Impression: Yamaha YZF-R1

Impression: Yamaha YZF-R1 Bukowski würde R1 fahren

Ein glühender Nachmittag im Juni. In Charles Bukowskis Stammkneipe parkt eine giftblaue Yamaha R1. Widerstehlich wie ein kühles Pils.

Am 13. die Miete, am 14. die Alimente, am 15. die nächste Rate für eine größere, mittlerweile verdampfte Bierlieferung. Heute war der 16.
Ich hatte einen langen Clinch mit dem Alkohol hinter mir. In den Taschen schepperten einige Cent, und ich hing an der Theke. Glas. Gebürstetes Metall. Verlebte Aschenbecher. Meine Linke mit einem Weinglas verzahnt. Rotwein. Französisch. Die Rechte zwischen
den Schenkeln dieser gottverdammten Kleinen. Mitte Dreißig, einen wunderbaren Zentner schwer. In ihren Augen diese Gier nach Leben. Du könntest sie haben, Alter, wenn du dich anstrengst, sagte ich mir. Würdest dich aber nur unglücklich machen. Drum schmink’ dir’s ab und bleib ein verklemmter
Voyeur. Ich müsste bloß irgendetwas finden, was mich ein bisschen vom Trinken abhält. Zum Beispiel heute.
Eat, drink, f**k, drive – die Basics eines erfüllten Lebens. Letzteres hatte seit Wochen auf sich warten lassen. Wer immer diesen blauen Joghurtbecher direkt vor der Theke geparkt hatte, er hatte den Zündschlüssel nicht abgezogen. Ich zupfte die Rechte aus der warmen Parkzone und stolperte der Maschine entgegen.
»Du machst dich nur unglücklich, Buk.«
»Yeh?«
»Das ist ’ne Granate. Kein Ver-
gleich mit den abgetakelten Kübeln,
auf denen du die letzten Jahre herumgerutscht bist.«
Ich fischte eine Zigarette aus meiner Hemdtasche. Zündete sie, spie
den Rauch aus wie ein auftauchender Wal, drehte den Schlüssel im Schloss, schnalzte den Seitenständer und ließ mich nieder. Strammes Kissen, Tank und Wams arretiert, die Beine in Missionarsstellung, beide Hände am Lenkgestummel. Gutes Gefühl.
»Soll gut 172 Pferde loslassen.«
»Klingt super.«
»Der neue Obermieter hat sie hier geparkt.«
»Sein Fehler. Sag’ ihm, ich borg’ sie kurz.«
Ich drückte den Anlasserknopf. Ein kurzer Dreh. Boshaftes Fauchen. Frisuren explodierten, Zigaretten verglühten, sieben Gläser stieben vom Tisch. Oder acht. Zwei Sekunden später stand ich draußen.
Großstadtluft blies mir entgegen.
Es war Donnerstagabend in einer der grausamsten Städte der Welt. Was, zum Teufel, wollte jemand mit 172
Pferden? Vor allem hier, in diesem Blechgewühl? Na, das Ding ging jedenfalls wie Hölle. Oder besser: Es ging scheinbar direkt dorthin. Gefühlte 3200 PS. Vor mir eine Hundertschaft Dumpfbacken, die für die Weltmeisterschaft im Spritsparen trainierten. Ich ließ sie rechts liegen. Und fand mich nahezu
allein im Tunnel wieder. Ich lud durch. 5000/min. Erster Gang. Einmal sachte bis zum Anschlag. Hoppla! Was wog das Ding? Keine vier Zentner, hieß
es. Und war laut wie ein Schwein im Schlachthof.
Direkt unter dir das satte, tiefe Stöhnen aus dem Luftfilterkasten, hinten raus martialisches Fauchen aus beiden Rohren. Reflektiert von Betonwänden. Eine Mischung aus Hilfe-
schrei und Orgasmus. Auf Knopfdruck. Oder besser: per Dreh. Jetzt wurde
mir klar, warum der Obermieter den blauen Bock abgegriffen hatte. Allein der Kampfschrei ist unbezahlbar.
Dann lagen sie vor mir. Kurven.
Unzählig. Radien, so unterschiedlich wie Hendrix und Bohlen. Was soll
ich sagen? Na, jedenfalls war R1 reiten wie guter Scotch oder ein Konterbier nach einer durchzechten Nacht. Total belebend. Da war diese manische Macht, die dich von einer Schräglage in die nächste presste. Dieses Chassis, das mit deinem Ich verschmolz, deine Gedanken las und sie umsetzte. Eins
zu eins. Das Bestreben, die Ideallinie
zu treffen, war wie ein guter, morgendlicher Bierschiss. Leichtes Drücken reicht. Bremsen mit der Wirkung eines gut gezielten Tiefschlags. Und das mit einem Finger. Diese einfachen Schräglagenwechsel konnten einen Idioten geil machen. Ich war nur ein Halbidiot. Also zog ich am Kabel. Drive like
you stole it. Je weniger man an das
Leben glaubt, desto weniger hat man zu verlieren.
Eine Ampel. Rot. Mitten im Niemandsland. Konnte froh sein, dass ich sie überhaupt respektierte. Niederträchtiges Gegrummel neben mir. Einer von der grünen Fraktion. Ninja. Wenn sie nicht gewinnen, bringen sie sich um, heißt es. Nun, die Welt schien eh zu klein für uns beide. Ich gewann den Sprint. Null auf 200 km/h in weniger
als acht Sekunden. Aber wisst ihr, wie sich das anfühlt? Schreckgespenst
eigener Schatten, sag’ ich nur. Diese Drehzahlgier. Der pulsierende Atem. Das unvermeidliche Risiko. Bei 2000/
min fühlst du die Macht unter dir. Schub. Gesättigt. Fromm. Erhaben. Ab 5000 wird es fett. Dann kommt er. Der Tiger knurrt, bereit zum Sprung. Über 7000 regiert die reine Wollust. Unersättlich dreht dieses feinstmechanische Wunderwerkzeug. Kennt keine Täler, keine Berge. Ein atomarer Schlag, dem nur der Begrenzer bei 15000/min Einhalt gebietet. Wenn du den Mut hast, durchzuziehen.
Zwischen 8000 und 15000/min gleicht der R1-Torpedo einem letzten waghalsigen Schritt auf einer morschen Treppe in tiefster Finsternis. Bis hierher hast du es geschafft. Dann der letzte Tritt. Zentimeter um Zentimeter eine Ewigkeit. Dein Fuß setzt ins Nichts.
Tiefer und tiefer. Kein Halt. Vollendete Leere. Pochendes Herz. Wellender Nacken. Kribbelnder Magen. Das Schreckgespenst grinst. Fahr’ ihm davon, zieh einfach durch.
Na ja, es war nicht nur der Sprint, der den Ninja alt aussehen ließ. Wir drangen ein in diese verknotete Landschaft. Ali vom Amt, Bruno vom Bau und Gott weiß wer hatten sich hier ausgetobt, die Teerstreifen wie Senf aus der Tube gequetscht und vergessen, den Schilderwald wieder aufzufors-
ten. 20 Prozent Steigung, 32 Prozent Gefälle, 100 Prozent Einsatz. Passo di
Abledro, sagte ich nur.
Und wahrlich, ich lederte. Blieb
mit dem Angstnippel der rechten Fußraste an einem Bordstein hängen. Schliff ihn ab. Verschätzt. Wird später garantiert für Gesprächsstoff sorgen. Trieb der Pelle Sorgenfalten an die Kante. Presste das Motoröl durch seine Achterbahn, bis es schwindelig wurde. Und kam schließlich mit tickerndem Motor und ohne Verlierer im Schlepp-
tau an einen Motorradtreffpunkt. Kaum belebt um die Uhrzeit. Verlassene
Applauskurve, verkohlte Bratwust, ein paar eckige Burnouts. Außer mir nur zwei Typen mit Bikes, denen man
den Motor scheinbar falsch herum
eingebaut hatte. Alte bayerische Sitte. Nun, jeder kommt einmal an den Punkt, wo er sich entscheiden muss, ob er hart bleiben oder davonlaufen will. Ich beschloss, hart zu bleiben.
»...Fußrasten, in zwanzig Positionen verstellbar. Das Windschild ist optional in neunzehn Größen erhältlich...«
»Jungs«, sagte ich, um die Sache klarzustellen, »mit den Bikes ist es doch wie mit den Weibern.«
»Bitte?«
»Wollt ihr eine, die Puschen holt, abwäscht, vorm Essen betet und nur auf dem Gehsteig geht oder eine, die euch mal richtig rannimmt?«
»Rannimmt?«
»Yep. Konnte ich mir denken. So, wie ihr ausseht, ist der Zug abgefahren, oder?«
Da standen sie nun. Blickten wie Hunde, die man beim Kacken auf den englischen Rasen erwischt.
»Hier«, brummte ich zwischen der Zigarette hinaus und zeigte auf die R1. »Das Ding hier lutscht euch auf nur zehn Kilometern die Seele aus den Gore-Tex-Anzügen.« Zwei Minuten und dreißig Sekunden verstrichen. Dann fuhren sie wortlos. Aber, wo wir schon dabei sind: Nichts gegen beten und
Puschen holen. Solange sie dich auch auf anderen Ebenen verwöhnen, geht das in Ordnung.
Da standen wir nun. Der eine kaum mehr wert als seine herabhängende Hose. Die andere gegen 13300 Steine für jeden zu haben. Ich kratzte die
vorletzten Cent zusammen und griff
ein Bier ab. Druckbetankung. Sezierte die R1. Schmale Taille, schnittiger
Vorbau, graziler Hintern. Der Blick ein
einziger Vorwurf. Bremsscheiben groß wie’s Rad. Die Bremssättel ein Kunstwerk. Eine Soziusbank, die, falls besetzt, jedem, der hinterherfährt, einen knackigen Hintern in vollendeter Spreizung präsentiert. Apropos Hintern: Saß die Kleine etwa noch in der Kneipe?
Die schnellste Verbindung zwischen zwei Punkten ist bekanntlich eine Gerade. Ich bog auf die Autobahn und
zog am Kabel. Auf der linken Spur nur Typen, die auf der Standgasdüse unterwegs waren. Also fuhr ich ran. Schließlich müssen sie merken, dass man es ernst meint. Die Stadt hatte mich wieder. Ich segelte die Mainroad hinunter Richtung Westen, die deprimierendste aller Straßen. Ein vollgestopftes gläsernes Nichts. Der Tacho zeigte rund 80 km/h. Und ich stand. So ist das mit der Wahrnehmung.
»Menschenskind Buk! Ist die Karre noch ganz?«
»Sollte getankt werden.«
»Und wie geht sie?«
»Soll ich einem Blinden die Farbe Rot erklären?«
Ich murkste ein wenig an meinem Gesicht herum. Vergebens. Das dreckige Sonnenlicht arbeitete sich langsam durch den Raum und blieb an den Schenkeln der Kleinen hängen. Nun, man bereut immer nur das, was man nicht getan hat. Ich war steinalt und hatte nichts zu bereuen. Wir stiegen in ihr Auto, gebraucht, wie sie selber. In meinen Taschen klimperten sieben Cent. Aus der Ferne wehte ein Martinshorn herüber.

Bukowski würde R1 fahren

Der Schriftsteller Charles Bukowski wurde als Sohn deutsch-polnischer Eltern 1920 in Andernach am Rhein geboren. Als er zwei Jahre alt war, wanderte die Familie nach Amerika aus. Mit 35 Jahren begann er zu schreiben. Bukowski gilt heute als einer der bedeutendsten Dichter Amerikas. Er starb 1994 in Los Angeles. MOTORRAD-Redakteur Rolf Henniges nahm den zehnten Todestag des Meisters der Schmutzgeschichte als Anlass für eine Was-wäre-gewesen-wenn-Story, eine Motorradfahrt im Stil des Poeten, der »ganz von unten kam«.

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