ist es Naivität? Übermut? Oder gar Größenwahn? Welcher Hafer hat Alex Baumgärtel und Klaus Hirsekorn bei der Entscheidung gestochen, als Greenhorns in die Weltmeisterschaft einzusteigen? Immerhin tummeln sich dort klangvolle Namen wie Suter, Moriwaki, Tech 3 oder Harris. Natürlich begründen andere Attribute das WM-Abenteuer der beiden 43-Jährigen. Schon früh infizierten sie sich unheilbar mit dem Racing-Virus und leben nun ihre Leidenschaft für Motorräder, Technik und Perfektion. Dazu gesellt sich eine ordentliche Portion Verrücktheit. Sonst lässt sich kaum erklären, wie die Cracks vor drei Jahren ihre gut bezahlten Jobs als Entwicklungsingenieur respektive Produktionsleiter bei einem namhaften Hersteller von Spezialteilen für den Automobil-Rennsport aufgaben und sich mit ihrer neu gegründeten Firma Kalex (eine Verschmelzung beider Vornamen) in die Selbstständigkeit warfen.
Die Firma
Das erste Projekt: die AV-1. Dabei handelt es sich um einen eigenständigen Brenner mit dem V2-Herz einer Aprilia Mille (siehe PS 2 und 12/2008). Danach folgte der Entschluss, bei der Moto2-WM mitzumischen. Vom weißen Blatt Papier bis zum einsatzfertigen Bike benötigten die Tüftler nur fünf Monate. Der spanische Teamchef Sito Pons erkannte das Potenzial von Mensch und Maschine und bestellte zwei der Renner bei der in Bobingen bei Augsburg beheimateten Racing-Schmiede (kalex-engineering.de). Dass er damit ein feines Näschen bewies, zeigt ein Blick auf die WM-Ergebnislisten: Mehrere Zieleinläufe in der hart umkämpften Klasse beendete die Kalex-Moto2 unter dem spanischen Piloten Sergio Gadea in den Top-Ten. Auch der siebte Platz des australischen IDM-Fahrers Damian Cudlin bei seinem Einsatz auf dem Sachsenring erregte Aufsehen. Bis Redaktionsschluss gilt als Höhepunkt jedoch das Rennen im italienischen Mugello, wo das Team mit einem zweiten Platz brillierte. Mittlerweile klopfen auch andere Teams und Fahrer an die Pforte und ordern für nächstes Jahr Bikes. "Um die bisherige Qualität zu garantieren, rüsten wir höchstens sechs Piloten aus", taxiert Baumgärtel das Produktionslimit.
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Ein Spezialist schweißt gefräste Einzelteile aus Aluminium zu einem Hauptrahmen zusammen. Insgesamt wiegt das Geflecht knapp neun Kilogramm. Zirka 100 Arbeits- und Maschinenstunden stecken in solch einem Teil, bis es fertig ist. Das hat natürlich seinen Preis: 22 500 Euro ruft Kalex dafür auf.
Dass der Spruch über Qualität keine leere Phrase ist, zeigt ein Gang durch die pikfeinen Werkshallen. In einem gesonderten Schweißraum brutzelt ein Spezialist die neueste Ausbaustufe des Rahmens akkurat von Hand zusammen. Ein anderer bedient eine Maschine, die die Aufnahmepunkte von Motor, Schwinge und Gabel auf einen hundertstel Millimeter genau fräst. Insgesamt dauert die Produktion eines Rahmens zirka 100 Stunden. Wahnsinn! Wahnsinnig teuer ist es allerdings auch: 22 500 Euro ruft Kalex für solch ein Präzisionsteil auf. Da erscheint die ebenfalls handgeschweißte Schwinge wie ein Schnäppchen: Sie kostet rund 10 000 Euro. Während dem Autor ob dieser Preise ganz schwindelig wird, dengelt ein dritter Facharbeiter mehr als ein Dutzend Alu-Blechteile und verschweißt sie zu einem 20-Liter-Tank. Sein Kollege führt derweil mit speziellem Vermessungswerkzeug die Endkontrolle einer Gabelbrücke durch. Auf die Frage nach dem Preis einer Rennmaschine antwortet Baumgärtel: "Der hohe Fertigungsaufwand ist natürlich teuer, aber mit einem komplett aufgebauten, rennfertigen Bike liegen wir mit 115000 Euro nur zirka fünf Prozent oberhalb der Konkurrenz."
Wie stemmt eine solch junge Firma die Kosten für die Entwicklung eines neuen Bikes? "Klar, das ist ziemlich teuer. Allein die Formen für die vielen Karbonteile herzustellen, kostete 70 000 Euro", erklärt Hirsekorn. Kompagnon Baumgärtel ergänzt: "Dazu kommen Kosten für Komponenten wie Motor, Federelemente, Bremsanlage, Räder und Datarecording sowie Aufwendungen für das Rohmaterial und Maschinen. Ganz zu schweigen von der Logistik wie Transportfahrzeug, Büro- und Werkstatteinrichtung und, und und. Ohne Förderer ist das nicht zu stemmen." Daher holten die beiden Jungunternehmer 2008 ihren Ex-Chef Günther Holzer als Partner mit an Bord. Holzer stellt mit seiner Firma "Performance GmbH" die Räumlichkeiten, das Fertigungsmaterial sowie sämtliche Spezialmaschinen inklusive zugehörigem Fachpersonal.
Das Bike
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Zielgenauigkeit, absolute Stabilität in allen Lagen und das glasklare Feedback begeistern. Die über-dimensionierten Reifen kosten den leichten Renner etwas Handling.
In Hockenheim steht das Bike zum Test bereit. Wow, aus dem Mini-Endtopf des Racing-Auspuffs röhrt ohrenbetäubender Sound. Hirsekorn grinst: "Die Zuschauer stehen darauf, beim Standgeräusch liegen wir bei 112 Dezibel. Schließlich soll es sich bei einer Weltmeisterschaft ja nach etwas anhören." Richtig, doch leider schmeißen die meisten Rennstrecken-Betreiber außerhalb einer WM-Veranstaltung derartige Schreihälse in hohem Bogen von der Piste. Also kurz einen gemäßigteren Endschalldämpfer montiert und los geht‘s.
Auf dem sportlich-schlanken und mit Moosgummi spartanisch gepolsterten Sitz thront der Pilot recht hoch. Wie von selbst finden Hände und Füße zum Lenker beziehungsweise den Rasten, die Sitzposition passt perfekt. Die erste Kurve. Um abzuwinkeln benötigt der Moto2-Treiber ein wenig Kraft. Gleiches gilt in Wechselkurven. Eine Folge der vom Reglement zwingend vorgeschriebenen Räder- und Reifendimensionen: Vorn steckt eine 125er-Pelle auf einer 3,75-Zoll-Felge, hinten eine fette 195er-Schluffe auf einem Sechs-Zoll-Rad. Das raubt selbst einem 139 Kilogramm leichten Renner wie der Kalex-Moto2 einen Tick Handlichkeit. Dazu kommt, dass das Setup für den Sachsenring mit seinen ewig langen Kurven abgestimmt ist. Für mehr Stabilität opferte Kalex offenbar etwas Handling. Alex Baumgärtel erklärt: "Wir können an dem Bike alle für die Geometrie relevanten Elemente wie Lenkkopf- und Schwingenwinkel sowie Nachlauf und Radstand gesondert einstellen. Das ermöglicht passende Setups für unterschiedlichste Streckenlayouts." Für Abstimmarbeiten bleibt heute jedoch keine Zeit mehr; nur noch wenige Runden, bis die Strecke dicht macht. Also nochmals die sagenhafte Lenkpräzision, die bei allen Fahrmanövern atemberaubende Stabilität sowie das exzellente Feedback genießen. Fahreigenschaften, die Vertrauen schaffen und dem Körper eimerweise Glückshormone bescheren.
Antriebsseitig werkelt in dem Testbike der Serienmotor einer CBR 600 RR. Gemäß den Regularien des Weltverbands für Motorradsport, FIM, darf der Honda-Einheitsmotor auf Basis des CBR 600-Aggregats außerhalb von Rennwochenenden nicht benützt werden. Boxengassen-Gerüchten zufolge leistet der Einsatzmotor 130 bis 135 PS. Um bei Testfahrten mit ähnlicher Leistung arbeiten zu können, verbaut Kalex demnächst einen getunten CBR-Treibsatz. Nur eines von vielen Vorhaben in naher Zukunft. Hier einige weitere: Aerodynamik perfektionieren und das Gewicht absenken - wenn möglich bis zum erlaubten Wert von 135 Kilogramm. Außerdem sind die WM-Piloten der Meinung, dass die Konkurrenz beim Beschleunigen aus engen Ecken über mehr Traktion verfügt. Auch da müssen die Männer ran. Zweifelsohne erreicht Kalex nur mit ständiger Weiterentwicklung sein erklärtes Ziel: "Wir wollen Weltmeister werden", lässt Baumgärtel die Katze seelenruhig aus dem Sack. Von Naivität, Übermut oder Größenwahn keine Spur.
Technische Daten
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Unter dem Kohlefaserkleid von Composite World setzt sich die Perfektion fort: astrein auf-gebauter Moto2-Renner mit mächtigem Brückenrahmen.
Antrieb:
Basisantrieb einer Honda CBR 600 RR: Vierzylinder-Reihenmotor, 4 Ventile/Zylinder, Leistung: k. A., Drehmomehnt: k. A. , 599 cm3, Bohrung/Hub: 67,0/ 42,5 mm, Verdichtung: k. A., Zünd-/Einspritzanlage, 40-mm-Drosselklappen, mechanisch betätigte Mehrscheiben-Ölbad-Anti-Hopping-Kupplung, Sechsganggetriebe
Fahrwerk:
Leichtmetall-Brückenrahmen, Lenkkopfwinkel: 67 Grad (in 0,5-Schritten variierbar), Nachlauf: 95 - 110 mm, Radstand: zirka 1390 mm (variierbar), Ø Gabelinnenrohr: 43 mm, Federweg v./h.: 130/120 mm
Räder und Bremsen:
Geschmiedete Leichtmetall-Gussräder, 3,75 x 17"/6.0 x 17", Reifen vorn: 125/75 R 17, hinten: 195/75 R 17, 290-mm-Doppelscheibenbremse mit radial angeschlagenen Vierkolben-Festsätteln vorn, 218-mm-Einzelscheibenbremse mit Zweikolben-Festsattel hinten
Gewicht fahrfertig ohne Benzin: 139 kg*, Tankinhalt: 20 Liter Super plus
Grundpreis: 115 000 Euro (zzgl. MwSt)