Die Verkaufszahlen sprechen eine harte Sprache: Das Marktsegment der supersportlichen 600er-Maschinen verliert an Bedeutung. Aber gerade hier rüsten die japanischen Motorradgiganten ungehemmt auf. Honda, Kawasaki und Yamaha treten gar mit äußerst radikalen Neukonstruktionen in die kommende Saison.
Und diese Entscheidung erscheint trotz der schwierigen Verkaufslage logisch. Denn die 600-cm³-Klasse wird sich mittelfristig als zweite Rennsportkraft neben der alles überstrahlenden MotoGP-Kategorie etablieren; ob weiterhin unter dem Namen Supersport oder »GP2« oder sonstwie, ist eher nebensächlich.
Auch das 2003 bereits im fünften Jahr unveränderte Yamaha-Deutschland-Fahrerduo Jörg Teuchert, Weltmeister 2000, und Christian Kellner freut sich natürlich über die Supersport-Großoffensive. »Schau sie dir an«, präsentiert Jörg Teuchert begeistert sein neues Renngerät bei Testfahrten im südspanischen Almeria, »das ist ein richtiges Rennmotorrad.«
Was uns der stolze Franke damit sagen will: Von der regelgemäßen Seriennähe einer Supersport-Maschine fühlt er sich kaum noch in seinem Vorwärtsdrang eingeschränkt. Das Fahrwerk wurde im Vergleich zur alten R6 noch kompakter. So wanderte der Schwingendrehpunkt um zehn Millimeter nach vorn. Dazu setzt Yamaha Deutschland ab 2003 auf WP-Fahrwerkskomponenten sowie neu entwickelte Dunlop-Reifen. Das Ergebnis ist überraschend: Gerade im Bereich Fahrverhalten und Handlichkeit, schon bisher eine Stärke der Yamaha R6, wurden nochmals erhebliche Fortschritte gemacht.
Der entscheidende Sprung vorwärts bei der neuen Supersport-R6 wie beim Serien-Modell: der Wechsel von Vergasern zur Benzineinspritzung. Die 16-Bit-Einspritzung mit Drosselklappen und vorgeschalteten, unterdruckgesteuerten Gasschiebern mit 38 Millimeter Einlassquerschnitt sorgt für um Welten verbesserte Gasannahme und -dosierung. »Die Maschine reagiert viel spontaner als die alte, du fühlst dich vom ersten Meter an hervorragend auf dem Motorrad«, lobt auch der Bayer Christian Kellner sein neues Arbeitsgerät. Und Kollege Teuchert setzt eins drauf: »Obwohl ich subjektiv sagen würde, dass wir in der jetzigen frühen Testphase noch nicht ganz auf dem Leistungsniveau der letzten 2002er-Rennmaschinen sind, kann ich schon schneller fahren als im Vorjahr. Das direktere Ansprechverhalten des Einspritzers bringt uns beim Beschleunigen aus den Ecken heraus voran. Da war letztes Jahr unsere größte Schwäche.«
Das elektronische Motormanagement rückt also ins Zentrum der Bemühung der Yamaha-Deutschland-Crew. Und Marcus Eschenbacher, Herr und Wächter über die Motoren, wird eigentlich nie mehr ohne Laptop angetroffen. »Beim einem Vergasermotor gibt es ab einer gewissen Drehzahl kaum noch Möglichkeiten, den Gasfluss weiter zu optimieren«, erklärt er, »da läuft alles längst über die Hauptdüse. Mit dem elektronischen Mapping hast du bei der Einspritzung ein Instrument, das dir sehr genaue Abstimmungen auf die jeweiligen Ansprüche, Umgebungsbedingungen, Streckencharakteristika und erlaubt.«
Vor allem eine spürbar verbesserte und feiner zu kontrollierende Leistungsabgabe im mittleren und unteren Drehzahlbereich sind also die wichtigsten Zwischenergebnisse, die Techniker Eschenbacher in den nur wenigen Wochen, die er bis zu den Jungfern-Testfahrten hatte, an seine beiden Fahrer weitergeben konnte. Auch für mehr Spitzenleistung liefert die Umstellung der Gemischaufbereitung gute Vorlagen. »Natürlich kannst du durch die feinere Abstimmung der Einspritzung und damit gleichmäßigerer Motorbelastung auch im mechanischen Bereich wesentlich näher an die Grenzen der Teile herangehen und damit noch das eine oder andere PS finden.«
Mit exakten Angaben über Spitzenleistung, Drehzahl oder gar Drehmoment tun sich Rennsporttechniker naturgemäß etwas schwer. Aber immerhin liefert der elektronische Drehzahlmesser Angaben bis 16000/min. Und die tatsächliche Leistung dürfte angesichts von annähernd 3000/min mehr als beim 117 PS starken Serienmotorrad nicht mehr sehr weit von der 100-kW(136-PS)-Grenze entfernt sein.
Teamchef Terrell B. Thien hat also allen Grund zum Optimismus: »Gemessen am frühen Stand der Saisonvorbereitung sind wir bereits sehr weit. Von Anfang an kamen beide Fahrer mit dem Fahrwerk unseres neuen Partners WP klar. Bei weiteren Tests, vor allem im Februar in Valencia, wo wir erstmals auf unsere wichtigsten Gegner treffen, werden wir die Einspritzmotoren optimieren. Und dann sollten wir ganz vorn mitspielen können, obwohl unsere Wettbewerber ebenfalls unglaublich aufgerüstet haben.«
Dass in der vom sehr strengen Regelwerk eingezwängten Supersport-Welt selbst allerkleinste Innovationen entscheidend sein können, hat gerade das Yamaha-Deutschland-Team in der Vergangenheit des Öfteren gezeigt. Das Thema des Jahres hier heißt »Betriebswärme«. Zusammen mit der Firma Heat Pro wurden nicht nur völlig neuartige, computergesteuert bis aufs Grad genau zu regelnde Reifenwärmeranlagen entwickelt. Auch die Betriebstemperatur von Gabel, Federbein, Kühlwasser und Motoröl können mittels Heat Pro-Heizgeräten vorbestimmt werden. »Damit gibt es keinen Kaltstart mehr«, erklärt Heat Pro-Boss Dirk Fach, »das lässt dem Motoren-Techniker die Möglichkeit, noch näher an die Grenze zu gehen. Außerdem sind die Maschinen bei Testfahrten oder im Qualifying vom ersten Meter an voll belastbar.«
Weniger belastbar dagegen war der Geheimhaltungszwang der Yamaha-Deutschland-Mannen. Fotos der neuen Renn-R6 in unverkleidetem Zustand wollten sie dann doch nicht zulassen, obwohl beim so streng seriennahen Supersport-Regelwerk unter der Carbonhaut nichts zu entdecken sein sollte, was keiner sehen darf. Aber seien wir geduldig: Wenn am Jahresende eine Yamaha-Deutschland-R6 mit der Nummer eins zum Fahrbericht bereit steht, wird sie wohl auch mal kurz ihr Kleid lüften, und alles war gut.
Konkurrenz belebt das Geschäft - Yamaha YZF-R6-Supersport-Rennmaschine
Nicht nur Yamaha, sondern vor allem Honda und Kawasaki rüstet für die Supersport-WM in nie da gewesener Weise auf. Die 600er-Klasse rückt in den Blickpunkt der großen Hersteller.
Yamaha war nach überaus erfolgreichen Supersport-Jahren 2000 (Weltmeister Jörg Teuchert) und 2001 (Markenweltmeister) in der letzten Saison mit der R6 gegenüber den neuen Rennern von Honda und Suzuki mit ihren Einspritzer-Triebwerken etwas zurückgefallen. So war die neue Einspritz-R6 nur eine logische Entwicklung.Aber auch in der Supersport-WM schläft die Konkurrenz nicht. Die neue Kawasaki ZX-6RR und insbesondere die Honda CBR 600 RR bleiben in Sachen radikale Rennsport-Basis in keiner Weise hinter der R6, Jahrgang 2003, zurück, die neben Yamaha Deutschland auch von den Belgarda-Fahrern Jamie Whitham und Jürgen van der Goorbergh eingesetzt wird.Vor allem die Honda zeigt allerbeste Anlagen. Der deutsche Supersport-Meister Michael Schulten sieht sich nach seinem ersten Kontakt im portugiesischen Estoril mit der Renn-CBR seines neuen Alpha-Technik-Teams in seinem Wechsel von Yamaha zu Honda bestätigt. »Nach der sehr erfolgreichen und auch sonst ganz hervorragenden Zusammenarbeit in den letzten Jahren mit Yamaha-Händler Theo Laaks kam meine Entscheidung für die Honda CBR 600 RR ja ziemlich spontan, als ich sie zum ersten Mal auf der Intermot in München gesehen habe«, so der Champion, »aber jetzt zeigt sich, dass dies wohl richtig gewesen sein könnte. Die CBR in der Rennversion ist derart kompromisslos, wie ich es bisher aus der Supersport-Klasse nicht kannte - schon in der reinen Kit-Version, an die unser Cheftechniker Thomas Franz noch nicht Hand angelegt hat.«Bedauerlich ist nur, dass Schulten, der als einer der ersten die Supersport-CBR RR erleben durfte, wohl höchstens in Oschersleben im Juni als Wild-Card-Fahrer an einem WM-Rennen teilnehmen wird. Den Honda-Flügel in der gesamten WM-Saison hochhalten werden dagegen: Ten Kate-Honda mit Chris Vermeulen (AUS) und Karl Muggeridge (AUS), Van-Zon-TKR-Honda mit Iain MacPherson (GB) und Werner Daemen (B), BKM-Honda mit Broc Parkes (AUS) und Christophe Cogan (F) sowie das österreichische Klaffenböck-Team mit Kevin Curtain (AUS) und Robert Ulm (A), das originellerweise mit Yamaha Deutschland das Verpflegungszelt teilt.Die Nummer eins des Weltmeisters nahm Fabien Forêt (F) mit zu Kawasaki, wo er auf seinen alten Ten-Kate-Kollegen Pere Riba (E) trifft. Und das unveränderte Suzuki-Duo Katsuaki Fujiwara (J) und Stéphane Chambon (F) sieht sich, wie die Yamaha-Helden im Vorjahr, ohne brandneues Material trotz des Marken-WM-Titels 2002 plötzlich in der Defensive.