Dieses Finale beginnt mit einer Niederlage. Nein, nicht mit einer Niederlage der phänomenalen Honda, sondern mit einer ganz persönlichen. Es ist einer dieser frühen warmen Tage, wie man sie des Öfteren im badischen Hockenheim erlebt. Kaum kriechen die ersten Krokusse aus der Erde, donnern schon wieder die Motoren durch das Motodrom. Und ich bin auch da. Mit einer Honda CBR 600, freudig erregt, denn es werden gleich meine ersten Meter auf einer Rennstrecke sein.
Ein anderer Kerl freut sich auch. Der heißt Alois Tost. Und er wird gleich die allererste Honda VFR 750 R in Deutschland bewegen, jene legendäre RC 30, um die sich dieses Finale dreht. Das Pikante an der Sache: Weder ist die Honda eine offizielle Testmaschine, noch arbeitet Alois für MOTORRAD. Er fährt den Test auf einer privat von Honda-Händler Hans Mühlebach eingeflogenen VFR 750 R für unsere Schwesterzeitschrift PS. Sehr zum Ärger des damaligen MOTORRAD-Testchefs...
Doch nun zu meiner Niederlage. Sie ereilte mich in einer Phase des zunehmenden Wohlgefühls auf der CBR. Ich hatte ganz klar die Sache ziemlich schnell in den Griff bekommen mit der Strecke. Man hatte viel Platz, und die Kurvenkombinationen des kleinen Kurses konnte ich mir merken. Also wieder rechts ab in die Querspange und Gas auf bis zum schnellen Linksknick. Mööööööööääähnnaaah - ich falle vor Schreck fast von der CBR! Bricht doch da so ein unendlich viel schnellerer Irrer innen an mir vorbei, als ich gerade einbiegen will. Ich lege nach rechts um, das Motodrom taucht wieder auf - und - der Kerl ist schon wieder in der Sachskurve! Das war sehr sehr bitter.
Später war mir dann klar, dass es nur am Material liegen konnte... RC 30 gegen CBR 600: no chance. Möge ein bisschen auch der Fahrer Einfluss genommen haben: Alois fuhr beispielsweise bei der Endurance-WM zusammen mit Helmuth Dähne auf den zweiten Platz, und das auf der Nordschleife. Man biegt es sich halt zurecht. Im Fahrerlager durfte ich dann die Maschine bewundern: Ein Hammer, wie schön die Honda verarbeitet war. Hand-laminierte Verkleidung und Höckersitzbank. Brillant verschweißter Alurahmen, Gabel mit Schnellverschlüssen fürs Vorderrad.
Noch nie hatte ich einen solchen Renner gesehen. Und das Tolle war dazu: Die VFR 750 R war mit einem Drosselkit für die Straße zugelassen. Für astronomische 25000 Mark plus 270 Mark Überführungsgebühr gab es 200 Stück in Deutschland zu kaufen, die ruckzuck vergriffen waren. Per 5000-Mark-Rennkit konnten schnell 125 PS gezaubert werden. Komisch, das kostet heute eine 1000er auch. Schon serienmäßig war die Honda für Höchstleistung bestens gerüstet. Voll einstellbares Fahrwerk, Einarmschwinge, Bremsmomentabstützung und vollgetankt nur 208 Kilogramm Gewicht, damit konnte sich der Einsitzer sehen lassen.

Ein Sahnestück war dabei der Motor: Der 90-Grad -V4 besaß eine 360-Grad-Kurbelwelle auf der vier Titanpleuel laufen. Die Kolben trugen nur zwei Kolbenringe und waren teflonbeschichtet. Extremer Aufwand zur Ventilsteuerung: Die vier obenliegenden Nockenwellen wurden über zwei Zahnradkaskaden mit jeweils vier Zahnrädern angetrieben. Die wälzgelagerten Nockenwellen trieben dann über Tassenstößel die Ventile an, deren Schäfte mit nur 4,5 Millimetern Durchmesser für damalige Zeiten extrem dünn ausgeführt waren. Ein Kunstwerk also, das Honda damals auf die Räder stellte, und bis heute absolut legendär.
Auf Anhieb gewann Fred Merkel mit der Honda die 1988 neu gegründete Superbike-Weltmeisterschaft. Die RC 30 war ein Volltreffer. Ein gutes Jahr später habe ich selbst die Ehre, ein solch motorradbauerisches Kleinod bewegen zu dürfen. Auch in Hockenheim, allerdings mit einigen hundert Runden dort auf dem Buckel. Ein netter Privatmann hat mir sein Schätzchen zur Verfügung gestellt, taufrisch.
Schon die ersten Meter machen klar, das ist keine normale Serien-Honda, das ist eine mühsam für den Straßenbetrieb gedrosselte Rennmaschine. Gierig hängt der Titanpleuelmotor am Gas, einzigartig der Sound: knurrig untenrum, ab 10000/min trompetend wie ein brünstiger Elefantenbulle. Herrlich, wie sich die Honda fahren lässt. Wenn eine Maschine das Prädikat leichtfüßig verdient, dann die RC 30. Und trotz aller Handlichkeit lässt sie niemals die Präzision vermissen, mit der man dann beispielsweise die Querspange in Hockenheim meistern muss. Aha, so hatte das Alois also damals gemacht.
Ich habe es zu jener Zeit ziemlich eilig, und so stören mich schnell die aufsetzenden Fußrasten der Honda. Sogar die unter der Einarmschwinge geführten Krümmer setzen in der Sachskurve auf. Und das, obwohl der nicht wirklich optimale 18-Zöller hinten noch gar nicht am Limit ist. Heute würde ich es gemütlicher angehen lassen. Würde mich freuen, diesen schwerelos hochdrehenden Motor zu genießen, dieses unglaublich gut ausbalancierte Motorrad durch die Kurven zu schwenken.
Und würde verstehen, warum heutzutage fast alle Moto-GP-Renner von einem V4-Motor angetrieben werden. Schwerpunkt, Leistung, Einbaulage sind optimal. Schade, dass Honda keinen V4-Supersportler mehr baut. Der V4-Fan kann sich aber seit einiger Zeit anderswo bedienen: bei Aprilia. Die RSV4 R besitzt einige Gene der RC 30. Was man auch merkt.
Technische Daten

Motor:
Wassergekühlter Vierzylinder-Viertakt-90-Grad-V-Motor, vier Ventile pro Brennraum, über Tassenstößel ge-steuert, Nockenwellen zahnradgesteuert, Bohrung x Hub 70 x 48,6 Millimeter, 748 cm3, 82 kW (112 PS) bei 11 000/min, vier 35,3-mm-Gleichdruckvergaser, Ölbadkupplung, Sechsganggetriebe.
Fahrwerk:
Brückenrahmen aus Aluminium, vorn Telegabel, hinten Einarmschwinge mit über Hebelsystem angelenktem Federbein, 310-mm-Doppel-Scheibenbremse vorn mit Festsätteln, 220-mm-Einscheibenbremse hinten, 17/18-Zoll-Gußräder vorn/hinten.
Maße und Gewicht:
Gewicht vollgetankt 208 kg, Tankinhalt 18 Liter, Beschleunigung 0 auf 100 km/h in 4,9 s, Höchstgeschwindigkeit 244 km/h.
Preis: 25270 Mark (1988)