Test Aprilia RSV mille SP
Der große Preis

Exklusivität erreicht man durch geringe Stückzahlen oder einen extrem hohen Preis. Die Aprilia RSV mille SP bietet beides.

Stellen Sie sich vor, Sie geben knapp 60000 Mark für ein Motorrad aus – und keiner merkt’s. Niemand, der neugierige Fragen stellt, bewundernde Blicke auf Ihren Liebling wirft oder sich einfach nur neidisch abwendet. Dumm gelaufen – oder gut, ganz wie man’s nimmt. Denn auffallen um jeden Preis ist eine Sache, etwas Besonderes besitzen eine andere.
Zum Beispiel eine von weltweit 150 Aprilia RSV mille SP. Hinter ihrem eher unscheinbaren Äußeren verbirgt sich feinstes Erbgut aus dem Werks-Superbike. Verstellbarer Lenkkopfwinkel, Öhlins-Fahrwerk, variabler Schwingendrehpunkt oder Verkleidungsteile aus Kohlefaser, die Aprilia lässt kaum Wünsche offen. Auch im Inneren ihres supersportlichen Zweizylinder-Herzens wurden alle Voraussetzungen geschaffen, die Italienerin mit vergleichsweise geringem Aufwand zum konkurrenzfähigen Superbike aufrüsten zu können. Weniger Hub, leichtere Kolben, neue Zylinderköpfe mit engeren Ventilwinkeln und größere Ansaugquerschnitte sollen in Verbindung mit einem speziellen Eprom und der für diesen Rennstreckentest angebauten Doppelrohr-Auspuffanlage immerhin für 146 PS gut sein. Kurzum, die Mille SP ist ein Sportler bis in die Haarspitzen und hat mit der preisgünstigeren Basis-mille kaum noch etwas gemein.
Die Testmaschine kann die hochgestreckten Erwartungen allerdings nicht ganz erfüllen. Mit gemessenen 136 PS und einer recht unharmonischen Leistungskurve bleibt die SP zumindest auf dem Papier einiges schuldig. Dennoch versteht es die Italienerin, sich auf heimischem Boden in Imola ordentlich in Szene zu setzen. Gasaufziehen im zweiten Gang ist nämlich im wahrsten Sinne ein erhebendes Erlebnis. Nach einem kurzen Leistungseinbruch bei 7000/min (die Aprilia-Ingenieure arbeiten in Italien bereits seit drei Monaten an einer optimalen Motorabstimmung) schiebt die SP so vehement voran, dass es unweigerlich das Vorderrad vom Boden löst. Der Zauber findet jedoch schon 2000/min später ein jähes Ende, dem Vau fehlt es oben herum etwas an Drehfreudigkeit und Biss. Mit Vibrationen geizt der Racing-Vau dagegen nicht. Ganz anders als die Maschinen bei der Welt-Präsentation der SP Ende Juli in Mugello wirkt das Testmotorrad rau und unkultiviert.
Schwächen zeigt es auch im unteren Drehzahlbereich. Nicht was die Leistungsentfaltung des Zweizylinders betrifft, die ist auf der Höhe der Zeit. Es stört das abrupte Ansprechverhalten beim feinen Gasanlegen im Kurvenscheitelpunkt. Fast unmöglich, den Übergang von Schiebebetrieb in Teillast weich und ohne einen störenden Ruck zu überbrücken.
Dafür entschädigt das Fahrwerk durch erstaunliches Handling. Vor allem in den engeren Kurven und Schikanen der anspruchsvollen Strecke von Imola brilliert die SP, wenn es darum geht, trotz hohem Kurvenspeed eine enge Linie zu wählen. Hart auf der Bremse einlenken, enorme Schräglage fahren und früh wieder den Hahn spannen, die SP spielt perfekt mit. Gut, dass diese hervorragenden Handling-Eigenschaften nicht zu Lasten der Stabilität gehen. Zwar nicht ganz mit der Souveränität einer Ducati, aber dennoch beruhigend stabil beschleunigt die Aprilia durch den schnellen Linksbogen auf die verzwickte »aqua minerale«-Schikane den Berg hinunter. Brutal zusammenstauchen, bis in volle Schräglage bremsen und mit Schwung den Berg wieder hinauf. Selbst beim Sprung über die Randsteine der folgenden Schikane ist die SP kaum aus der Ruhe zu bringen, die direkte Rückmeldung des Fahrwerks ist jederzeit glasklar.
Nicht ganz so klar in Sachen Rückmeldung, aber für eine Brembo-Anlage mit ordentlichem Biss und guter Dosierbarkeit gehen die beiden Vierkolbenzangen mit den 320er-Scheiben ins Gericht. Als zweischneidige Geschichte entpuppt sich die Reifenwahl. 120/65 vorn heißt die neue Formel beim Pirelli Dragon Evo. Zwar wirkt der Mix aus 60er- und 70er-Querschnitt recht stabil in den kniffeligen bremszonen dieses GP-Kurses, aber ein spürbarer Verlust an Komfort lässt das nötige Vertrauen in voller Schräglage vermissen. Geänderte Fadenwinkel im Karkassaufbau sollen laut Pirelli-Entwicklungschef Salvo Penisi in Zukunft für eine bessere Rückmeldung in Kurven sorgen.
Fürs Wohlbefinden sorgt heute schon die Mille-typische, entspannte Sitzposition und der prima Windschutz der hohen Verkleidungsscheibe. Cockpit und Schaltereinheiten stammen ebenfalls von der billigeren Basisversion. Der Sound ist dagegen alles andere als alltäglich. Den beiden für sportlichen Einsatz auf der Rennstrecke gedachten Endschalldämpfern aus Titan entweicht bei zunehmender Drehzahl ein dumpfes Grollen, dass sich dem Italo-Fan vor lauter Ehrfurcht unweigerlich die Nackenhaare aufstellen. Und das ist auch das Mindeste, was ein Motorrad für diesen Preis auch schaffen sollte: Gefühle wecken – egal wie.

Unsere Highlights

Fazit -

Die beeindruckende Vorstellung bei der ersten Fahrpräsentation im Juli kann das Testmotorrad nicht ganz wiederholen. In der Summe aller Eigenschaften durchaus überdurchschnittlich begabt, lassen die aufgetretenen Vibrationen und die nicht sonderlich harmonische Leistungskurve auf Schwierigkeiten bei der Abstimmung des empfindlichen Leistungs-Sportlers schließen. Ist dieses Problem einmal gelöst, gibt’s für knapp 60000 Mark zwar wenig Show, aber feine Technik.

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023