Bei Ducati in Bologna werden sie wohl ein wenig verschnupft sein. Da überlegen die Ingenieure und Manager im Werk tagaus, tagein, wie sie der Welt noch bessere, exklusivere und schönere Ducatis bescheren können, jagen Rundenrekorde und bauen sogar Cruiser und Enduros – und was küren die MOTORRAD-Leser zu ihrer Traum-Ducati? Eine 23 Jahre alte Mühle! Aktuelle Bologneser Gewächse wie Panigale, Multistrada, XDiavel oder Scrambler schneiden zwar ebenfalls gut ab, müssen sich aber hinter der Ducati 916 einreihen. Eine solche Ikone zu erschaffen, hat eben ungeahnte Langzeitfolgen.
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Ducati 916
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Warum dieses Motorrad bis heute eine derartige Strahlkraft entfaltet, hat viele Gründe. Einer davon liegt im revolutionären Ansatz, den ihre Schöpfer verfolgten: Sie entwickelten ein Motorrad für die Rennstrecke, um daraus eine Serienversion abzuleiten, nicht umgekehrt, wie es bis dato in der Regel üblich war. Im Jahr 1993, als die Ducati 916 vorgestellt wurde, hießen die wichtigsten Supersportler Ducati 888, Honda CBR 900 RR, Kawasaki ZXR 750, Suzuki GSX-R 750 und Yamaha YZF 750 R. Allesamt gute und schnelle Motorräder, doch neben der Neuen aus Bologna wirkten sie plötzlich wie aufgebretzelte Landeier neben einem mondänen Top-Model. Denn keine von ihnen hatte, was die 916 rundum ausstrahlte: echten Racing-Spirit und jede Menge Sex-Appeal.
Ducati 916 schien wie vom anderen Stern
Selbst die Journalisten, die zur Vorstellung auf dem Mailänder Salon im Oktober 1993 herbeiströmten, hielten bei ihrer Enthüllung sekundenlang die Luft an, ehe sie in spontanen Applaus ausbrachen. Ebenso hingerissen zeigte sich das Messepublikum. Mit der aggressiv geschnittenen Verkleidung, dem Raubkatzenblick aus den beiden Scheinwerfern und der gedrungenen, kraftvollen Linie schien die Ducati 916 wie von einem anderen Stern. Dazu kamen technische Finessen wie die ungewöhnliche Auspuffanlage unter der Sitzbank, die Einarmschwinge, eine Einspritzung und das relativ geringe Gewicht von 208 Kilogramm – nur Hondas Fireblade konnte da mithalten, nicht allerdings bei der versprochenen Höchstgeschwindigkeit von 260 km/h. Zudem präsentierte Ducati die 916 zunächst nur als Einsitzer und unterstrich damit ihren Anspruch auf die Krone der Supersportler.
Die sie auch flugs eroberte, denn Carl Fogarty und Co. fuhren mit ihr Siege in Serie ein. Zwischen 1994 und 2002 holten die Ducati 916 und ihre direkten Nachfolgerinnen 996 und 998 insgesamt acht Konstrukteurs- und sechs Fahrertitel in der Superbike-WM, was den Mythos 916 untermauerte. Auch Hobby-Racer und Landstraßen-Ritter schwärmen bis heute in den höchsten Tönen von ihrer messerscharfen Lenkpräzision und der enormen Stabilität des Fahrwerks, von der sanft einsetzenden, aber gewaltigen Kraft des Desmo-Vierventilers, untermalt vom Bollern aus den Endtöpfen – Gänsehauteffekt garantiert.
Geschenkt gab es dieses hochemotionale Fahrerlebnis nicht. Die Ducati 916 war eine überaus anstrengende Partnerin im Kurventanz, schließlich war sie für die Rennstrecke entwickelt worden und knechtete ihren Fahrer in eine tief gebückte, unbequeme Sitzposition. Doch die geriet ebenso in Vergessenheit wie die nicht eben leichtgängige Kupplung, die matschige Vorderradbremse und das den schweren Rädern geschuldete anstrengende Handling, wenn Fahrer und Motorrad mit zunehmender Geschwindigkeit zu einer einzigartigen Einheit verschmolzen.
Tamburini sägte eigenhändig Rahmen an
Bis heute tragen auch ihre beiden Schöpfer zur unverbrüchlichen Strahlkraft der Ducati 916 bei. Der charismatische Claudio Castiglioni, damals Boss von Ducati, und der geniale Entwickler Massimo Tamburini arbeiteten bereits seit 1988 an ihrem Projekt „Rimini“. Von dort aus schickte Tamburini ganze sieben Prototypen nach Bologna, bis er endlich zufrieden war. Mit wahrer Besessenheit kümmerte er sich speziell ums Fahrwerk; unter anderem bestand er darauf, dass alle Testfahrten, von denen er viele selbst auf dem nahen Viamaggio-Pass absolvierte, ohne Lenkungsdämpfer abliefen. Den brachte die Ducati 916 zwar serienmäßig mit, doch der Entwickler fürchtete, dass dadurch eventuelle Schwächen des Rahmens überdeckt würden.
Die viel bewunderte Verkleidung, so erzählte Tamburini später, entstand im Regen: Weil Ducati sich keinen Windkanal leisten konnte, habe er den Verlauf von Regentropfen auf der Verkleidung beobachtet und daraus deren aerodynamische Form entwickelt. Streng kontrollierte der Perfektionist auch den Serienanlauf der Ducati 916: Da die ersten Gitterrohrrahmen nicht seinen Vorgaben entsprachen, sägte er eigenhändig aus jedem ein kleines Stück heraus, um so zu verhindern, dass der Zulieferer nur nachbesserte, statt sie neu aufzubauen.
Mythos verstärkend wirkte auch, dass sich die Ducati 916 als knappes Gut entpuppte. Selbst wer bereit war, gut 28.000 Mark für die Basisversion des roten Renners hinzublättern, konnte keineswegs sicher sein, eine zu ergattern, denn finanzielle Engpässe bei Ducati führten zu Lieferschwierigkeiten. 15.252 Exemplare liefen von Anfang 1994 bis Ende 1997 in den Versionen Monoposto, Biposto, SP und Senna vom Band, trotz enormer Nachfrage also keine 4000 Stück pro Jahr. Angesichts so vieler legendenbildender Zutaten ist es im Grunde kein Wunder, dass die Ducati 916 bis heute als die Traum-Ducati gilt – echte Meilensteine sind nun mal rar.