Halb so viel Power, halb so viel Bücklingshaltung am tiefen Lenker. Keine überzüchtete 600er, nicht einfach ein halbwegs moderates Superbike. Lieber ein super Bike für die Straße, das dich auch mal auf den Track begleitet. Am besten zu einem fairen Kurs – und schön sollte es natürlich auch sein. Irgendwo zwischen Einsteiger-, Touren- und Supersportler existiert dieses Segment. Spärlich, eher gar nicht besetzt. Aprilia will das nun ändern. Dafür haben die Italiener ihre RSV 4 salopp gesagt einfach halbiert. Was dieses halbe Superbike kann, zeigt dieser Top-Test.
Aprilia RS 660 mit 96 PS auf dem Prüfstand
Die vordere Zylinderbank des 1100er-V4 schlägt als Reihen-Twin-Herz mit 270 Grad Hubzapfenversatz im V2-Takt in der neuen Aprilia RS 660. Die beiden Zylinder pumpen sich mit 63,93 Millimetern Hub auf 659 Kubikzentimeter. 100 PS soll der Motor nominell leisten. Laut Prüfstandsprotokoll melden vor Fahrtantritt 96 Pferde Arbeitsbereitschaft. Auf der Straße wirkt der Twin aber keinesfalls müde, was er in den MOTORRAD-Messungen auch schwarz auf weiß belegt. Den Sprint von null auf 100 erledigt die eben auch leichte RS 660 in 3,9 Sekunden – nur 0,6 Sekunden langsamer als ihr Spender-Superbike. Darüber ist der Spaß auf der Landstraße, wo die kompakte RS zu Hause ist, streng genommen sowieso vorbei. Von 100 auf 140 berauscht der Durchzug nur noch ungefähr halb so sehr wie auf dem Superbike (5,4 zu 3,6 Sekunden). Die Leistungscharakteristik der Kleinen ähnelt zwar der der Großen, dafür zeigt die 660 aber die beschworenen alltagstauglichen Ansätze. In unteren Gängen niedertourig dahinbummeln, kein Problem, ab Gang fünf sollten für rappelfreien Rundlauf aber schon mindestens 4.000/min anliegen. Bis knapp 7.000/min zieht der Twin sauber durch, gönnt sich, positiv formuliert, eine kurze Verschnaufpause, um dann richtig aufzuwachen. In niedrigen Gängen und hohen Drehzahlen fühlt er sich richtig wohl, setzt dort Gasbefehle besonders spritzig um. Sehr schön, wäre da nicht wieder das leidige Thema Lautstärke. Also kurz dazu: Der sonore Bass aus dem Under-Engine-Auspuff weiß zu betören. Wir lieben sie, die Italiener, auch ihren Sound. Aber – am Sonntagmorgen durchs Wohngebiet fahren wir auf der Aprilia RS 660 lieber mit getöntem Visier. Hier wäre die Hälfte auch wieder mehr.
5 Fahrmodi, Traktionskontrolle und ABS schräglagenabhängig
Keine halbe Sache macht Aprilia beim Elektronikpaket. Fünf Fahrmodi stehen zur Auswahl: Unter "Road" ordnen sich "Commute", "Dynamic" und der frei konfigurierbare "Individual", dazu kommen zwei Race-Modi: "Challenge" und zum Selbstgestalten "Time Attack". Mapping, Motorbremse, Traktionskontrolle, Wheeliekontrolle und ABS-Regelverhalten lassen sich separat einstellen. Ach ja, Smartphone-Connectivity gehört natürlich auch zur Ausstattung. Und wenn wir Elektronik etwas weiter fassen, muss auch das LED-Licht erwähnt werden, das etwa bei Tunneldurchfahrten mit dem erwähnten dunklen Visier für gute Sicht sorgt. Eng gefasst, zählen natürlich hauptsächlich die Fahrassistenten. Deren Justage funktioniert über die Tasten am linken Lenkerstummel intuitiv. Die feine Regelung der Assistenzsysteme steht derjenigen eines Superbikes in nichts nach. Im Mapping drei geht die Aprilia RS 660 seidenweich ans Gas, lässt keinen Lastwechsel spüren. Eins heißt direkteres Feeling, aber ohne unsensibel anzusprechen. Im Sechs-Achsen-IMU arbeiten Traktionskontrolle und ABS schräglagenabhängig – und das prächtig. Auf TC-Stufe acht kappt die RS ihre Power in Kurven überdeutlich. Die niedrigste Stufe unterbindet Rutscher noch zuverlässig.
Markus Jahn
In ABS-Modus eins besteht Überschlaggefahr. Dann ist der Blockierverhinderer hinten inaktiv. 42,4 Meter Bremsweg von 100 auf 0 km/h (ABS-Modus 2).
Erfahrene Piloten deaktivieren das System spätestens beim Trackday. Das ABS der Aprilia RS 660 verdient das Prädikat praxistauglich mit Racing-Reserven. Modus drei moderat, optimale Verzögerung in Modus zwei. Bissig, über viel Hebelweg präzise dosierbar, geht die Brembo-Hardware zu Werke. Für die Rennstrecke gibt’s noch Modus eins, in dem sich die Regelung aufs Vorderrad beschränkt, dann aber wegen der radikalen Geometrie Überschlaggefahr besteht. Übrigens konnte der MOTORRAD-Top-Tester manuell nicht härter verzögern als mit ABS – Beweis für gelungene Abstimmung.
"Die RS liest deine Gedanken"
Nett gemeint ist die Wheeliekontrolle, die bei den 100 PS außer beim Start aus dem Stand eigentlich nichts zu tun hat – wenn nicht mit der Kupplung nachgeholfen wird. Letztere braucht’s serienmäßig nur zum Anfahren, denn der Schaltassistent ist purer Genuss, besonders die Blipperfunktion. Perfekt dosiert die Elektronik das Zwischengas, selbst in den ersten Gang hinunter ohne abruptes Bremsmoment.
Nach Beschleunigung und Bremsung nun endlich das, worauf wir alle so gespannt sind: der Handling-Check. Hoffentlich gibt’s hier keine halben Sachen! Vorweg noch mal die Eckdaten: das laut Aprilia aus dem Rennsport stammende Chassis schlank, der Radstand 1.370 Millimeter kurz, der Lenkkopfwinkel 65,9 Grad steil, das Gewicht mit vollgetankt nur 183 Kilogramm niedrig. Dieses Konzept hält, was es verspricht. Wedeln, Slalom fahren, enge Wechselkurven im vollen Galopp durchpreschen – Paradedisziplinen der Aprilia RS 660. Unglaublich flink lenkt sie ein, als Impuls genügt schon der Blick in die gewünschte Richtung. In Schräglage geben Fahrwerk und Reifen – Pirelli Diablo Rosso Corsa II – sattes Anlehngefühl, stellen sich beim Bremsen in Schräglage nicht auf, kippen nicht. Die RS liest deine Gedanken und setzt sie in die Tat um. Ihren Teil trägt auch die Sitzposition dazu bei. Die mit der oberen Gabelbrücke verbundenen Stummel hat Aprilia etwas höher als supersportlich, den Sitz dafür gleich, die Rasten minimal tiefer angebracht. Kompakt und sehr vorderradorientiert nimmt man Platz, sieht nach hinten in den an der Kanzel angebrachten, großen Spiegeln dann gut – sofern man die Ellbogen etwas nach innen zieht. Die RS 660 knechtet nicht wie eine RSV 4, ihre gewölbte Scheibe bietet sogar guten Windschutz. Leichte Komfort-Einbußen sind sportlich hinzunehmen.
Leichte Komfort-Einbußen
So auch bei der Fahrwerksabstimmung. Vor allem das direkt angelenkte Federbein spricht nicht besonders feinfühlig an, tritt dem Reiter über gröbere Löcher in den Allerwertesten. Hier helfen die für den Trackday vorgesehenen Dämpfungsreserven nicht. Weites Öffnen der Zugstufe bringt zwar etwas Besserung, Komfort steht aber eindeutig weit unten auf der Haben-Seite. Einstellbar ist vorn wie hinten übrigens halb so viel wie beim Aprilia-Superbike – neben der Federvorspannung nur die Zugstufe. Mit sensiblerem Ansprechverhalten macht die Gabel auf der Hoppelpiste eine bessere Figur als die Feder hinten. Auch hier sollte die Zugstufe nicht zu weit zugedreht sein. Deren Einsteller an der Gabel sind gut erreichbar; um am Federbein nachjustieren zu können, müssen Sozius- und Fahrersitz runter, dann das linke Seitenteil weg. Der Blick unter das Polster offenbart ein kleines Fach – für die Wechselunterhose auf der Wochenendtour? Um den Federbein-Einsteller geht es aufgeräumt zu. Ist das passende Setup gefunden, liegt die Aprilia RS 660 besonders beim Verzögern ausnehmend stabil, lässt sich auf der Bremse zudem ohne Gegenwehr einlenken – Superbike-würdig!
Markus Jahn
Minus: Plastikteile wirken hier und da billig. Die Auspuffblende löste sich schon vor dem Test leicht. Beim Finish zeigt sich teilweise das Diktat der Kostenoptimierung.
Halb so schlimm wie auf den meisten Supersportlern ergeht es dem Sozius. Das schmale Sitzpolster täuscht, der Fahrgast sitzt bequem mit moderatem Kniewinkel und kann sich am Tank sicher abstützen. Dass die Zuladung mit 210 Kilogramm üppig ausfällt und 15 Liter Tankinhalt für über 300 Kilometer am Stück ausreichen, qualifiziert die Aprilia RS 660 beinahe zum Bike für den längeren Urlaub mit mehr als halbem Gepäck. Für dessen Unterbringung braucht’s aber Zubehör.
Aprilia RS 660 kostet rund 11.000 Euro
In einem Punkt wäre die halbe Sache freilich jedem Recht: beim Preis. Knapp über 11.000 Euro ruft Aprilia auf. Das ist nicht unrealistisch, aber ein Schnäppchen-Gefühl kommt beim genauen Blick auf das Finish nicht auf. Die Innenseite der Doppel-Verkleidung ist zum Beispiel nicht sorgfältig lackiert, die Anmutung von überlackierten Teilen wie Rahmen und Schwinge ist kein Vergleich zu Pendants an Superbikes. Auch bei der Haptik einiger Plastikteile ist Luft nach oben. Dafür verbaut Aprilia das Elektronik-Komplettpaket serienmäßig, legt, wenn man so will, den Fokus auf Performance. Und macht da definitiv keine halbe Sachen.
Fazit
Näher am Super- als am Tourensportler. Die Aprilia RS 660 performt besonders beim Handling stark, gibt sich in Sachen Ergonomie und Charakteristik noch deutlich sportlicher als erwartet – für die schnelle Runde auf der Hausstrecke ein Genuss. Die auf Dauer doch etwas anstrengende Sitzposition und der Motor-Durchhänger in der Mitte sind die Kehrseite des sportlichen Trimms, mit der Käufer aber leben können. Über ein liebevolleres Finish würden wir uns jedoch alle freuen.