Uno, due, tre: Nach MV Agusta und Benelli kehrt nun als dritter traditionsreicher italienischer Hersteller Gilera zurück. Anders als MV und Benelli verschwand die Marke seit ihrer Gründung 1909 zwar nie ganz vom Markt, doch in den letzten acht Jahren brachte sie nur neue Roller heraus. Jetzt haben die Chefs der Konzernmutter Piaggio ihre Strategie geändert. Gilera soll wieder bei den Motorrädern mitmischen. Und wie: Die Italiener stürzen sich gleich mitten hinein ins schwer umkämpfte Segment der sportlichen 600er.
Ein gewagter Schritt, den MOTORRAD schon im März angekündigt hatte (Heft 7/2001). Und wie die nun heimlich geschossenen Fotos beweisen, lagen die Redaktionspropheten nicht nur in Sachen Optik, sondern auch beim Antrieb goldrichtig: Der Reihenvierzylinder der neuen Gilera stammt von der Suzuki GSX-R 600 und soll stramme 118 Pferde mitbringen. Die Gilera-Entwickler setzten den Einspritzmotor in einen Leichtmetall-Brückenrahmen, der nach MOTORRAD-Informationen auch ein paar kleinere Titanelemente enthält. Technisch einzigartig in der 600er-Klasse: die Upside-down-Gabel, obligatorisch dagegen die 17-Zoll-Räder. Die Bremsanlage besteht aus 320-Millimeter-Scheiben mit Vierkolbensätteln. Von vorn erinnert die Super Sport mit dem Ram-Air-Einlass zwischen den schmal geschnittenen Scheinwerfern an die Honda VTR SP-1, doch im Übrigen bemühten sich die Designer um ein italienisches Outfit, von der schmalen Frontansicht bis zum hohen Heck, unter das eigentlich sogar der Schalldämpfer passen müsste. Die ertappte Gilera trug ihn zwar auf der rechten Seite, doch noch ist nicht aller Testtage Abend. Möglich, dass die Entwickler da noch einmal Hand anlegen.
Auf den Markt kommt die 600er im nächsten Frühjahr, geschätzter Preis: rund 20 000 Mark. Doch sie ist nur der erste Schritt auf dem Weg zur Rückkehr der Marke mit dem Doppelring, die 1969 vom Rollerriesen Piaggio übernommen wurde. Am Firmensitz in Potendera in der Toskana arbeiten die Entwickler bereits mit Hochdruck an einem eigenen Motor. In bester italienischer Tradition handelt es sich dabei um einen V-Zweizylinder. Den soll es dann zunächst in zwei Varianten geben: als 800er und als 1000er, letzterer mit zwei obenliegenden Nockenwellen und 120 PS.
Die Finanzkraft, um diese Motoren samt zugehöriger Motorräder zu bauen, bringt der Konzern allemal mit. Denn dort regieren seit Ende 1999 die Manager der Morgan-Grenfell-Gruppe, einer Fondstochter der Deutschen Bank. Die haben mit Piaggio/Gilera Einiges vor: Die Firma soll so groß werden, dass sie den Japanern ernsthaft Konkurrenz machen kann, und zwar nicht nur im Rollerbereich, sondern auch bei Motorrädern. Anfang des Jahres wurde schon mal der spanische Zweiradhersteller Derbi gekauft, und Gilera nutzte das Know-how der Spanier im Rennsport, um neben der Derbi-125er auch ein Motorrad in Gilera-Farben bei der Weltmeisterschaft an den Start zu schicken. Dessen Pilot Manuel Poggiali führt unterdessen die WM an ein erster Triumph für Gilera. Und wenn es nach den Firmenstrategen geht, soll es beileibe nicht der einzige bleiben.
Interview mit Piaggio-Geschäftsführer Stefano Rosselli del Turco
Piaggio-Geschäftsführer Stefano Rosselli del Turco über die Konzerntochter Gilera
Warum hat das erste Motorrad von Gilera nach achtjähriger Pause keinen hauseigenen Motor?Das hat mit unserer Firmenstrategie zu tun. Wenn wir in ein Marktsegment einsteigen, wollen wir das schnell tun. Und so wie wir unsere Roller-Motoren ja auch an die Konkurrenz verkaufen, sind wir uns nicht zu fein, unsererseits einen Motor zu kaufen, denn eine eigene Entwicklung würde viel zu lange dauern.Warum muss es denn zum Wiedereinstieg von Gilera ausgerechnet ein 600er-Sportler sein?Gilera hat sich im Sport einen Namen gemacht, und da wollen wir auch wieder hin. Bei den sportlichen Motorrädern sind die 600er die Domäne der Japaner, deshalb glauben wir, dass da noch Platz für ein Motorrad im italienischen Stil ist.Wird die neue Gilera also auch Rennen fahren?Wir sehen unser sportliches Engagement parallel zur Produktion. Im Moment bauen Gilera und unsere Konzerntochter Derbi Roller und Leichtkrafträder, und deswegen fahren wir in der 125er-WM mit. Wenn die 600er auf den Markt kommt, könnte es durchaus sein, dass wir in die Supersport-WM einsteigen.Wie sehen künftige Motorräder von Gilera aus?Im Vierzylinderbau sind heutzutage die Japaner die Meister. Unsere Zukunft liegt wohl eher im Zweizylinder, wo wir europäische Kompetenz unter Beweis stellen können.
Quadrophonie
Gilera, für die Freunde des historischen Rennsports ein Wort wie Donnerhall. Assoziieren sie doch automatisch die gloriosen Triumphe der Vierzylinder in der Königsklasse des Grand-Prix-Sports. 1950 und 1952 holte Umberto Masetti den begehrten Titel, von 1953 bis 1955 siegte der legendäre Geoff Duke in Folge, und 1957 fuhr Libero Liberati den letzten Titel für die Italiener nach Hause. Der berühmte Vierzylinder lebte gewissermaßen bei MV Agusta weiter, wohin Gilera-Konstrukteur Piero Remor wechselte und ein Abbild des klassischen Reihenvierzylinders schuf, der bis 1965 weitere Titel en suite einfuhr.Die Tradition der Marke reicht bis ins Jahr 1909 zurück, als der 22-jährige Rennfahrer Giuseppe Gilera die Firma in Mailand gründete. 1919 entstand das Werk in Arcore nahe der berühmten Rennstrecke von Monza. Über die Jahre hinweg produzierte Gilera einerseits Gebrauchsmotorräder für den Alltag, andererseits Modelle für den Rennsport. So entstand bereits 1926 der erste Reihenvierzylinder, der weiter entwickelt mit Kompressor 1939 unter Dario Serafini den seinerzeit höchsten Titel, die Europameisterschaft, einfuhr. Nach dem Krieg baute Gilera neben dem 500er-Einzylinder Saturno und der 250er-Nettuno vor allem Zweiräder mit 125 bis 175 cm³. 1969 übernahm der Rollerriese Piaggio die Marke, stellte 1993 nach einem letzten Aufbäumen mit der neuen Saturno die Motorradproduktion ein und machte das Werk in Arcore dicht. Jetzt knüpft Gilera mit dem Vierzylinder wieder an alte Traditionen an.