Das Gesamtprojekt wurde gestoppt. Doch der Motor für den MotoGP-Einstieg von KTM läuft bereits auf dem Prüfstand. Nur fehlt dem angehenden Star ein Platz auf der WM-Bühne.
Das Gesamtprojekt wurde gestoppt. Doch der Motor für den MotoGP-Einstieg von KTM läuft bereits auf dem Prüfstand. Nur fehlt dem angehenden Star ein Platz auf der WM-Bühne.
Es gibt Entscheidungen, die von
Ereignissen überrollt werden. So auch die von KTM-Chef Stefan Pierer,
mit einem eigenen Motorrad in den Olymp des Motorrad-Grand-Prix-Sports, die MotoGP-Klasse, aufzusteigen. Getroffen vor eineinhalb Jahren, musste sie im Juli 2003 revidiert werden. Die wirtschaftliche Entwicklung zwang dazu (siehe Interview Seite 126). Dennoch besteht bis dato kein Grund zur Resignation. Das Motorenprojekt liegt nämlich noch lange nicht auf Eis. Es ist im Gegenteil schon relativ weit gediehen.
Im September 2002 hatte Projekt-
leiter Kurt Trieb mit sieben Ingenieuren bei null begonnen und bis Weihnachten bereits den Entwurf abgeschlossen. Trotz des Stopps des Gesamtprojekts im Juli letzten Jahres existieren heute fünf komplette Triebwerke, die derzeit die ersten Schleppversuche die Funktionen werden mittels eines Elektromotors getestet absolvieren und in den nächsten Tagen zum Leben erwachen sollen. Denn auch wenn der Traum vom eigenen MotoGP-Team Geschichte ist, könnte das Triebwerk zumindest in Kundenhand den Einzug in die Königsklasse halten.
Von einem dieser Exemplare konnte sich MOTORRAD vorab einen ersten
Eindruck verschaffen, und der überzeugt. Auf dem Montagebock im Werk in Mat-
tighofen präsentiert sich ein kompakter
V4 mit 75 Grad Zylinderwinkel. Für die Zylinderzahl hat Kurt Trieb folgende
Argumente: »Ein Dreizylinder war nie im Kalkül, weil der Motor zu groß ausge-
fallen wäre. Der Fünfzylinder hat einen
zu hohen Verbrauch, wie man in der
Saison 2003 bereits an der Honda
RC 211 V von Weltmeister Rossi sehen konnte, zumal die FIM für 2005 die Reduzierung des Tankvolumens von 24 auf
22 Liter angekündigt hat. Für uns bot der Vierzylinder den besten Kompromiss.«
Der Zylinderwinkel von 75 Grad ergab sich analog zum hauseigenen LC8-
Zweizylindermotor fast von selbst. Diese Konfiguration benötigt nach Meinung der KTM-Konstrukteure den geringsten Einbauraum. Der Nachteil: Die freien Massenkräfte erster Ordnung sind im Gegensatz zur 90-Grad-Konfiguration nicht vollständig ausgeglichen. Deshalb rotieren links und rechts unterhalb der Kurbelwelle zwei Zahnräder, welche beruhigende Ausgleichsgewichte tragen.
Auffällig am Prototyp ist das klare
Erscheinungsbild. Bis ins letzte Detail
sauber verarbeitet, ohne das übliche Gewirr von Wasser- und Ölschläuchen, wirkt der Rennmotor wesentlich aufgeräumter als moderne Serienvierzylinder oder die Aggregate der MotoGP-Konkurrenz. Aus folgenden Gründen: Die Wasserkanäle sind in das gegossene, horizontal geteilte Motorgehäuse integriert. Dessen Ober-
teil bildet mit den Zylindern eine Ein-
heit. Zudem verfügt der V4, obwohl es beim Betrachten anders aussieht, über eine Trockensumpfschmierung. Tatsächlich handelt es sich bei der unter dem
Motor montierten »Ölwanne« aus Kohlefaser um einen separaten Öltank.
Wasser- und Ölpumpen sitzen auf
einer gemeinsamen Welle unter der Kurbelwelle. Kurt Trieb hat für diese Lösung eine gute Begründung. »Zum Tausch des Triebwerks müssen bei unserem Motor nur die Anschlüsse von Wasser- und
Ölkühlern gelöst werden.«
Bei der Ventilsteuerung setzt KTM ebenfalls auf Hightech. Die Kurbelwelle treibt über Zahnräder die beiden oben
liegenden Nockenwellen pro Zylinderbank an. Die Nockenwellen betätigen die jeweils vier Titanventile über Schlepphebel und pneumatische Ventilfedern. In der pneumatisch unterstützten Ventilsteuerung bei der die herkömmlichen Ventilfedern durch ein hoch komprimiertes Luftpolster ersetzt werden sieht
der Projektleiter gravierende Vorteile. So bietet das Triebwerk in puncto Dreh-
zahl enorme Reserven. Die maximale Leistung soll bei 15500/min anfallen, die
maximale Drehzahl bei 17500/min liegen. Doch viel entscheidender ist das breite nutzbare Drehzahlband von 7000 bis 16500/min. Der Trick: Trotz kurzer Öffnungsdauer der Ventile lassen sich durch die geringe Masse des Ventiltriebs große Ventilhübe erzielen. Derart extreme Ventilerhebungskurven können Stahlfedern nicht leisten. Als Druckluftspeicher dient ein Behälter aus Kohlefaser, der im V
zwischen den Zylindern sitzt.
Zu den Abmessungen von Bohrung und Hub verrät der Ingenieur nur, dass deren Verhältnis etwa in der Mitte zwischen modernen 1000er-Sportmotoren und Formel-1-Triebwerken liegt. MOTORRAD vermutet: 47 Millimeter Hub bei
82 Millimeter Bohrung. Stilecht stammen Kolben und Titanpleuel des österreichischen Aggregats aus heimischer Fertigung, und zwar von den Zulieferern Pankl und Elko.
Auch das Kassettengetriebe weist
Besonderheiten auf. Um Baulänge zu sparen, liegt die Getriebeeingangswelle mit der Mehrscheiben-Trockenkupplung unterhalb der Kurbel- und Getriebeausgangswelle. Zudem fehlen die in Seriengetrieben üblichen Schieberäder. Leichte Schiebemuffen stellen den Formschluss zwischen den Losrädern und den Getriebewellen her. Der Vorteil: noch schnellere Schaltvorgänge, die in Zukunft vielleicht sogar von einer Pneumatik ausgeführt werden könnten.
Unübersehbar trägt die Konstruktion die Handschrift der Formel 1. Die Form der Lufttrichter mit länglichem, strömungsgünstigem Querschnitt, die pneumatisch unterstützte Ventilsteuerung und nicht zuletzt die Trockensumpfschmierung finden sich bei den meisten Zehnzylindern in
der vierrädrigen Königsklasse wieder. Ein Gebiet, auf dem sich Kurt Trieb bestens auskennt. Vor seiner Mattighofener Zeit war er in die Konstruktion des BMW-
Formel-1-Triebwerks involviert.
Doch im Vierrad-Oberhaus herrschen andere Gesetzmäßigkeiten als in der Zweirad-Oberliga. So liegt der Volllastanteil während einer Rennrunde bei
MotoGP-Raketen weit unter dem der automobilen Fraktion. Die Leistungscharakteristik im Teillastbereich spielt für eine gute Fahrbarkeit dagegen eine erheblich größere Rolle. Um dieser Rechnung zu tragen, holte sich KTM mit Warren Wil-
ling einen weiteren Experten ins Team. Der bildet mit seiner jahrzehntelangen GP-Erfahrung, unter anderem im Suzuki-Werksteam, praktisch das Verbindungsglied zwischen Prüfstand und Rennstrecke, Konstrukteur und Fahrer.
Elektroniklieferant ist die Firma TAG, in der Formel 1 ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt. Sie sorgt für das Motormanagement. Die Einspritzdüsen und die geradezu winzige Lichtmaschine steuert die im Motorrad- und Formel-1-Sport erprobte Firma Magneti Marelli bei. Zwei Einspritzventile pro Zylinder, je eine im Saug-
rohr, die andere über den Lufttrichtern, bieten ein größeres Entwicklungspoten-
zial als vier einzelne. Gestartet wird über
einen externen Anlasser, der an einem Mitnehmer an der Kurbelwelle angreift.
Wie viele der pfiffigen Einzellösungen zeugt die Gesamtkonstruktion von einer Menge Know-how und großer Liebe zum Detail. Da scheint es nicht übertrieben, wenn Entwicklungsleiter Wolfgang Felber ins Schwärmen gerät: »Unser MotoGP-Motor ist vom Layout her der modernste Motorradmotor.« Und der hat auf jeden Fall eine faire Chance im Grand-Prix-Sport verdient. Nicht auszudenken, wenn so viel persönliches Engagement und die Entwicklungskosten von bisher vier Millionen Euro umsonst wären, dieses Sahnestück des Maschinenbaus ungenutzt in einer Glasvitrine verschwinden würde. Doch einige Teams scheinen schon Interesse bekundet zu haben, zumal die
momentane Messlatte in der MotoGP-Technik von 240 PS Spitzenleistung vom KTM-Projekt locker genommen wird.
Stefan Pierer, studierter Betriebs- und
Energiewirtschaftler, übernahm KTM 1991 als Sanierer. Mittlerweile hat der 47-jährige Österreicher den Betrieb mit 1500
Mitarbeitern zur
Nummer zwei unter den europäischen
Herstellern hinter BMW gemacht.
Herr Pierer, im letzten Jahr ist KTM mit
einer 125er in den Grand-Prix-Sport eingestiegen, und Ihr Plan war, ab 2005 auch in der MotoGP-WM mitzumischen. Im Sommer 2003 haben Sie das V4-Projekt jedoch überraschend gestoppt. Warum?
Die Emotion sagt zu 150 Prozent ja, die kaufmännische Vernunft nein. Es wäre schade, den ganzen Erfolg von KTM in den letzten zwölf Jahren jetzt aufs Spiel zu setzen. Wenn wir im MotoGP-Sport wettbewerbsfähig sein wollen, würde das ein Budget von 15 Millionen Euro erfordern. Dieses Geld werden wir künftig brauchen, um den Marktanteil von KTM in den USA zu halten, wo die Bedingungen immer schwieriger geworden sind.
Das heißt, aufgrund des starken Euro wird die Gewinnspanne in den USA immer geringer?
Ja. Aber insgesamt können wir nicht klagen. Wir haben im letzten Geschäftsjahr knapp 71000 Motorräder verkauft. Ich glaube, dass wir das profitabelste europäische Motorrad-Unternehmen sind. Vor zwölf Jahren haben wir mit 6000 Motorrädern angefangen.
Zurück zum MotoGP-Motor. Es war zu
hören, dass Sie bis jetzt schon 13 Millionen Euro in den V4-Viertakter investiert haben.
Nein, die Zahlen sind falsch. Die
Entwicklung des MotoGP-Projektes hat bis dato in etwa vier Millionen Euro gekostet. Bis der Motor im März einbaufertig ist, werden es fünf Millionen sein.
Was passiert nun mit dem Triebwerk?
Wir sind überzeugt, dass wir als Motorenlieferant vielleicht mit dem einen oder anderen Team ein Paket schnüren können.
Wäre das Proton-Team von Kenny Roberts eine Möglichkeit?
Das wäre interessant. Die großen Werksteams werden nicht auf einen Zugang warten. Wir müssen uns herandienen. Wir geben das Projekt aber nicht auf. Was uns hier gelungen ist, ist es wert, es ganz intensiv und seriös zu verfolgen.
Sie haben eigens Spezialisten für die Entwicklung des MotoGP-Projekts engagiert. Stehen diese Leute bald auf der Straße?
Wir haben da auf einen Schlag 18 Viertakt-erfahrene Techniker bekommen, das ist wie eine Frischzellenkur für unsere gesamte Entwicklung. Diese Leute haben das Zeug, auch andere Motoren zu bauen. Sie
arbeiten jetzt an unseren jüngsten Serienprojekten, darunter einem neuen 250er-Einzylinder-Viertakter für den Offroad-Sport.
Wie hoch ist das KTM-Budget für den Rennsport?
Wir geben im Jahr rund fünf Prozent unseres Umsatzes für den internationalen Werks-Rennsport aus.
Das sind demnach knapp 19 Millionen Euro. Wo liegen die Schwerpunkte?
Wir werden unsere Wurzeln natürlich nicht verlassen, und die liegen nun mal im Geländesport, wo wir die ganze Bandbreite von Motocross über Enduro bis hin zur
Paris-Dakar abdecken. Dazu kommt Supermoto. Auf der Straße ist KTM mit dem 125er-Grand-Prix-Team präsent, außerdem gibt es ein Junior-Team für die 125er-IDM.
Mit der 990 RC8 haben Sie bald ein supersportliches Straßenmotorrad im Programm. Wird die Superbike-WM künftig ein Thema für KTM?
Das möchte ich nicht ausschließen, aber auf der Straße konzentrieren wir uns derzeit klar auf die 125er-WM.
Vergangenen Winter haben Sie stolz den 41 Fahrer umfassenden Werks-Kader für 2003 präsentiert. Wird KTM 2004 wieder mit so einem gewaltigen Tross antreten?
In diesem Jahr sind es 38 Werksfahrer, ich habs genau durchgezählt. Lediglich in der 450er-Topklasse im Motocross haben wir etwas reduziert.
Fährt KTM auch 2004 in der Motocross-WM-Topklasse zweigleisig, das heißt mit der 250er-Zweitakter und der 450er-Viertakter?
Nein, die beiden Werkspiloten Steve Ramon und Kenneth Gundersen werden dort mit dem Viertakter starten.
Warum?
Leider werden die Zweitakter wahrscheinlich in den nächsten Jahren im Motocross verschwinden. Das Reglement wurde
in einer Zeit verabschiedet, als KTM noch nicht den Einfluss bei den Sportbehörden
und unter den Herstellern hatte. Da hat man zu wenig gedacht. Inzwischen haben die
Japaner kapiert, dass sie ihre Zweitakter umgebracht und die Kosten bei der Entwicklung verdoppelt haben. Wir geben dem Zweitakter im Hobby-Rennsport aber nach wie vor eine Chance, weil er preiswert ist. Ein 16- oder 18-Jähriger kann sich keinen Hightech-Einzylinder-Viertakter leisten und instand halten das kostet ein Vermögen.
Im Gegensatz zu den japanischen Herstellern hat KTM das Image einer großen Familie, was sich unter anderem in eigner Lifestyle-Bekleidung ausdrückt. Wie wichtig sind solche Aktivitäten?
Sehr wichtig. Der Umsatz von Power Wear, sprich Bekleidung, beträgt ungefähr vier Millionen Euro pro Jahr. Bei den Power Parts, also dem Technikzubehör, liegt er zwischen acht und zehn Millionen. Das ist schon ein richtiger Haufen Holz. Und KTM-Adventure-Tours ist der weltgrößte Motorradreisen-Veranstalter.
Das Interview führten die Redakteure
Lothar Kutschera und Waldemar Schwarz