Supersportler im Härtetest
8-Stunden-Tag

Acht Stunden volle Pulle. Der ganz normale, tägliche Wahnsinn. Für Arbeitnehmer zumindest. Für serienmäßige Supersportler jedoch eher die Ausnahme. MOTORRAD rief den Ausnahmezustand aus – im europäischen Verein.

Vollgas. Acht Stunden lang. Wie so oft begann alles mit einer Reihe mehr oder weniger gewagter Prognosen. Wie zum Beispiel: »Die R6 packt das nie, mit dem Getriebe.« Oder: »Ich wette, die Bremsen der GSX-R machen schlapp.« Die einen behaupteten, daß die CBR am meisten Kilometer abspulen würde, die anderen setzten auf die 748 SPS. Und irgendwann mußte die Sache eben ausgefahren werden, mit Lichtschranken, Stoppuhren und allem drum und dran. Schließlich sind wir Sportler. Immer bereit, immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen.
Am Start die gesamte aktuelle Supersportklasse, sprich: Ducati 748 SPS, Honda CBR 600 F, Kawasaki ZX-6R, Suzuki GSX-R 600 und Yamaha R6. Dazu 14 rennstreckenerprobte Piloten aus sechs europäischen Ländern. Austragungsort ist einmal mehr die Rennstrecke im spanischen Calafat. Hausstrecke der Redaktion MOTORRAD, Schlachtfeld zahlreicher Duelle mit meist glimpflichem Ausgang.
Die Regeln für diesen Wettstreit sind recht einfach. Acht Stunden volle Pulle im Kreis herum. Jede halbe Stunde wird die Raserei zum Tanken und Fahrerwechsel kurz unterbrochen, und weiter geht’s. Während der Boxenstops stehen die Uhren still. Nur die reine Fahrzeit wird penibelst durch ein professionelles Zeitnahme-Team festgehalten. In den Pausen zwischen den Turns muß jeder Fahrer einen Bewertungsbogen ausfüllen.
Im Namen der Chancengleichheit wird unisono auf Reifen der Marke Pirelli Dragon EVO gefahren. Und zwar in Standardmischung – der längeren Lebensauer wegen. Um das Risiko einer Eskalation mit Selbstzerstörungs-Effekt so gering wie möglich zu halten, bleiben die Rundenzeiten bis nach Feierabend das streng gehütete Geheimnis der Zeitnahme-Mannschaft. Zudem wird im Zehn-Sekunden-Abstand gestartet. Und zwischendurch immer wieder die mahnenden Worte von Augusto Moreno de Carlos, Chefredakteur unserer spanischen Schwesterzeitschrift Motociclismo und Schirmherr dieser Veranstaltung: »Remember, it’s not a race, it’s a test.«
No Problem, Augusto. Wir haben verstanden. Franzosen, Schweden, Norweger, Italiener, Spanier, Deutsche, alle wissen, worum es geht, geben ihr Bestes und sorgen – welch kleines Wunder – bis zum Abend auch nicht für die allerkleinste Verstümmelung der Testmotorräder. Die Fahrer hier im einzelnen näher vorzustellen, würde den Rahmen dieser Geschichte leider sprengen. Dem geneigten Leser sei an dieser Stelle aber versichert, daß es sich um eine illustre Sammlung europäischer Testprofis handelt.
Auf deren Erfahrung und Beurteilungsvermögen stützt sich auch die Benotung der fünf Probanden in der Bewertungstabelle auf Seite 58. Abgesehen von dieser individuellen Einschätzung beschränken sich alle weiteren Ergebnisse dieses Tests auf reine Meßwerte. Drei Lichtschrankenmessunungen an verschiedenen Streckenabschnitten machen deutlich, wie eng es in der Supersportklasse zugeht. Sowohl im Topspeed als auch bei den Messungen Ausgangs der beiden Schikanen, die Rückschlüsse aufs Handling ziehen lassen, zeigen sich nur geringe Unterschiede. Gleiches gilt für die schnellste, noch mehr aber die durchschnittliche Rundenzeit aller Fahrer. Einzig die Yamaha R6 setzt sich immer wieder einen Tick von ihren Verfolgern ab. Und dieser Tick genügt, um ihr einen Sonderplatz in diesem Feld einzuräumen.
Die R6 als moralischer Sieger – Balsam für die in vergangenen Tests doch stark gebeutelte Sportler-Seele. Jetzt ist endlich raus, was schon immer zwischen den Zeilen zu lesen war: Die Yamaha R6 ist ein kompromißloses Heizgerät, das sich vor keiner sportlichen Herausforderung drücken muß. Am unglücklichen Umstand, daß sie mit dem schlechtesten Getriebe der Neuzeit gestraft ist, kann dieser Sieg allerdings nichts ändern. Aber – es hat gehalten. Überhaupt hat alles gehalten: das Getriebe der Yamaha, die Bremsen der GSX-R. Es gab keinerlei Ausfälle.
Falls es Sie interessiert wer diesmal die schnellsten Runden gedreht hat: Fernando Cristóbal, der für Motociclismo Spanien startete, Stefan Coutelle von der französischen Zeitschrift Moto Journal sowie die beiden MOTORRADler Markus Barth und Gerhard Lindner. Vier Herren, die sich im Lauf dieser Saison gewiß noch gern an die Zeiten erinnern werden, in denen der Tag nur acht Stunden hatte. Wieso, erfahren Sie ab Seite 206 in diesem Heft.

Unsere Highlights

Ducati 748 SPS - Die große Unbekannte

Sie war die große Unbekannte bei diesem Stelldichein. Als SPS-Version mit besonderen Fähigkeiten gerüstet, wurden der Ducati allerdings beste Chancen beim erbarmungslosen Schlagabtausch auf der Rennstrecke eingeräumt. Über alle Zweifel erhaben: das Fahrwerk. Wo sind nur die Wellen und Löcher hingekommen, die bei den anderen Maschinen so deutlich zu spüren waren? Die Ducati bügelt die Piste einfach glatt. Beste Dämpferelemente und eine für die Rennstrecke nahezu perfekte Abstimmung flößen Vertrauen ein. Gleichgültig, wie eng der Kurvenradius gewählt wird, die SPS folgt der anvisierten Linie wie die Eisenbahn den Schienen. Und wenn der Radius falsch gepeilt wurde, genügt eine leichte Korrektur, um die Welt wieder ins Lot zu bringen. Dieses Fahrwerk ist an Stabilität kaum zu überbieten. Einziger Nachteil: In den Schikanen muß mit ordentlich Kraft nachgeholfen werden, um die rassige Italienerin zum blitzschnellen Schräglagenwechsel zu zwingen. Sogar die Bremsen zeigen sich in ungewöhnlich guter, sprich bissiger und standfester Verfassung.Der Motor? Eine Wucht. Direktes Ansprechen dank Einspritzung, Beschleunigen in größter Schräglage dank Zweizylinder-Power und eine für diesen Kurs recht gut passende Übersetzung, die häufige Gangwechsel überflüssig macht, das sind die Stärken des V2.Dennoch: Der große Durchbruch gelingt der Ducati nicht ganz. In der Summe der Bewertung aller 14 Testfahrer kann sie sich »nur« bis auf den zweiten Rang nach vorne schieben. Gleiches gilt für die schnellste und die insgesamt gefahrenen Runden.

Honda CBR 600 F - Die erste Überraschung

Ein wahres Multitalent, diese CBR. Nicht umsonst als Siegerin des Vergleichstests in MOTORRAD 26/1998 gekürt. Hier aber tut sie sich trotz unerreichten Handlings etwas schwer. Mit einer Rundenzeit von 1.36,24 gibt’s statt Lorbeer die rote Laterne. Wie kann das sein? Schließlich war sie beim letzten Aufeinandertreffen genau auf der gleichen Strecke deutlich besser bei der Musik. Ein Grund: die Bereifung. Der neue Pirelli Dragon EVO in Standardmischung macht auf der CBR einen zu harten Eindruck. Wobei nicht die Härte der Gummimischung, sondern die der Karkasse gemeint ist. Auf den kurzen Wellen am Kurvenausgang rubbelt die Hinterhand beim Gasanlegen ständig weg. Problem Nummer zwei: mangelnde Bodenfreiheit. Richtig peinlich dabei ist, daß es nicht etwa der praktische Hauptständer ist, der den Asphalt zerfurcht, sondern der stählerne Auspufftopf. Höhenverstellung? Is nich. Zumindest nicht ohne Bastelarbeiten. Und die sieht das Reglement nicht vor.Ein echtes Sahnestück ist der Motor. Vor allem im mittleren Drehzahlbereich weiß er zu begeistern und erspart, wie der Ducati-V2, seinem Piloten so manches Schaltmanöver. Das ist auch gut so, denn gelegentlich rastet der vierte Gang beim hektischen Schalten nicht ganz sauber ein, und es muß nachgetreten werden. Alles in allem ergattert die Honda aber immerhin den dritten Platz in der Beliebtheitsskala.

Kawasaki ZX-6R - Schnell, aber nicht top

Wer zu Anfang dieses Härtetests auf die Kawasaki gewettet hat, lag schief. Wehrt sich der giftgrüne Renner mit der zweitbesten Runden- und Durchschnittszeit noch erfolgreich gegen die aufsässige Konkurrenz, fällt er in der persönlichen Beurteilung der 14 Geschworenen eiskalt hinten über. Es scheint, als sei das Testmotorrad nicht mit der nötigen Liebe vom spanischen Importeur aufgebaut worden. Denn diese ZX-6R zeigt sich vom Motor her ungewöhnlich schwachbrüstig. Vor allem im mittleren Bereich fehlt es an Schubkraft. Der Versuch, dieses Manko einfach durch höhere Drehzahlen auszugleichen, scheitert allzuoft am einsetzenden Begrenzer.Ebenfalls nicht gerade in Topform zeigt sich das Fahrwerk. Unpräzise einzulenken, dauert es, bis man sich eingeschossen hat. Zudem setzt der Auspuff in Rechtskurven ziemlich hinterhältig auf, und die Gabel geht beim Bremsen früh auf Block. Die Bremsanlage selbst ist für Kawasaki-Verhältnisse eher schlapp geraten: Wenig Biß und ein schon nach vier, fünf Runden nach hinten wandernder Druckpunkt stören das Vertrauensverhältnis zwischen Mensch und Maschine. Zu allem Überfluß reagiert die ZX-6R ähnlich bockig wie die CBR auf die gewählte Pirelli-Paarung. Schade, da wäre mehr drin gewesen.

Suzuki GSX-R 600 - Unauffällig aber erfolgreich

Weder verwöhntes Glamourgirl noch umschwärmter Superstar: Die Suzuki GSX-R 600 ist ein richtiges Arbeitstier. Strebsam, unauffällig aber erfolgreich. Sie war es, die 1998 den Titel im heiß umkämpften Supersport-World Cup nach Hause trug. Dank ihrer ausgewogenen Talente.Auch hier in Calafat überzeugt die GSX-R. Vor allem durch ihr gutmütiges Fahrwerk, wobei besonders die sehr fein ansprechende, sportlich straff abgestimmte Gabel zu loben ist. Die Hinterhand dürfte dagegen ruhig noch etwas straffer sein, damit das Heck bei schneller Kurvenfahrt nicht so tief einsackt. Das zieht Einbußen in Sachen Handlichkeit nach sich, und davon hat die Suzuki eh nicht gerade im Überfluß. Recht schwerfällig lenkt sie ein und muß mit Kraft durch die Schikanen gewuchtet werden. Überraschend: die Bremsen der spanischen Test-GSX-R. Keine Spur von nachlassender Wirkung. Andere Länder, andere Bikes.Was den Motor anbelangt wird die GSX-R von der gleichen Schwäche geplagt wie die ZX-6R: wenig Druck in der Mitte. Allerdings kann die Suzi dieses Manko durch ihre erfrischende Drehfreude nahezu wettmachen.

Yamaha R6 - Die säte Rache der R6

248 Runden Vollgas in 6 Stunden, 55 Minuten und 53 Sekunden bedeuten nicht nur das beste Rundenergebnis knapp vor der Ducati. Die Yamaha hat das Kunststück fertiggebracht, sowohl die schnellste Einzelrunde (durch Fernando Cristóbal) als auch den schnellsten Rundendurchschnitt auf sich zu vereinen. Zudem hat sie bei zwei von drei Topspeedmessungen die Nase vorn und zuletzt auch noch in der Beliebtheitsskala.Aber wie bitte ist das möglich? Warum fährt die R6 bei diesem Test so mir-nichts-dir-nichts alles in Grund und Boden? Nun – erstens präsentiert sich die von den schwedischen Freunden mitgebrachte Yamaha R6 konditionell in ausgesprochen guter Verfassung. Mit mächtig Dampf bereits knapp über Drehzahlmitte schiebt das Triebwerk bis weit über die 14000er Markierung herzerfrischend an. Erst kurz vor dem Begrenzer bei 15500/min wirkt die R6 ein wenig lustlos, was sie aber nicht daran hindert, sich ab und an mit selbigem in die Wolle zu kriegen.Zweitens macht das Fahrwerk während der gesamten acht Stunden keinerlei Probleme: unbegrenzte Schräglagenfreiheit, prima Abstimmung, beste Bremsen, exzellente Verträglichkeit mit der Bereifung und eine aggressive Sitzposition wecken blindes Vertrauen in die Fähigkeiten der Yamaha. Nur das Getriebe, das ist und bleibt eine Katastrophe. Die einhellige Meinung der Testcrew zu den abartigen Schaltgeräuschen: »Nur gut, daß es nicht meine ist«.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023