Rennbike für die Straße oder Serienmotorrad mit Rennkomponenten - die einzigartige Velocette KSS Mark 1 von Jeff Craig birgt einige Geheimnisse. Gibt sie diese beim Fahren preis?
Rennbike für die Straße oder Serienmotorrad mit Rennkomponenten - die einzigartige Velocette KSS Mark 1 von Jeff Craig birgt einige Geheimnisse. Gibt sie diese beim Fahren preis?
Wenn es irgendeinen amerikanischen Fan englischer Motorräder gibt, dann ist es mein Kumpel Jeff Craig. Ich lernte ihn Ende der wilden 1960er in London kennen, zu Zeiten der Beatles-Ära und allem, was dazu gehörte. Jeff war damals bereits viel durch Europa getourt, auf einer BMW R 69 S - deutsche Zuverlässigkeit und der Kardan hatten ihn wohl überzeugt. Sein Herz schlug dennoch schon viel früher und leidenschaftlicher für britische Motorräder, insbesondere Norton und Velocette hatten es ihm angetan. Er besitzt heute eine beneidenswerte Sammlung englischer Bikes, untergebracht in einem stilechten Haus aus dem 18. Jahrhundert, mitten in der malerischen Landschaft nördlich von Philadelphia. Alle Fahrzeuge werden regelmäßig bewegt, in der näheren Umgebung, oder bei Rallyes, die Jeff teilweise bis nach Kanada geführt haben. Ein Exemplar seiner Sammlung hält ihn jedoch bis heute, 30 Jahre nach dem Kauf, mit seiner mysteriösen Geschichte am Grübeln. Es handelt sich um eine Velocette Special, die er 1981 von einem älteren amerikanischen Klassiker-Enthusiasten erworben hat, der dieses Bike wiederum zwölf Jahre zuvor in England gekauft hatte.
Allein die Umstände, die zum Besitz dieser Velocette führten, wären es wert, in einer eigenen Geschichte erzählt zu werden. In Jeffs kurzen Worten dargelegt, trug es sich so zu: „Eines Sonntagmorgens klingelte das Telefon und wie aus heiterem Himmel fragte mich eine Stimme, ob ich am Kauf einer Velocette KSS Mark 1 interessiert sei. Der Besitzer erzählte mir, er habe drei Herzinfarkte hinter sich und könne sie nicht mehr starten, doch er wolle sie in guten Händen wissen und hätte gehört, ich sei an Velocette-Bikes interessiert. Der genannte Preis klang fair, also beschloss ich, nach Long Island zu fahren und sie mir mal anzusehen.“ Wie sich herausstellte, gehörte die Stimme am Telefon dem Flugtechniker Alec Ullman, einer legendären Persönlichkeit im nordamerikanischen Motorsport, Gründer der berühmten Sebring International Raceway-Rennstrecke in Florida und Promoter des ersten amerikanischen Formel 1-Grand Prix-Rennens 1959. Ullman besaß eine erlesene Sammlung klassischer Autos und Motorräder, allesamt untergebracht in seinem Landsitz nicht weit außerhalb Manhattans. „Zu unserem Treffen fuhr er in einem noblen Bugatti Type 40 Coupé vor, den er als Alltagsauto einsetzte. Für besondere Anlässe nutzte er seinen Hispano-Suiza King Alfonso XIII - eine Rarität, die bereits damals über eine Million Dollar wert war. Geld schien also kein Thema zu sein. Jedenfalls machte die Velocette einen guten Eindruck, sprang bereits beim ersten Versuch an, also schrieb ich einen Scheck aus, lud das Bike ein und fuhr nach Hause“, erinnert sich Jeff Craig. Zurück auf der Ranch, brachte ein genauerer Blick auf die Errungenschaft allerdings einige Ungereimtheiten ans Tageslicht, angefangen beim Rahmen, der definitiv ein klassisches Teil aus den 1920ern war. Der KSS-Motor mit der Nummer 4938 und obenliegender Nockenwelle spricht hingegen für ein eher spätes Modell. KSS steht für Kamshaft (= Nockenwelle) Super Sports, wobei die Schreibweise mit „K“ auf den deutschen Ursprung der Goodman-Familie hinweist: Firmengründer John Goodman hieß einst Johannes Gütgemann und stammte aus dem Rheinland. Zudem kam vorn eine Webb Girder-Gabel zum Einsatz, die Velocette nur an den käuflichen KTT Mark 1-Rennmodellen (Kamshaft Tourist Trophy) ab 1929 verbaute, wo diese die schwächliche Brampton-Gabel ersetzte. Auch das Getriebe schien eine Rennausführung zu sein, denn beim Schrauben entdeckte Jeff eines Tages die Inschrift „TT“ auf der Hauptwelle.
Die Schaltbox hielt weitere Überraschungen parat, als Jeff die KSS zum ers-ten Mal fuhr. Ullman hatte behauptet, das Bike verfüge über ein Dreiganggetriebe, wie alle KSS-Modelle vor 1930. „Ich schaltete in den Dritten, drehte das Gas auf Anschlag und wunderte mich: Soll das alles sein?“ erinnert sich Jeff. „Zum Teufel dachte ich, ich versuche einfach noch mal hochzuschalten - es klappte, und das Bike schob noch mal an, dass ich mich am Lenker festkrallen musste.“ Um mehr Infos zu ergattern und Sicherheit zu erlangen, konsultierte Craig den Markenspezialisten Ivan Rhodes. Dessen Antwort bestätigte es: Jeff war tatsächlich Besitzer eines seltenen Sondermodells, hauptsächlich aus KSS-Teilen gebaut, jedoch mit einigen KTT-Parts. So wiesen die Werksunterlagen, die sich im Besitz von Rhodes befanden, den Motor als ein Exemplar aus einem 1933er-KTS-Modell (Kamshaft Touring Sports) aus, einem Straßen-Ableger der KTT-Version. Der Rahmen hingegen stammt aus einem KN-Modell von 1929. Wie auch immer, die Hochzeit, also der Einbau des Motors in jenen Rahmen, dürfte Mitte der 1960er stattgefunden haben, wie aus zahlreichen Rechnungen von Vorbesitzer Ullman hervorgeht, die auch belegen, dass einer der Vorbesitzer bereits eine Menge Geld in Kleinteile gesteckt hatte. Die Mark 1 KTT begründete die lange Reihe an Production Racern, die von der ersten ohc-Maschine abstammten, welche 1925 bei der Isle of Man Junior TT ihr Debut gegeben hatte. Der Auftritt der Velocette mit ihrem 348-cm³-Viertakter in einer Klasse, die bis dato von leichten Zweitaktern dominiert wurde, sorgte für eine echte Überraschung. Auch wenn der vorzeitige Ausfall aller drei angetretenen Bikes die Stimmung dämpfte. Doch Velocette lernte daraus, und im Folgejahr 1926 feierte Alec Bennett in der 350er-Junior TT den ersten Sieg einer Maschine mit ohc-Motor - mit Geschwindigkeitsrekord und deutlichen zehn Minuten Vorsprung. Auch 1928 und 1929 konnte man die TT gewinnen, und solchermaßen ermutigt beschloss die Goodman-Familie, den ers-ten echten Production Racer für jedermann käuflich anzubieten.
Hunderte Rennsiege folgten.
Die KTT wurde im Laufe der 1930er-Jahre regelmäßig verbessert und aktualisiert. Nicht zuletzt daraus schöpfte Velocette das Know-how, um in der Vorkriegszeit zum Vorreiter in puncto technischer -Entwicklung zu avancieren. So brachte man nicht nur die erste echte Fußschaltung mit Ratschenmechanismus an den Start, sondern war auch unter den Ersten, die einen gefederten Rahmen verwendeten. Der Motor in Jeffs Craigs Velocette Special ist also ein unmodifiziertes KSS-Triebwerk, mit Nockenwellenantrieb via senkrechter Welle und Kegelrädern und mit Ventilführungen aus einer Bronze--Legierung. Soweit alles normal, doch wenn Jeff je einen Blick ins Motorinnere werfen sollte, könnte er möglicherweise Spuren von Motortuning entdecken, denn eine BTH-Wettbewerbs-Magnetzündanlage und ein 30,2 Millimeter großer Amal-Rennvergaser machen stutzig.
Es gilt, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Per Schiebestart wird der Einzylinder angeworfen, eine Prise Choke und etwa die Hälfte der verfügbaren Frühzündung genügen. Mit einem ordentlichen Maß an Vibrationen dreht der Motor in Richtung Höchstdrehzahl von etwa 6000 Touren, was in der Spitze für etwas über 80 Meilen pro Stunde, also knapp 130 km/h reicht. Sagt jedenfalls der Tacho des begleitenden Morgan Plus Four, denn am Bike selbst gibt’s keine Instrumente. Die Schaltung funktioniert ordentlich für damalige Verhältnisse, auch wenn die Mitnehmerklauen etwas verschlissen scheinen. Aber wenn das Bike erst mal im höchsten Gang dahinrollt, mit diesem herrlichen Ballern aus dem schönen Brooklands-Topf, verkörpert es nahezu perfekt das klassische Rennmotorrad schlechthin. Der steil stehende Lenker mit seinen abgenutzten Griffgummis erlaubt eine offensive Sitzhaltung, bereit für echtes Renntempo, falls der Pilot dies wünscht. Dieser sollte aber auch rechtzeitig vor Kurven wieder eine aufrechte Haltung einnehmen, um sich besser mit dem ganzen Gewicht auf das Pedal für die Hinterradbremse stellen zu können, denn die Vorderbremse ist reichlich wirkungslos.
Harte Arbeit, auch wenn das Bike (ohne Benzin) nur 118 Kilogramm auf die Waage bringt. Ein Leichtgewicht, zweifellos, dennoch kann das überaus leichtfüßige Handling des offenen Cradle-Rahmens noch überraschen, ebenso die leichte und zielgenaue Lenkung per 21-Zoll-Vorderrad. Überdies war ich mehr als froh über den angebauten Lenkungsdämpfer, als ich zum ersten Mal mit hohem Tempo über einen Hügel schoss und das Vorderrad an der leicht werdenden Front deutlich auszuschlagen begann. Solche Ereignisse zeugen jedoch auch von dem satten Schub, den der 350er-Motor bereitstellt.
Es scheint also, abschließend betrachtet, als sei Jeff Craigs KSS Mark 1 Special gemäß den Regeln gebaut worden, die in den späten 1950ern und frühen 1960ern für Klassik-Renner in England galten. Und auch wenn Jeff sicherlich gern noch mehr über die Herkunft und Vorgeschichte seines mysteriösen Bikes erfahren würde - letztlich zählt auch für ihn wie für alle Motorrad-Enthusiasten vor allem eins: der Spaß beim Fahren dieses faszinierenden Stücks Motorradgeschichte.
Motor:
Luftgekühlter Einzylinder-Viertaktmotor, eine obenliegende, per Königswelle angetriebene Nockenwelle, zwei Ventile, Bohrung x Hub 74 x 81 mm, 348 cm³, Verdichtung 8,5 : 1, 25 PS bei 6000/min, 30,2-Millimeter-Amal-Vergaser, BTH-Magnetzündung, Mehrscheiben-Trockenkupplung, Vierganggetriebe, Kette
Fahrwerk:
Doppelrohr-Cradle-Rahmen aus Stahl, Trapezgabel, ungefederte Zweiarmschwinge aus Stahl, Drahtspeichenräder, Reifen 3.00 x 21 vorn, 3.00 x 21 hinten, Simplex-Trommelbremse vorn, Ø 178 mm, Simplex-Trommelbremse hinten, Ø 203 mm
Maße und Gewicht:
Radstand 1397 mm, Gewicht 118 kg (ohne Benzin)
Fahrleistungen:
Vmax zirka 130 km/h