Fahrbericht Kocinski-Honda RC 45
Power-Vau

Mit 180 PS am Getriebeausgang ist die Werks-Honda von Weltmeister John Kocinski das stärkste WM-Superbike. MOTORRAD fuhr den Leistungsprotz nach dem WM-Finale in Indonesien.

»Wir haben gegenüber dem Vorjahr einiges an Leistung gewonnen«, erklärt Honda RC 45-Chefentwickler Syuhei Nakamoto vor der Testfahrt auf dem Kurs im indonesischen Sentul. Tags zuvor fand hier bei Gluthitze das Finale zur Superbike-WM statt, und auch heute zeigt das Thermometer über 30 Grad im Schatten. Harte Anforderungen also an Mensch und Motorrad.
Doch trotz des schweißtreibenden Klimas ist der Umgang mit dem Bike von Weltmeister John Kocinski weniger nervenaufreibend als erwartet. Denn obwohl der bekannt drehmomentstarke, wassergekühlte V4-Motor eine immense Spitzenleistung von 180 PS bei 14750/min am Getriebeausgang produziert, verwöhnt er mit einer unvergleichlich fülligen Leistungscharkteristik. Schon ab 4000/min zieht das Aggregat ruckfrei durch, und ab 6500/min beginnt der auf der Rennstrecke relevante Bereich des Power-Bands. Praktisch ohne spürbaren Knick legt der V4 kontinuierlich an Leistung zu, was das Beschleunigen aus den Kurven zu einer leichten, weil gut kontrollierbaren Übung macht. Jeder zusätzliche Millimeter am Gasgriff wird mit einer gleichmäßigen Zunahme an Motorleistung beantwortet, und so bereitet es keinerlei Schwierigkeiten, selbst in voller Schräglage das Gas anzulegen und sich dabei doch voll und ganz auf die Strecke zu konzentrieren.
Nicht minder weltmeisterlich verhält sich die Brembo-Bremse mit den beiden Monoblock-Vierkolbensätteln sowie den 320er Gußscheiben am Vorderrad. Maximal zwei Finger genügen in allen Fällen, um das Heck der Honda vor den Schikanen leicht werden zu lassen. Grund hierfür ist aber nicht ausschließlich die vehement wirkende und ungemein feinfühlig zu dosierende Verzögerungsanlage, sondern ebenso das radikale Fahrwerks-Set-Up, das John Kocinski ausgetüftelt hat.
Um nämlich Handlichkeit und Einlenkverhalten für seine Belange zu optimieren, ließ John im Vergleich zur Maschine seines Teamkollegen Aaron Slight nicht nur das Heck um einige Millimeter anheben, sondern bestand bei den Honda-Technikern auch darauf, die Schwingenachse in der Exzenterlagerung des Rahmens ganz vorn zu plazieren, was für maximal kurzen Radstand und damit gutes Handling, aber auch für leichte Nervosität bei harten Bremsmanövern sorgt.
Zudem entwickelt Kocinskis Maschine auf den leichten Bodenwellen im schnellen Linksknick, der im fünften Gang mit mehr als 200 km/h durcheilt wird, ein spürbares Eigenleben in der Frontpartie. Zusätzlich zu der Handling-optimierten Fahrwerksgeometrie wird hier Kocinskis Wahl des Vorderreifens spürbar. »Keiner im ganzen Feld fährt vorn eine derart weiche Mischung wie John. Um zu hohe Temperaturen und damit übermäßigen Verschleiß zu verhindern, ist die Reifenkarkasse extrem steif ausgelegt. Entsprechend gering ist die Eigendämpfung des Pneus«, erklärt Michelin-Sportchef Jean Herissé die Hauptursache dieser kleinen Unart.
Mit der Wahl des Vorderreifens wird auch rasch klar, weshalb Kocinski auf das Integralbremssystem »Racing CBS« verzichtet. Er bremst etwas früher, jedoch sanfter und dafür weiter in die Kurven hinein als sein Teamkollege Aaron Slight, der das System benutzt. Da die Hinterradbremse beim Racing CBS nur bei sehr hartem und schnellem Zug am Handbremshebel mit aktiviert wird, käme sie bei Johns Bremsstil gar nicht zur Wirkung. Er vertraut ganz auf die konventionelle Methode und betätigt die hintere Bremse mit dem rechten Fuß beziehungsweise per linkem Daumen mit einem kleinen Hebel am Lenker. Daß dies immer noch eine erfolgreiche Art der Verzögerung ist, hat er ja bewiesen.

Unsere Highlights

Technische Daten - Honda RC 45-Superbike von Kocinski (FB)

Motor und GetriebeWassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-90-Grad-V-Motor, Zylinderwinkel 90 Grad, vier Ventile pro Zylinder, elektronische Saugrohreinspritzung mit zwei Einspritzdüsen pro Zylinder, Drosselklappen-Durchmesser 46 mm; klauengeschaltetes Sechsganggetriebe mit Anti-Hopping-Ölbadkupplung.Bohrung x Hub 72 x 46 mmLeistung 180 PS bei 14750/min am GetriebeausgangFahrwerk und BremsenLeichtmetall-Brückenrahmen, Showa-Upside-down-Gabel vorn, Leichtmetall- Einarmschwinge mit Showa-Zentralfederbein und Hebelumlenkung hinten, zwei Brembo-Vierkolben-Festsättel mit schwimmend gelagerten Gußscheiben vorn, 0 320mm, Vierkolben-Nissin-Festsattel mit schwimmend gelagerter Bremsscheibe hinten, 0 190 mm.Trockengewicht 162 KilogrammHöchstgeschwindigkeit 310 km/h

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MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023