Fahrbericht Aprilia RSV 400

Fahrbericht Aprilia RSV 400 Die Schleuder

Gegen die brachiale Kraft der japanischen Vierzylinder-Keulen setzt das kleine Aprilia-Werk auf die flinke RSV 400 mit kraftvollem V-2 Antrieb

Daß sich listige und flinke Zeitgenossen mit Erfolg gegen übermächtige Konkurrenz zu wehren wissen, erzählt schon die Geschichte von David und Goliath aus dem Alten Testament. Vermeintliche Underdogs, die den großen Stars eins auswischen, hat auch der Motorradsport immer wieder zu bieten. Anfang der 70er Jahre schaffte es zum Beispiel der finnische Ausnahmekönner Jarno Saarinen, mit seinem 350er Production Racer den viel stärkeren, aber schwer zu beherrschenden Rennern mit mehr als dem Doppelten Hubraum in der Formel 750 den Marsch zu blasen.Diese WM-Klasse und die widerspenstigen Wildpferde der damaligen Zweitakt-Generation sind längst Historie. Im Vergleich dazu benimmt sich ein moderner 500er Vierzylinder-Renner wie ein handzahmes Turnierroß - durch fein abgestimmte Motoren-Technologie und reichlich Elektronik zu guten Manieren erzogen. Eine Dressur, die allerdings Unsummen an Entwicklungskosten verschlang.Und noch etwas gibt den Technikern und GP-Fahrern gleichermaßen zu denken: Die Rundenzeiten der 500er Cracks, selbst die eines Champions wie Michael Doohan, verbesserten sich im Lauf der Jahre nur unwesentlich, während die 250er Piloten mit lediglich der halben Leistung Sekunde um Sekunde auf die Königsklasse gutmachen. Grund genug für Aprilia-Cheftechniker Jan Witteveen, nach gründlichen Analysen ein Konzept zu entwerfen, das den optimalen Schnittpunkt zwischen Leistung, Handling und Entwicklungskosten treffen sollte.So schlüpfte das italienische Werk in die Rolle des David und wagte sich 1994 mit einem Motorrad in die 500er WM, das auf Basis des erfolgreichen 250er Renners entstand: die RSV 400 mit 130 PS starkem Zweizylindermotor. Besseres Handling und 25 Kilogramm weniger Gewicht sollten das Leistungsmanko gegenüber den Vierzylinder-Raketen mit ihren knapp 200 Pferdchen wettmachen. Im Magnesium-Kurbelgehäuse des 410-cm3- Triebwerks drehen sich nach 250er Muster zwei übereinanderliegende, mittels Zahnräder gekoppelte Kurbelwellen. Da sie gegenläufig rotieren, hat Aprilia die Motorvibrationen auch ohne leistungsfressende Ausgleichswellen fast gänzlich beseitigt. Baubreite und Schwerpunktlage sprechen ebenfalls für den 90-Grad-V2-Motor, der lediglich durch die seitlichen Kohlefaser-Drehschieber mit angeflanschten 40er Dellorto-Vergasern etwas von seiner schlanken Linie einbüßt. Obwohl die Drehschiebersteuerung großzügig dimensionierten Membraneinläßen nach japanischem Muster in puncto Drehmomentverlauf theoretisch unterlegen ist, hielt Jan Witteveen auch beim 400er Projekt unverändert daran fest. Wohl aus gutem Grund, denn von der typischen Charakteristik der Drehschiebermotoren - vergleichsweise wenig Drehmoment, dafür jede Menge Power bei hohen Touren - hat der Aprilia-Twin nicht allzuviel abbekommen. »Stimmt schon, das Drehmoment ist tatsächlich ein Problem - wir haben ganz einfach zuviel davon«, kommentiert Witteveen schmunzelnd. Um dem Drehmoment-Überschuß des V2 gerecht zu werden, rückte man Motor und Schwerpunkt so weit wie möglich nach vorn. 55 Prozent des Gewichts lasten auf dem Vorderrad. Außerdem soll eine um 20 Millimeter längere Carbonfaser-Hinterradschwinge das Fahrwerk beruhigen. Trotzdem klagte Stammpilot Loris Reggiani, daß die RSV beim beschleunigen ständig zum Wheelie abhebt. So verlor er ausgerechnet auf engen Strecken mit kurzen Geraden, wo die handliche Zweizylindermaschine eigentlich ihre Vorteile ausspielen sollte, zuviel Zeit auf die vierzylindrigen Werksmaschinen, deren gleichmäßiger Krafteinsatz beim Beschleunigen eindeutige Vorteile erkennen läßt. Die Stärke der 400er liegt überraschenderweise auf Rennpisten mit schnellen, langen Kurven, wie etwa Mugello oder Barcelona. Die Einladung von Teammanager Carlo Pernat an einen exklusiven Kreis von rennerfahrenen Journalisten, die RSV 400 in Mugello erstmals zu testen, darf als Beweis dafür gelten, daß das gewagte Aprilia-Projekt inzwischen den Kinderschuhen entwachsen ist. Wenngleich die Ergebnisse der vergangenen Saison - WM-Schlußrang zehn und zwei siebte Plätze in Brünn und Barcelona als beste Einzelresultate - noch nicht ganz den Erwartungen der Aprilia-Mannschaft entsprechen. Eine kräftige Schiebung ist angesagt, bevor die RSV beim Mugello-Test die ersten Töne von sich gibt. Zäh und lustlos quält sich der Motor mit seinem schier endlos langen ersten Gang durch die Boxengasse. Hat der V2 überschüssiges Öl und Benzin aber erst einmal ausgespuckt, erwacht das Kraftpaket zum prallen Leben. 7000, 8000, 9000 Touren - Wheeeeeelie. Schnell wird der zweite Gang nachgeschoben, doch das Vorderrad bleibt in der Luft und setzt erst bei weit über 150 km/h zur Landung an. Kündigt eine knapp 200 PS starke Honda NSR 500 solche Tänze durch ihr schrilles Vierzylinder-Kreischen laut und deutlich an, bleibt bei der Aprilia- 400 jegliche akustische Warnung aus. Um die aufsteigende Frontpartie auf Kurs zu halten, ist es für einen im Umgang mit der RSV ungeübten Piloten dringend angeraten, nicht das letzte Quentchen an Leistung herauszupressen, sondern schon gut 1000 Umdrehungen vor dem roten Bereich in den nächsten Gang hochzuschalten. Bei über 13 000/min liegt die Höchstdrehzahl, was darauf schließen läßt, daß sich Aprilia vom quadratischen Bohrung-/Hubverhältnis der 250er verabschiedet hat und dem 400er Motor mit extrem kurzhubiger Auslegung Stand- und Drehzahlfestigkeit sichert. Probleme bekommt der normal sterbliche Rennpilot auch mit den Carbon-Bremsen, die kalt so gut wie gar nicht, lauwarm nur rubbelnd und heiß gnadenlos bissig zupacken und damit ausschließlich dem erlauchten Club der GP-Profis zu empfehlen sind. Erst nach dem Eintauchen in die Kurve kommt das Vertrauen zurück. Die RSV 400 ist zwar nicht ganz so handlich wie die 250er von Weltmeister Max Biaggi, doch das für Halbliter-Verhältnisse federleichte Motorrad fädelt sich ohne Widerspenstigkeit auf der Ideallinie ein. 175 Millimeter breit, spannt sich der ausschließlich für die Aprilia entwickelte Dunlop-Slick über das 5,5 Zoll große Carbon-Hinterrad und liegt, der Motorleistung entsprechend, ziemlich exakt zwischen den 250er und 500er Dimensionen. Also handlich genug, aber auch mit ausreichend viel Auflagefläche und Grip zum Beschleunigen.Sensible Federelemente und die gutmütige Lenkgeometrie entwirren so manch verzwickte Kurvenkombination und schonen das Nervenkostüm des gehetzten Piloten. Vorausgesetzt natürlich, das Vorderrad bleibt am Boden, und das tut es nur beim sorgsamen Umgang mit dem Gasgriff. 1996 will Aprilia den Durchbruch in der Halbliter-WM schaffen - mit einer gründlich optimierten Maschine und dem mehrfachen 250er Grand Prix-Gewinner Doriano Romboni als neuem Fahrer. Doch im nächsten Jahr steigt noch ein weiterer David in den Ring - Goliath Honda selbst. Denn die Japaner treten nicht nur mit ihrem weltmeisterlichen Vierzylinder an, sondern mischen auch mit einem neuen Zweizylinder-Projekt mit, das sich in zwei Punkten wesentlich vom Aprilia-Konzept unterscheidet: Der 110-Grad-V-Motor der Honda schöpft den halben Liter Hubraum voll aus, und die Maschine soll bald als preiswerter Production Racer zu kaufen sein. Gute Ideen, das haben die Japaner längst begriffen, sollte man in jedem Fall zu Ende denken. Auch wenn es nicht die eigenen sind.

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