Technik: MV Agusta F4-750

Technik: MV Agusta F4-750 Genie und Wahnsinn

...liegen oft eng beieinander, so auch beim Entwurf der neuen MV Agusta: sie bietet geniales Design und aufsehenerregende Technik zu einem Wahnsinnspreis.

Eine Traube die hoch hängt -so urteilte Ernst Leverkus 1972 in seinem ersten Fahrbericht über die MV Agusta 750 S -ein Motorrad, das technisch wie optisch die ruhmreiche Renngeschichte reflektierte. Tatsächlich war der Preis des italienischen Edelmetalls mit zirka 13000 Mark doppelt so hoch wie der einer vergleichbaren Honda-Vierzylinder CB 750.
Ein gutes Vierteljahrhundert später schickt sich erneut ein 750er Vierzylinder mit dem ruhmreichen Namen an, die Historie zu beleben. Die neue F4 kostet mit 50 000 Mark sogar das 2,6 fache des sportlichsten Vierzylinders der 750er-Klasse, der Suzuki GSX-R 750. Und natürlich muß sich auch diese MV die Frage gefallen lassen, ob sie ihrem Namen gerecht wird und dem Vergleich mit der aktuellen Konkurrenz stand hält.
Zumindest in punkto Attraktivität votierten die Besucher des Mailänder Salons mit ihrer überwältigenden Präsenz am MV-Stand einstimmig für das neue Superbike, dessen Design von einem gewissen Massimo Tamburini stammt. Der hatte schon immer eine starke Beziehung zu den rot-silbernen Rennern von MV Agusta: Bereits anfangs der 70er Jahre modifizierte er eben jene 750 S nach seinen Vorstellungen.
Damals war er in einer höchstens lokal renommierten Heizungsfirma in Rimini beschäftigt, deren Namen sich aus den Initialen der drei Geschäftsführer Bianchi, Morri und Tamburini zu Bimota zusammensetzte. Und der Motorrad-Enthusiast Tamburini gründete aus Begeisterung und mangelndem Vertrauen in japanische Fahrwerke -er war 1973 mit einer Honda 750 in Misano gestürzt - einen heute weltbekannten Geschäftszweig. Noch im gleichen Jahr begann Bimota in Kleinserie exklusive Fahrwerke als Ersatz für die eher unterdimensionierten japanischen Chassis zu bauen. Aber auch Grand-Prix-Fahrer wie Jonny Cecotto, Walter Villa, John Ekerold und viele andere ernteten mit den Produkten aus Rimini Siegeslorbeer. 1985 wechselte Tamburini zu Cagiva/Ducati, und 1993 bat ihn Claudio Castiglioni das Cagiva Research Center in San Marino zu übernehmen.
Bereits durch spektakuläre Entwürfe im Gespräch, verschaffte er sich mit der Ducati 916 endgültig internationales Renomee. Deren Linie wollte er mit der F4 nicht etwa kopieren, sondern im Sinne seiner Designphilosophie konsequent weiterentwickeln. Auch technisch um Kontinuität und Originalität bemüht kombinierte er für den Cagiva-Reihen-Vierzylinder einen Gitterrohrrahmen aus Chrom-Molybdänstahl mit Gußteilen aus Magnesium für die Schwingenlagerung. Wie bei vielen genialen Konstruktionen fehlt allerdings die letzte Konsequenz: Die Lagerung der Schwinge im Motorgehäuse wie bei einigen Hondas und Ducatis hätte die aufwendigen Gußteile erspart.
Unbestritten zeugen viele Bauteile von hohem konstruktiven Aufwand. So sind die speziellen Sechskolbenzangen von Nissin mit drei unterschiedlichen Kolbendurchmessern für gleichmäßigen Belagverschleiß versehen. Das Vorderrad mit den im Durchmesser üppig dimensionierten, aber dünnwandigen Radachsen ruht in Schnellverschlüssen der 49er Upside-Down Gabel von Showa. Eine weitere Besonderheit: Der von Pirelli und Michelin speziell für MV produzierte Vorderreifen der einmaligen Dimension 120/65-17 soll laut Aussage der Entwickler den besten Kompromiß in Sachen Handling und Dämpfung bieten. Ungewöhnlich auch die Hinterradaufhängung: Die Einarmschwinge aus Magnesium mit integriertem Kettenschacht und exzentrischer Kettenspannung ist dank moderner Konstruktionsmethoden extrem leicht. Auch das Hinterrad trägt eine Achse mit opulentem Durchmesser, aber geringer Wandstärke. Vergleichsweise winzige Radlager sparen Bauraum und Gewicht. Auch bei näherer Betrachtung fällt auf, daß die Konstrukteure buchstäblich um jedes Gramm und jeden Millimeter gerungen haben. So sind die Handhebel gekröpft, um die Ausgleichsbehälter für Bremse und Kupplung tiefer plazieren zu können. Gut für die extrem flache Verkleidungsscheibe.
Die Liebe zum Detail spiegelt sich auch in den verstellbaren Fußrasten und Hebeln wieder, die wie die Ellipsoid-Scheinwerfer und weitere technische Feinheiten durch zahlreiche Patente oder Gebrauchsmuster geschützt sind. Dies alles trägt zum außergewöhnlichen stilistischen Gesamteindruck bei. Und selbst wenn Suzukis GSX-R aus dem gleichen Hubraum mehr Leistung quetscht und Yamahas neue R1 mit Soziusausrüstung und einem vollen Liter Hubraum die MV im Trockengewicht um glatte drei Kilogramm unterbietet - die Ausstrahlung der neuen MV können sie trotz aller Perfektion nicht bieten.
Dieses gewisse Etwas hat weltweit bereits 200 Motorradverrückte in den ganz normalen Wahnsinn getrieben. Die limitierte erste Serie »d’oro« für 1998 ist bereits ausverkauft. Doch auch weniger betuchte Enthusiasten sind nicht außer Gefahr. 1999 ist der Anlauf der Großserie geplant. Mit Aluminium statt Magnesiumteilen bestückt soll eine Mono- oder Biposto dann rund 30000 Mark kosten. Immer noch genug für schlaflose Nächte, oder?

Motorentechnik der MV Agusta F4-750

Die Zielsetzung für den neuen Cagiva-Motor formulierte Claudio Castiglioni zu Beginn der Entwicklung eindeutig: Das Triebwerk sollte der kompakteste und leistungsstärkste Vierzylinder seiner Klasse werden, gerade gut genug für eine zukünftige Superbike-WM-Maschine. Tatsächlich wirkt das in Varese entstandene Aggregat mit seinen eng um den Motor geschlungenen Gehäusedeckeln und der hinter den Zylindern liegenden Lichtmaschine vergleichsweise zierlich. Doch im direkten Vergleich haben die japanischen Entwickler bei ihren neuesten Kreationen die Nase bereits wieder vorn. Der Trend zum seitlichen Antrieb der Nockenwellen spart im Gegensatz zum mittigen der F4 durch Wegfall eines Kurbelwellenlagers Baubreite und Reibung. Auch die Möglichkeit geringer Baulänge durch schräg oder direkt übereinander liegende Getriebewellen wie bei Suzukis GSX-R oder Yamahas R1 haben die Konstrukteure mit den hintereinander liegenden Getriebewellen nicht genutzt. Doch in zwei Punkten hebt sich das Kraftwerk konstruktiv von der Konkurrenz ab. Mit 73,8 Millimeter Bohrung und 43, 8 Millimeter Hub hat es die kurzhubigste Auslegung. Bei folgenden Modellen stocken 52 Millimeter Hub das Arbeitsvolumen auf 890 cm³ auf. Das interessanteste Merkmal der Konstruktion betrifft die Anordnung der Gaswechselorgane. Im von Ferrari entwickelten Zylinderkopf sind die Ein- und Auslaßventile nicht paarweise parallel, sondern radialförmig im Brennraum plaziert. Die spezielle Konfiguration erfordert aber einen aufwendigen Ventiltrieb. Die beiden obenliegenden Nockenwellen betätigen die Ventile über konisch geschliffene Nocken und Tassenstößel. Das Radialprinzip und die kurzhubige Auslegung sind gut für große Ventildurchmesser, sowie hohe Spitzendrehzahlen -und somit für hohe Spitzenleistung. Für die soll auch die Einspritzanlage sorgen. Als Leistung gibt Cagiva 126 PS an und hat zumindest in der Serie das angepeilte Ziel, der Beste zu sein, verfehlt, ein Attribut, das der neuen Suzuki GSX-R 750 mit nominell 135 PS gebürt. Überhaupt würden sich Technikfreaks neben dem Kasettengetriebe und dem Radialkopf weitere technische Highlights wie zahnradgetriebene Nockenwellen oder eine Trockenkupplung wünschen, die den Anspruch vom exklusiven Superbike noch deutlicher unterstreichen. Trotzdem dürfen die Superbike-Fans im allgemeinen und MV-Fans im besonderen hoffen, daß der Motor der F4 das Potential hat, an die grandiosen Erfolge von deren Vorgängern anzuknüpfen.

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