, strengt die Sitzposition nach ein paar Stunden doch deutlich mehr an. Ein Tag auf der RS 660 vergeht sicher emotionaler als auf der kultivierten CBR. Aber im immerhin halben Liegestütz mit aufdringlichem Sound im Ohr und einem quirligen Floh zwischen den Beinen entspannt man nie wirklich. Will man ja auch gar nicht. Wobei, einen Komfort-Punkt sichert sich die Aprilia doch: Der Sozius sitzt auf ihr moderater, mit weniger spitzem Kniewinkel. Hilft dem Fahrer aber eben auch nicht. Beim Verbrauch herrscht dann auf angenehm niedrigen Niveau wieder nahezu Gleichstand.
Pause auf der Passhöhe. Für den Honda-Piloten etwas kürzer. Macht nichts, er konnte sich ja unterwegs mehr entspannen. Kurz den Ausblick auf das Tal und die Bikes genießen. Ja, die seidenmatte RS sieht einfach richtig gefährlich aus. Auch frischer als die in traditionell rot-schwarzem Design glänzende CBR. Dafür ist Letztere bei genauer Betrachtung solider verarbeitet. Nicht viel dran, aber was dran ist, wirkt wertig. Honda eben. Das Finish mancher Aprilia-Plastikteile kann da nicht mithalten. Und der Preis sowieso nicht. Etwa 2.000 Euro trennen die beiden Mittelklässler voneinander. In diesem Segment eine ganze Menge.
So lässt sich letztendlich die Frage "Welche ist die Bessere?" ganz einfach und doch irgendwie ziemlich schwer beantworten. Nach Punkten liegt die Aprilia RS 660 vor der Honda CBR 650 R. Mit Abstand sogar. Die pure Fahrdynamik und das üppige Elektronikpaket stechen einfach. Die kleine Fireblade besitzt dafür andere Stärken, besticht durch Ausgewogenheit in jeder Hinsicht, braucht kein Chi-chi, kann trotzdem recht sportlich. In einer Klasse, von der alles verlangt wird, können Honda CBR 650 R und Aprilia RS 660 von allem etwas, in unterschiedlichen Bereichen jeweils mehr. Für mehr Geld bekommt man bei Aprilia letztendlich auch mehr. Mehr Elektronik, mehr Power, mehr Emotion.
1. Platz Aprilia RS 660: Im ersten Duell mit einer Mitbewerberin bestätigt die RS 660 ihren Anspruch auf den Klassensieg. Sie fährt serienmäßig Top-Elektronik auf, dazu gnadenlose Agilität und Handlichkeit. Ein quirliger Alltagsfloh.
2. Platz Honda CBR 650 R: Zweite Siegerin, nicht erste Verliererin. Die CBR kann mit der Aprilia fahrdynamisch nicht mithalten, aber das will sie auch gar nicht. Als angenehmer Tourensportler im Superbike-Dress besticht sie mit Einfachheit, Funktionalität, Komfort.